Dir fehlt die Bühne, auf der du stehen musst? Die neue Plattform für Kurzstücke «Inkubator» des Fabriktheaters der Roten Fabrik gibt dir zwölf Minuten Zeit, dein Talent vor Publikum vorzuführen. Michael Rüegg, Mitglied der Theaterleitung und Mitinitiant des Projekts erklärt im Interview, was die Schwierigkeiten für unbekannte Kunstschaffende sind und wie das Format dem Abhilfe schafft.
Sandra Schudel: Michael Rüegg, woher kommt die Idee für die Ausschreibung «Inkubator»?
Michael Rüegg: Das Format einer Plattform für Kurzstücke ist nicht neu. Das Tanzhaus Zürich initiierte früher das erfolgreiche Projekt 12 Min.Max, das sich an Tänzerinnen und Tänzer, Performerinnen und Performer richtete. Wir haben die Zielgruppe nun ausgeweitet: Ob Oper, Tanz, Performance oder Sprechtheater – alle, die auf einer Bühne auftreten wollen, sind angesprochen.
Braucht es denn eine solche Plattform in Zürich?
Ja, unbedingt! Momentan gibt es nichts Vergleichbares. Wir wollen den Inkubator nun jährlich durchführen. Für noch unbekannte Kunstschaffende ist es extrem schwierig bei Förderstellen angenommen zu werden. Die wollen zuerst etwas von der Arbeit sehen, das ist eine Hürde. Der Inkubator ist die Gelegenheit, eine Idee auszuprobieren, umzusetzen, vor Publikum vorzuführen und Reaktionen einzufangen. Hier kann eine erste eigene Handschrift hinterlassen werden, ohne sich gleich festlegen zu müssen.
In der Medizin steht der Begriff «Inkubator» für Brutkasten. Seht ihr euch als Brutkasten der Szene?
Die ureigene Kapazität der Roten Fabrik ist es, dass Ideen ausgebrütet werden können. Sie ist ein Breedingplace, die es sich aufgrund ihrer Beschaffenheit leisten kann, diese Funktion zu erfüllen. Das Fabriktheater muss sich nicht davor scheuen ein gewisses Risiko einzugehen. Hier darf eine Umsetzung auch mal nach hinten losgehen, wir können das gut absorbieren.
Warum ist das im Fabriktheater möglich?
Dank unserer Geschichte und unserer Situation. Wir müssen nicht darauf achten, niemanden vor den Kopf zu stossen. Wer bereits früh aufpassen muss, dass alles gut kommt, der ist zurückhaltend mit riskanten Aktionen. Langfristig gesehen ist das kontraproduktiv. In Zürich muss es auch einen Ort geben, wo Dinge ausprobiert werden können, die noch nicht zu 100 Prozent funktionieren. Das sind extrem wichtige Momente im Schaffen von Kunst. Im Rahmen des Inkubators ist alles erlaubt. Die Bewerbenden sollen viel Mut an den Tag legen.
Was müssen Bewerber mitbringen?
Wir erwarten einen konkreten Vorschlag. Du musst schon wissen, was du machen willst und davon überzeugt sein. Die Teilnehmer sollen sich während den Proben und der Planung der Abendgestaltung darauf konzentrieren, ihre Ideen umzusetzen. Ihre Produktion sollten sie dabei schlank halten. Es werden sechs Low-Tech-Darbietungen entstehen. Nach ihrer Aufführung haben die Teilnehmer zirka zwei Minuten, um die Bühne zu räumen. Es bleibt also kaum Zeit, ein Bühnenbild wegzuschleppen, einen Teppich und auch noch Vorhänge zu wechseln.
Wie ist die Jury zusammengestellt und worauf wird sie bei der Auswahl achten?
Sicherlich wird jemand aus der Theaterleitung des Fabriktheaters dabei sein, sowie externe Fachleute. Wir werden darauf achten, dass es Bewerber sind, die in der Stadt Zürich Spuren hinterlassen wollen. Bei wem sehen wir das meiste Potenzial? Denen wollen wir eine Chance geben.
Ist es für die Jury wichtig, dass die Darbietungen möglichst unterschiedlicher Form sind?
Nein, vor allem werden wir versuchen zu spüren, wie dringend jemand seine Idee umsetzen will und wie vielversprechend und leidenschaftlich die Bewerbenden unterwegs sind. Würden wir auf eine durchmischte Darbietungsform beharren, würden wir das Format einschränken, das wollen wir nicht.
Was geschieht während dem Vorstellungsgespräch?
Im Gespräch können wir unter anderem gemeinsam herausfinden, ob wir die passenden Partner für das Projekt sind. Es kann sein, dass Erwartungen oder Bedürfnisse existieren, die wir nicht erfüllen können.
Wie wird die Aufführung organisiert?
Sechs Gruppen oder Einzelkünstler werden gemeinsam den Abend gestalten. Dieser wird zweimal vorgeführt. Die Teilnehmer sollen den genauen Ablauf miteinander planen. Das gilt auch für die Aufteilung der Probezeiten und den Auf- und Abbau zwischen zwei Aufführungen. Sie sollen die Vorbereitungszeit miteinander erleben, können Kontakte knüpfen und voneinander profitieren. Diese Berührungspunkte sind wertvolle Erfahrungswerte.
Es erwartet die Teilnehmenden also kein Workshop?
Nein, Inkubator ist ein Sprungbrett, ein Schaufenster, wo du dich präsentieren kannst. Das Fabriktheater stellt aber Externe bereit, die die Gruppen unterstützen.
Was erhofft ihr euch vom neuen Format für die Theaterszene?
Wir hoffen, dass das Showing zu einem Must-to-be-Event wird für Fachleute, Theaterleitungen und Kommissionen. Und natürlich für das Publikum, weil sie etwas zu sehen bekommen, das sie so vielleicht noch nie erlebt haben. Wir werden auch die Verantwortlichen von den Förderkommissionen Tanz und Theater von der Stadt Zürich einladen, sowie Leitungen anderer städtischen Theater. Für diese ist es interessant, denn womöglich wird irgendwann ein Dossier von einem der Teilnehmenden auf ihren Tischen landen und dann haben sie bereits eine Vorstellung von deren Arbeit.
Wie beschreiben Sie das Fabriktheater, das sie zusammen mit Silvie von Kaenel und Michel Schröder leiten?
Silvie von Kaenel hat in der Berner Reitschule sowie dem Theater Biel Solothurn gearbeitet. Michel Schröder und ich kommen beide aus der sogenannten Freien Szene, der Off-Szene. Ich aus dem Tanz, er aus dem Theater. Schon früher haben wir gemeinsam an Projekten gearbeitet und uns beide immer wieder am diffusen Verhältnis zwischen den Theatern und den Künstlern Künstlern gestört. Die Motivationen der Häuser sind nicht unbedingt deckungsgleich mit denen der Theaterschaffenden. Da wir nun beide Seiten und ihre Themen kennen, versuchen wir im Fabriktheater als Kuratoren näher mit den Künstlern zusammen zu spannen, ihre Motivationen und Vorstellungen stärker in die gemeinsame Arbeit miteinzubeziehen.
Woher kommt es, dass die Vorstellungen so unterschiedlich sind?
Ein Theaterleiter, der weiss, dass er nach vier Jahren wieder gehen muss, richtet seine Programauswahl selbstverständlich darauf aus. Sie ist seine Visitenkarte. Die Programmation von deinem Theater hat sehr viel mit dir als Leitperson zu tun. Als solche hast du dich einer gewissen Peergroup zu beweisen. Wir führen eine andere Art der Programmation: Wir wollen uns nicht in den Vordergrund stellen, sondern einen Service bieten, die unseren Programminhalt näher nach den Bedürfnissen des Publikums, der Künstler und der Community richtet.
Ist Theater deiner Meinung nach echt?
Definitiv! Das Theater auf der Bühne ist das Realste, was heute passiert. Während einer Vorstellung sind Menschen auf der Bühne aus Fleisch und Blut. Schaustellende sind am Theaterabend genau an diesem Ort mit dir zusammen. Selbst wenn ein alter Schinken gespielt wird, musst du das, was du spielst, sagen und meinen. Jemand sitzt dir gegenüber, vielleicht im Dunkeln und etwas passiert. Vielleicht bist du enttäuscht von der Vorstellung, es rührt dich oder macht dich aggressiv, du willst den Raum verlassen – all diese Emotionen sind echt.
Was wünschst du dir für die Theaterszene?
Ich denke und hoffe auch, dass wieder vermehrt ein Bedürfnis nach eben diesem Erlebnis aufkommt. Wie bei einem Livekonzert – warum gehen wir dort hin? Weil die Energien anders sind, als wenn wir eine CD hören. Ich glaube, dass irgendwo tief drinnen eine Sehnsucht existiert für diese echten Momente.
Interview von Sandra Schudel
Für den «Inkubator» kann man sich noch bis zum 20. November beim Fabriktheater per Email (fabriktheater@rotefabrik.ch) bewerben. Die gewählten Inkubator-Kurzstücke werden am 22. und 23. Januar im Fabriktheater aufgeführt.