Der Dichter Daniil Charms war ein mutiger Mensch. Er war auch ein lustiger Mensch. Als Dichter schrieb er auch gern.

Der Dichter Daniil Charms getraute sich was.

Es könnte sein, dass Charms‘ Mut grösser war als sein Talent. Das ist keine schlechte Eigenschaft, vorallem nicht in seinem Fall, denn Charms war ein grosser Dichter. Er schrieb neu und ganz anders.

Dann sagten die Leute und ihr System, «hör auf».

Der Dichter Daniil Charms getraute sich und schrieb weiter.

Das System der Leute nahm ihn vom Blatt weg und sperrte ihn ein und haute ihm heftig auf den Kopf.

Der Dichter Daniil Charms schrieb weiter. Er schrieb absurd.

«Absurd», sagten die Leute und sperrten ihn wieder ein und hauten ihm auf den Kopf und dann gab es nichts mehr zu essen.

Dann war der Dichter Daniil Charms tot.

Die Leute hauten weiter anderen Leuten und Dichtern auf den Kopf und gaben nichts mehr zu essen und sie hatten auch weiterhin gar keine Lust Daniil Charms‘ Texte zu lesen.

 

Absurde Literatur ist kein Spass. Als Dichter von solcher, ist es gut, gute Freunde zu haben. Zu Lebzeiten hören sie einem zu und helfen in der Not, und wenn man tot ist, heben sie für einen die Texte auf. Jahrzehnte später, in Zeiten, in denen weniger heftig auf Köpfe gehauen wird, werden sie dann vielleicht veröffentlicht.

 

Siebzig Jahre nach Daniil Carms‘ Tod las eine junge Schriftstellerin seine Texte. Die hauten sie um. Tschack, nach hinten, und voll auf den Rücken. Es hatte sie in der Küche auf die Kacheln gelitzt. Der Boden war kalt, aber sie blieb liegen und war glücklich. Sie wusste, dass sie das seltene Glitzern wirklicher Liebe zur Literatur und wirklichen Mutes erblickt hatte.

Wer Literatur liebt, liebt Daniil Charms. Und gemessen an den Qualen, die Charms erleiden musste, ist ein kalter Küchenboden am Rücken wirklich gar nichts.

 

Dann etwas über Gurken: Im Keller moderte das Holz.

Im Dunkeln funkelten die Gurken grün durch die Gläser. Ihr Grün war überirdisch, leuchtete ihm seinen Weg und liess ihn gleichzeitig in Ehrfurcht vor so viel Schönheit erstarren.

Ihm war ganz schummrig, der Moment erschien ihm sehr intim.

Oben hörte er seine Frau staubsaugen. Sie röhrte über ihm und ihm schien, als würde ein eigentümliches, tiefes Brummen von den Gurken kommen. Sie bewegten sich aber nicht.

Die Gurken schwammen in ihren Gläsern auf den modernden Holzregalen im Keller und schienen ihn an.

Er spürte eine Kraft.

Diese Kraft, er spürte sie so intensiv, dass er nicht bemerkte, dass seine Frau hinter ihm stand. Als sie sich räusperte, erschrak er.

«Hier unten sollte auch mal wieder gut durchgeputzt werden», sagte sie.

Er antwortete nicht. Seine Frau war unsensibel.

«Holst du dir Gurken?»

«Ja.»

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte seine Frau «Also dann, ich habe zu tun.»

Ihm war, als hätte er einen leichten Vorwurf in ihrem Tonfall gehört.

Das störte ihn nicht. Was ihn störte, war seine Frau, dass sie das Licht anschaltete, als sie hinausging.

Kaum war sie weg, wurde die Kraft wieder stärker. Er begriff, dass die Kraft ihm galt, ihm allein. Jemand oder etwas wollte Kontakt mit ihm aufnehmen, und er war der Auserwählte dazu.

Ihm wurde klar, dass es kein Zufall war, dass er sich gerade jetzt in diesem Keller befand.

Er löschte das Licht. Als er sich umdrehte, leuchteten die Gurken wieder in diesem übersinnlichen Grün.

Er hörte ein Pochen.

Regelmässig. Poch, poch.

Es kam von der Decke, direkt über den Gurken. Dreck und Schutt rieselte herunter, direkt auf die Gurkengläser, die Regale begannen zu wackeln.

Gleich würden die Regale umfallen, mit ihnen die Gurkengläser, sie würden auf dem Boden zerschellen, die einzelnen Essiggurken würden hilflos über den kalten Boden kullern.

Die Kraft, sie wurde immer stärker. Sie drückte wie verrückt auf seinen Hinterkopf. Er hob seine Hände um die Stelle zu berühren, seine Hände darauf zu pressen.

Im Wohnzimmer oben schiebt seine Frau das schwere Sofa über den Boden.

Sie hört ein seltsames Jaulen aus dem Keller, dann ein mächtiges Rumpeln. Sie hält inne, schüttelt traurig und besorgt den Kopf.

Sie geht die dunkle Treppe zum Keller hinab.

Sie betätigt den Lichtschalter.

Es blendet, sie kneift die Augen zusammen. Als sie sie wieder öffnet, liegt vor ihr im gelben Licht auf dem Boden ihr Mann. Die Regale mit den Gurkengläsern sind umgefallen. Die Gurken liegen einzeln über den Boden und um ihren Mann verstreut.

Die Augen ihres Mannes sind weit aufgerissen, seine Arme unnatürlich nach hinten verrenkt. Als sie näher tritt, sieht sie an seinem Hinterkopf eine ungewöhnlich grosse, pochende Essiggurke. Seine Frau hält sich die Hand vor den Mund und denkt, er ist wohl an einem Herzinfarkt gestorben.

 

Und jetzt noch ein Aufruf: ACHTUNG ACHTUNG WICHTIGER AUFRUF!

LESERREPORTERIN Gertrud M. (76) hat jüngst den Weltuntergang gesehen. «Ich war gerade am Wäsche aufhängen, als ich draussen einen lauten Knall hörte», erzählt die Rentnerin. «Ich wollte ein Foto machen, leider nahm ich in der Eile das Festnetztelefon zur Hand.» Es seien ihr mehrere Nastücher vom STEWI gefallen.

Gertrud M. lebt mittlerweile in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung. Über Post freut sie sich sehr.

Schreiben Sie einen Brief an Gertrud M. Und sie wird Ihnen antworten.

Kontakt zu Gertrud: antonmeier@bluemail.ch mit dem Vermerk «Weltuntergang STEWI» oder Gertrud M., c/o Büro für Problem, Solothurnerstrasse 4, 4053 Basel, Schweiz

 

Es wird wiederholt: Wer Literatur liebt, liebt Daniil Charms.

Und jetzt alle im Chor: «Daniil Charms war ein grosser Dichter.»

 

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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