Am 20. Oktober 2019 wird aller Voraussicht nach etwa die Hälfte der Wahlberechtigten in der Schweiz nicht zur Urne gehen. Weshalb nehmen so viele ein Recht, welches in vielen Ländern in langen und blutigen Auseinandersetzungen erkämpft wurde, nicht (mehr) wahr? Und weshalb ist die Wahlbeteiligung ausgerechnet in jenem Land, das Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eines der einzigen demokratisch verfassten Länder Europas war, derart tief?
Zunächst ist der Vorwurf der chronisch tiefen Wahlbeteiligung in der Schweiz zu relativieren. Denn hierzulande wird bekanntermassen nicht bloss alle vier Jahre ein Parlament gewählt, sondern mehrmals im Jahr direkt über Sachgeschäfte entschieden – und dies auf allen drei staatlichen Ebenen: national, kantonal und lokal. Auswertungen der offiziellen Stimmregisterdaten aus dem Kanton Genf und der Stadt St. Gallen haben diesbezüglich gezeigt, dass sich rund 75-80 Prozent aller Stimm- und Wahlberechtigten mindestens einmal innerhalb einer Zeitspanne von vier Jahren an Abstimmungen oder Wahlen beteiligen. Dieser kumulierte Beteiligungswert von rund 80 Prozent liegt nahe bei und oftmals gar über der durchschnittlichen Wahlbeteiligungsrate in anderen europäischen Staaten. Die Schweizerinnen und Schweizer sind demnach nicht jene «Politikmuffel», als welche sie ab und an dargestellt werden. Sie beteiligen sich deshalb nicht derart fleissig an Wahlen wie anderswo, weil die zusätzlichen direktdemokratischen Mitspracherechte, die es anderswo selten gibt, die Wahlen zumindest teilweise «entwerten».
Trotzdem lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die Beteiligung an Wahlen in der Schweiz tief ist. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung in der jüngeren Vergangenheit von rund 50 Prozent gilt zudem bloss für nationale Wahlen. In Kantonen und Gemeinden liegt dieser Wert oftmals deutlich darunter. An den letzten kantonalzürcherischen Wahlen (2019) partizipierte zum Beispiel gerade mal ein Drittel der Wahlberechtigten. Was sind die Gründe für dieses massenhafte Fernbleiben von der Wahlurne? Generell gilt, was Sidney Verba, Kay Schlozman und Henry Brady für die US-amerikanische Nichtwählerschaft als Ursachen der Wahlabstinenz festhielten. Bürger und Bürgerinnen wählen aus folgenden Gründen nicht: «because they can’t, because they don’t want to; or because nobody asked them to.» Mit anderen Worten: Entweder fehlt die Kompetenz, die Motivation oder die Mobilisierung. Befragungen von Schweizer Nichtwählerinnen und Nichtwählern haben gezeigt, dass es sich hierzulande nicht anders verhält. Die relative Mehrheit unter den Nichtwählerinnen und Nichtwählern machen dabei jene aus, denen es an der Motivation mangelt, teilzunehmen. Diese Bürgerinnen und Bürger sind an Politik zwar durchaus interessiert und beteiligen sich ab und zu auch an Abstimmungen, also dann, wenn sie ein «punktuelles Eingreifen» für nötig erachten. Aber im Grossen und Ganzen sind sie zufrieden mit der Demokratie und dem Lebensstandard in der Schweiz und sehen deshalb keinen Grund, (selbst) an Wahlen teilzunehmen. Implizit wohnt dieser Haltung wahrscheinlich in den meisten Fällen die Ansicht inne, dass das Wählen ohnehin keine – bzw. keine negative – Auswirkung auf ihr tägliches Leben hat.
Von dieser Gruppe ist jene der «Politikverdrossenen» zu unterscheiden, die zwar ebenfalls keinen Anreiz sieht, an Wahlen teilzunehmen, aber nicht etwa, weil sie prinzipiell zufrieden ist mit der Politik, sondern – umgekehrt – weil sie mit der Funktionsweise der Schweizer Demokratie höchst unzufrieden ist. Ihr Anteil beträgt gemäss einer Studie von Markus Freitag und Matthias Fatke rund 16 Prozent aller Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Sie haben sich vielfach von der Politik abgewendet mit den Worten «die da in Bern machen sowieso, was sie wollen.» Ihr Glaube daran, durch Wahlentscheide etwas am «System» ändern zu können, ist gering, weshalb sie keinen Sinn darin sehen, sich an Wahlen zu beteiligen. Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren, allerdings kleinen Teil der Nichtwählerschaft: Sie bleiben der Urne fern, weil sie der Ansicht sind, ihre einzelne Stimme ändere ohnehin nichts am Resultat. Ihr Fernbleiben hat demnach nichts mit einer grundlegenden Kritik am politischen System zu tun, sondern mit streng rationalen Erwägungen. Und tatsächlich haben diese Nichtwählerinnen und Nichtwähler keineswegs Unrecht: Es kommt so gut wie nie vor, dass eine Wahl wegen einer einzelnen Stimme entschieden wird. Aus der Sichtweise dieser Wahlberechtigten ist nicht etwa das Fernbleiben von der Urne erklärungsbedürftig, sondern vielmehr die Wahl selbst: Warum sollte ein streng rational denkender Mensch sich überhaupt an Wahlen beteiligen? Denn die Kosten einer Teilnahme übersteigen den ökonomischen Nutzen mit allergrösster Wahrscheinlichkeit. In der Tat hat die ökonomische Theorie der Politik diese Frage bis zum heutigen Tage nicht zufriedenstellend beantworten können. Erstaunlich ist indessen, dass ausgerechnet dieser streng rationale Abstinenzgrund selten genannt wird.
Sodann ist ein Teil der Nichtwähler*innenschaft von den Wahlmodalitäten und dem Entscheidungsstoff schlicht überfordert: Diese Leute wissen entweder nicht, wie man einen Wahlzettel korrekt ausfüllt – in der Tat ist das Wählen in der Schweiz nicht selbsterklärend – oder es fällt ihnen schwer, ihre sachpolitischen Präferenzen in einen entsprechenden Wahlentscheid zu formen: Welche Partei oder welche Kandidaturen stehen für welche Politik? Für politisch hoch interessierte Menschen erscheint diese Frage trivial. Denn sie finden sich bei Wahlen und Abstimmungen problemlos zurecht, weil sie sich – aus welchen Gründen auch immer – stark mit Politik beschäftigen. Aber für Menschen, denen ein solches Interesse an Politik nicht «in die Wiege gelegt wurde» (die politische Involvierung des Elternhauses ist in der Tat einer der wichtigsten Bestimmungsgründe für die Wahlteilnahme), fällt die Wahl zwischen all den verschiedenen Parteien und Kandidaten nicht leicht. Eingebürgerte gehören im Übrigen oft zu dieser Gruppe, denn ihnen wurde das Wählen und Abstimmen im Elternhaus oftmals nicht vermittelt und vorgelebt. Und tatsächlich – so zeigen etwa die Registerdaten der Stadt St. Gallen – beteiligen sich Eingebürgerte seltener als gebürtige Schweizerinnen und Schweizer.
Einer weiteren Gruppe fehlt der Anstoss von aussen (Mobilisierung), um sich zu beteiligen. Einige dieser Nichtwählerinnen und Nichtwähler sind sozial isoliert. Dazu gehören häufig ältere Frauen (es gibt deutlich mehr Witwen als Witwer), bei denen die Wahrscheinlichkeit, von einer politischen Mobilisierungswelle erfasst zu werden, wegen ihrer sozialen Isoliertheit von vornherein gering ist. Andere sind zwar in einem sozialen Umfeld eingebettet, aber in diesem Umfeld findet sich kaum jemand, mit dem sich über Politik reden lässt oder der zur politischen Teilnahme begeistern könnte. Diese Wahlberechtigten nehmen letztlich nicht teil, weil sie niemand dazu auffordert.
Alles in allem sieht die Lage aber nicht derart düster aus, wie sie manchmal dargestellt wird: Denn zum einem beteiligen sich die Schweizerinnen und Schweizer durchaus am politischen Entscheidungsprozess. Das muss in der Schweiz nicht notwendigerweise über Wahlen erfolgen; man kann seine politischen Präferenzen auch in Sachabstimmungen zum Ausdruck bringen. Zum anderen ist die Wahlabstinenz oftmals Ausdruck einer prinzipiellen Zufriedenheit mit dem politischen System und dem Leben in der Schweiz im Generellen. Viele dieser Wahlberechtigten entsprechen dem, was in der amerikanischen Wahlforschung als «monitorial citizen» bezeichnet wird: Generell lässt man die Politikerinnen und Politiker gewähren, hält sich bei Wahlen vornehm zurück, greift aber dann ein – beispielsweise, indem man sich in Abstimmungen zu kontroversen Sachfragen äussert – , wenn man der Ansicht ist, nun sei ein Richtungswechsel nötig. Dieser Typus von Bürgerin oder Bürger entspricht zwar nicht dem demokratietheoretischen Ideal des politisch hochinteressierten «citoyen», aber er entspricht einem realistischen Bild einer Staatsbürgerin oder eines Staatsbürgers, zu deren bzw. dessen politischen Rechten auch jenes der Nichtteilnahme an Wahlen gehört.