Mitte der 1970-Jahre gehen Frauen in Paris, Berlin und Zürich auf die Strassen und machen Gewalt gegen Frauen erstmals zu einem öffentlichen Thema. 1979 eröffnen autonome Feministinnen das erste Frauenhaus
in Zürich (heute Frauenhaus Zürich Violetta). Zum 40-jährigen Jubiläum erschien das Buch «Wann, wenn nicht jetzt. Das Frauenhaus in Zürich».

Die 1970er-Jahre waren elektrisierende Zeiten für Frauen in Europa – in Paris und Berlin genauso wie in Zürich. In vielen Städten bildeten sich autonome Frauengruppen. Frauen erkannten, dass sie vermeintlich individuelle Alltagserfahrungen teilten, dass ihre Erfahrungen also gesellschaftliche Wurzeln haben mussten. «Das Private ist politisch» war eine zentrale Erkenntnis in der Bewegung. Es ging um den eigenen Körper, um Schwangerschaftsabbruch, Pornografie, Sexualität. Lesben organisierten sich. Die Feministinnen kritisierten nicht nur die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft, sondern auch den Machismo der linken Genossen, die die Unterdrückung der Frauen nur als Nebenwiderspruch sahen. Gleichzeitig grenzten sie sich von der Generation der Mütter ab, die das Frauenstimmrecht mit – aus Sicht der Töchter – braven Methoden wie Petitionen erkämpft hatte. […]
Das Bewusstsein, Teil einer internationalen Bewegung zu sein, befeuerte die Feministinnen. Im März 1976 reiste eine Delegation aus Zürich nach Brüssel ans Internationale Frauentribunal, an dem über 2000 Frauen aus 40 Ländern teilnahmen. Inspiriert von Kriegsverbrechertribunalen sammelten sie Zeugnisse aller Formen von Gewalt, die sie im Alltag erlebten: von Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe über Pornografie und Sexismus in der Werbung bis hin zu Diskriminierung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz. Mit dabei war auch Jeanne DuBois, eine 25-jährige Juristin aus Zürich.

Jeanne DuBois: Im Vorfeld des Tribunals sammelten wir an einer Kunstauktion im Volkshaus Geld für die Anreise mittelloser Frauen. Die Tagung war riesig, es gab unzählige Arbeitsgruppen, die Frauen halfen einander mit Ad-hoc-Übersetzungen. Die Stimmung war toll. Besonders beeindruckt hat mich ein Bericht der Gründerinnen des ersten Frauenhauses in London.

In London gab es seit 1972 das erste Frauenhaus in Europa, 1976 eröffneten Feministinnen in Berlin und Köln die ersten Frauenhäuser – Zufluchtsorte für Frauen, die in ihrer Ehe Gewalt erfuhren. Deren Erfahrungsberichte in Buchform lagen im Zürcher Frauenbuchladen auf, wo Annemarie Leiser, ebenfalls FBB-Mitglied und Sozialpädagogin in einem freien Kindergarten, darauf stiess. Die Lektüre erschütterte sie, und sie begann mit Freundinnen über das Thema Gewalt gegen Frauen zu sprechen. An einem Abendessen im Frauenzentrum im November 1976 fragte Leiser in die Runde, wer sich mit dem Thema näher auseinandersetzen wolle, und stiess auf offene Ohren bei den Frauen am Tisch – unter ihnen die angehende Sozialarbeiterin Lisbeth Sippel und die Juristin Jeanne DuBois, die das Thema seit ihrer Reise nach Brüssel nicht mehr losliess.

Annemarie Leiser: Am grossen Brett im Frauenzentrum, wo schon hundert andere Zettel hingen, machten wir dann einen Anschlag mit der Info, dass wir eine Arbeitsgruppe zum Thema Gewalt an Frauen gründen wollen. Beim ersten Treffen kamen auf Anhieb gegen zwanzig Frauen. […]

Das Engagement für das Thema Gewalt gegen Frauen gab der Bewegung frischen Schwung. Es war neu, es betraf ein gesellschaftliches Tabu, und es bot die Möglichkeit, fundamentale Gesellschaftskritik – an der Institution Ehe, an den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen – mit einem ganz konkreten Projekt – der Gründung eines Frauenhauses – zu verbinden. Geschlagene Frauen, wie sie im Jargon der Zeit genannt wurden, galten als offensichtlichster Beweis der patriarchalen Gewalt, die alle Frauen tagtäglich erlebten. Die Treffen der Arbeitsgruppe verliefen anfangs chaotisch. Es gab weder eine Traktandenliste noch eine Sitzungsleitung oder ein Protokoll. Frau trank viel Wein und rauchte. Die Journalistin Marianne Pletscher, die mit der Frauenbewegung sympathisierte und einen Fernsehfilm zum Thema plante, nahm an einer der ersten Sitzungen teil.

Marianne Pletscher: Damals war das eine ziemliche Sponti-gruppe. Die Sitzungen waren endlos, da wurde nach meinem Gefühl viel im Kreis herumgeredet. Der Ausdruck «professionell» war schon fast ein Schimpfwort. Ich war nicht sicher, ob sie jemals ein Frauenhaus auf die Beine stellen würden. Doch da täuschte ich mich. Ausgerechnet jene Frauen brachten dann das effizienteste Projekt der Frauenbewegung zustande – und dies in kurzer Zeit …

Rassismus – (k)ein Thema unter Feministinnen

Am Wochenende vom 20. bis 22. März 1992 versammelte sich eine riesige bunte Truppe in der Roten Fabrik am Zürichsee. Die Frühlingssonne meinte es gut mit den 250 Frauen, die aus Deutschland, Österreich, Luxemburg, Liechtenstein und der Schweiz angereist waren. Die Initiative für den ersten Frauenhauskongress im deutschsprachigen Raum war von den Zürcherinnen ausgegangen. Fünfzehn Jahre waren vergangen seit der Gründung der ersten Frauenhäuser im deutschsprachigen Raum. Nach wie vor fühlten sich die Mitarbeiterinnen als Teil der Frauen-bewegung, davon zeugte das Wort «autonom», das die meisten Frauenhäuser stolz im Namen trugen. Gleichzeitig waren überall Prozesse der Professionalisierung und Institutionalisierung im Gang. Die Frauenhäuser
leisteten Sozialarbeit, sie waren abhängig von öffentlichen Geldern und eingebunden in eine Landschaft sozialer Institutionen. Die Frauen freuten sich auf den Austausch mit Gleichgesinnten am Kongress und hofften, Antworten auf die drängenden Probleme im Frauenhausalltag zu finden. Die Themen waren überall ähnlich: «Migrantinnen und Frauenflüchtlinge», «Und die Kinder?», «Burnout in der Frauenhausarbeit», «Frauenhausbewohnerinnen zwischen Autonomie und Überbetreuung» und «Feministische Forschung als Strategie zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen». Für die Gruppendiskussionen verteilten sich die Frauen im ganzen Quartier in Räumen von Schulen und Kirchgemeinden. Am Samstagabend feierten sie ein ausgelassenes Fest in der grossen Aktionshalle der Roten Fabrik. Wieder einmal fühlten sie sich als Teil einer grossen Bewegung. […]
Für mehr Irritation sorgte ein Vorfall am Ende des Kongresses. Beim Schlussplenum erhob sich eine Migrantin. Benam Ates, Mitarbeiterin im Frauenhaus Zürich, aufgewachsen in der Türkei, machte ihrer Wut Luft. Sie kritisierte, dass Rassismus am Kongress nur in Bezug auf die Bewohnerinnen thematisiert worden war, in der Arbeitsgruppe «Zusammenleben (…) zwischen Multi-Kulti und Rassismus». Stattdessen hatten sie und andere Migrantinnen verlangt, die Frauenhäuser sollten endlich über den Rassismus in den Teams sprechen, und zwar in getrennten Gruppen, Migrantinnen und Nichtmigrantinnen unter sich – analog wie es die Feministinnen als Frauen den Männern gegenüber eingefordert hatten. Doch die Organisatorinnen, eine Gruppe ohne Beteiligung von Migrantinnen, hatten diesen Wunsch abgelehnt – aus Angst, dass dadurch die Idee der Gleichheit aller Frauen infrage gestellt sei. Nun, am Schlussplenum, wiederholte Benam Ates den Anspruch, die weissen bzw. westeuropäischen Teamfrauen sollten den eigenen Rassismus reflektieren. Das nämlich sei die Grundvoraussetzung für die weitere Zusammenarbeit.

Vorliegender Text sind Auszüge aus «Wann, wenn nicht jetzt. Das Frauenhaus in Zürich» von Christina Caprez. Herausgegeben von der Stiftung Frauenhaus Zürich. Limmat Verlag, Zürich 2022.

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