Importiertes Wissen von Geflüchteten: Dank des grossen Andrangs im letzten Jahr läuft die Abendschule Import nun als regelmässige Reihe im Fabriktheater an. Pro Abend geben je zwei geflüchtete Dozent*innen Kurse zu Themen aus Politik, Kunst, Wirtschaft, Sprache, Literatur, Musik – bis hin zu Aviatik. Die Fabrikzeitung drückte die Abendschulbank und sprach mit zwei ReferentInnen und den KoordinatorInnen des Projekts.
Safoura Bazrafshan ist eine kurdische Aviatikerin. Sie arbeitete acht Jahre bei der Iran Air in Teheran. Aus politischen Gründen musste sie ins Gefängnis. Im Februar 2011 gelang ihr in einem zehntätigen Marsch durch iranisches Grenzgebirge die Flucht in die Türkei. In der Sonntagszeitung vom 8. Mai 2016 wurde sie unter dem Titel «Selfies von der Flucht» portraitiert. In der Abendschule hält sie einen Vortrag über die technischen Grundlagen der Flugzeugwartung im Iran und international.
Kamran Mohammadi ist kurdischer Musiker aus der Stadt Kermashan (offiziell Kermānschāh). Er singt und spielt Oud und Saz. Im Iran hat er studiert und als Ingenieur gearbeitet. Dort brachte ihn sein politisches Engagement in Gefahr. Seit 2014 lebt er in der Schweiz. Im April 2016 sowie im Oktober 2017 unterrichtete er zur Theorie und Praxis orientalischer Musik an der Abendschule Import.
Marie Drath promoviert an der Universität Zürich in Literaturwissenschaft und engagiert sich in der Autonomen Schule Zürich (ASZ). Raphael Jakob ist Sozialarbeiter und studiert Philosophie an der Universität Fribourg. Zusammen mit dem Theatermacher Andreas Liebmann koordinieren sie das Projekt Abendschule Import.
Auf die Frage, weshalb sie bei der Abendschule Import mitmachen, antworten Safoura und Kamran ähnlich: Um zu zeigen, dass sie Wissen und Können mitbringen, dass sie sich in die Gesellschaft einbringen und gerne etwas machen wollen. Safouras Ziel ist es, in der Schweiz als Aviatikerin zu arbeiten. Dazu muss aber erst ihr Asylgesuch angenommen werden. Und wenn das geschafft ist, muss sie – trotz abgeschlossenem Studium und jahrelanger Berufserfahrung – Weiterbildungen an einer Hochschule besuchen.
Kamran, in seiner Heimat ein bekannter Musiker, möchte in der Schweiz mit seiner Musik Leute erreichen und gegen Missstände ansingen. «Musik ist seine Waffe» zitiert ihn die WoZ in einem Portrait vom 14. April 2016. «Musik ist ein Schlüssel, der mir Türen öffnet», präzisiert Kamran. Als im letzten Herbst die Erde im Iran bebte, tausende Menschen starben und aus politischen Gründen die Hilfe vom Staat ausblieb, hat er in Neuchâtel drei Tage Strassenmusik gemacht für eine Sammelaktion. Die Musik half, das Interesse der Passanten*innen zu wecken. Als Mitglied einer linken Partei, sagt er, wisse er, dass ein kurdischer Politiker in der Schweiz mit einer Rede vielleicht zweihundert Leute erreiche. Als Musiker könne er aber doppelt so viele mobilisieren. Seine Liedtexte können politisches Unrecht ansprechen, von der schwierigen Situation in Asylzentren handeln, gegen Rassismus oder für mehr Toleranz sein. Es gibt immer etwas zu sagen. Im Stil ist seine Musik ein Gemisch aus arabischer, kurdischer und iranischer Musik – aber mit kurdischen Geschmack. Auf die Frage, ob Musik eine Sprache sei, die Grenzen überwinden könne, antwortet er: «Man muss nicht kurdisch lernen, um kurdische Musik zu verstehen. Ein Künstler muss Verantwortung übernehmen. Musiker können Leute führen, auf Unrecht aufmerksam machen. Es ist gut, dass Musik eine internationale Sprache ist, doch es sollte immer ein menschlicher Gedanke, eine Idee dahinter sein.» Kamran ist gegen eine rein kommerzielle Nutzung von Musik: «Egal ob jemand Musik macht oder Autos baut. Wenn dabei nur ans Geld gedacht wird und nicht an die Mitmenschen, so ist das schlecht. Wir leben in einer Gesellschaft und müssen gemeinsam leben. Wir brauchen einander, wir sind nicht voneinander unabhängig.»
Safoura erläutert derweilen die Aviatik – eine hochtechnologische Angelegenheit. Auf die Frage, ob dieser Beruf im Iran sowie in der Schweiz, nicht von Männern dominiert werde, erzählt Safoura, wie sie sich den Respekt ihrer Vorgesetzten erarbeiten musste. Zusammen mit vier weiteren Frauen war sie eine der ersten Aviatikerinnen bei der Iran Air. Als ein Autopilot Control Panel System einer Boing 727 defekt war, tüftelte sie einundzwanzig Tage daran herum: Durch das Handelsembargo fehlten aktuelle Pläne und Ersatzteile. Schliesslich fand sie den Fehler in einem Schema im Handbuch: Eine Diode war verkehrt gezeichnet. Nicht ohne Genugtuung erzählt sie, wie sie ihren Chef dazu aufforderte, der Boing Company die korrigierten Pläne mit schönen Grüssen aus dem Iran zu senden.
Koordinatorin Marie betont, dass es bei der Abendschule nicht nur darum gehe, Wissen zu vermitteln, sondern auch eine Situation zu schaffen, die Perspektiven verschiebt, Blickwinkel verändert. Sie und Raphael sprechen nicht von Flüchtlingen, sondern von Geflüchteten, was im Sinne eines Empowerment auf mehr Aktivität und Selbstbestimmung sowie die Vorstellung von einem möglichen Ende des Flüchtens verweist. Bei ihrer Arbeit werden sie immer wieder mit den Widersprüchlichkeiten solcher Labels und Begriffe konfrontiert. Raphael betont, dass Flüchtling als Rechtsstatus in Berufung auf die Genfer Flüchtlingskonvention Schutz bedeutet. Gleichzeitig werden Flüchtlinge im öffentlichen Diskurs zu einer Gruppe marginalisiert, die ausser einem Dach über dem Kopf und etwas zu Essen keine Bedürfnisse oder Ambitionen hätte. Marie fügt an, wie schwierig es manchmal beim Erstellen des Programms gewesen sei, entscheiden zu müssen, wer als geflüchtet gilt und wer nicht. An der Abendschule unterrichten neben anerkannten Flüchtlingen auch Personen, die noch im Verfahren sind sowie solche, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Am Ende zähle die Entscheidung, ob sich die jeweiligen Personen selbst zum Personenkreis der Geflüchteten zählen möchten.
Kamran erzählt von den ersten zwei Jahren in einer Notunterkunft in Embrach. Er hatte zwar ein Dach über dem Kopf, aber wenig zu essen, kaum Geld, teilte ein kleines Zimmer mit vier Personen. «In einer solchen Situation kann man nicht denken, keine Zukunftspläne schmieden, man bringt nichts auf die Reihe.» Ein Kurde habe ihm ein Musikinstrument gegeben; so fühlte es sich wenigstens ein bisschen an, als würde etwas vorwärts gehen.
Safoura berichtet, wie sie in der Türkei vier Jahre hart arbeiten musste, um für die Aufenthaltsbewilligung und ihr Überleben aufzukommen. Verglichen damit sei sie sehr froh und dankbar, in der Schweiz ein Dach über dem Kopf zu haben. Was ihr zu schaffen macht, sei, nicht arbeiten zu dürfen. Sie will nicht zuhause bleiben und von jemandem Geld nehmen. Sie möchte selbst etwas tun und ihr eigenes Geld verdienen.
Kamran stimmt ihr zu, auch er will arbeiten, sich integrieren. Doch tatsächlich gibt es dafür quasi keine Möglichkeiten. Kamran sagt, er sei dankbar für das, was ihm die Schweiz gibt und gegeben hat, doch niemand sollte ihn zwingen, dankbar zu sein. Das sei eine Katastrophe.
Raphael sieht den Dankbarkeits-Zwang als Druckmittel gegen alle in der Schweizerischen Gesellschaft. Von der Schule zur Berufslehre bis zum Job: Stets werden wir daran erinnert, dankbar sein zu müssen. In der Schweiz als reichstem Land mit bester Stabilität gilt die stillschweigende Behauptung: «Wer hier sein darf, hat bereits im Lotto gewonnen!» Dieser soziale Druck laste auf Geflüchteten besonders stark. Kamran fügt an: «Wenn du etwas für mich tust, so muss ich moralisch dafür dankbar sein. Aber wenn du jeden Tag kommst und mich daran erinnerst, was du für mich getan hast, wird es absurd.»
Wirklich seltsam sei, fügt Safoura an, dass sie trotz all ihres Wissens über Flugzeuge, in fünf Jahren über dreitausend Kilometer zu Fuss hierherkommen musste. «Zum Glück ist dieser Teil jetzt vorbei», lächelt sie. Es sei schlimm, das eigene Wissen nicht anwenden zu können und stattdessen anderen, einfacheren Arbeiten nachgehen zu müssen, nur um zu überleben, oder wie hier in der Schweiz gar nicht arbeiten zu dürfen. Die Frage, ob sie durch ihre Reise stärker geworden sei, bejaht sie. Wie es mit ihr als Aviatikerin weitergeht, hängt von vielen Entscheidungen innerhalb der schweizerischen Behörden ab. Zunächst aber muss sie auf ein C1-Sprachzertifikat in Deutsch hinarbeiten, das die Fachhochschulen fordern. Auch, wenn die hauptsächliche Sprache in ihrem Beruf immer Englisch bleiben wird.
Die nächste Abendschule Import findet am 10., 11. und 12. April im Sitzungszimmer der Roten Fabrik statt.