Letzten Sommer haben Thea Reifler und Phila Bergmann die künstlerische Leitung der Shedhalle übernommen. Zusammen mit ihrem Team schaffen sie dort in den nächsten Jahren einen Raum für prozessbasierte Kunst. Im Interview erzählen sie von ihrem Ankommen in Zürich, ihren Plänen für die Zukunft und von aktuellen Herausforderungen.
Noemi Parisi: Wie geht es euch gerade?
Thea Reifler: Gerade haben wird uns vorgenommen, am Wochenende mal Urlaub zu planen. Wir kommen ja aus der freien Theaterszene und mussten uns nie Gedanken machen, wann wir Ferien machen, weil wir sowieso kein Geld und zwischen Projekten immer mal wieder Pausen hatten. Es ist eine neue Situation für uns, einen Job zu haben, der immer mehr Arbeit produziert, als wir bewältigen können.
Wie habt ihr euch kennengelernt und wie kam es, dass ihr euch auf die künstlerische Leitung der Shedhalle beworben habt?
Thea: Wir haben zusammen in Giessen Angewandte Theaterwissenschaften studiert. Seit 2012 arbeiten wir in verschiedenen Gruppen und Kollektiven in unterschiedlichen Bereichen und immer sehr interdisziplinär. Die Projekte waren meist prozessbasiert aufgebaut, manche dauerten zwei Jahre. Darin haben sich verschiedene Dinge entwickelt, woraus wiederum Neues entstand. Im Bereich der darstellenden Künste war es jeweils schwer, diese Prozesse in eine Stunde Bühnenstück runterzubrechen. Und das Bedürfnis wuchs, Räume für andere zu schaffen. So haben wir angefangen, uns auf künstlerische Leitungen zu bewerben. Im vorletzten Sommer waren wir mit unserer Arbeit «Your Unlikely Friend», einer 1 zu 1 Performance, beim Theaterspektakel eingeladen und in der Werkstatt der Roten Fabrik gezeigt. Da sassen wir zwei Wochen fast ununterbrochen vor der Shedhalle. Irgendwann haben wir gesehen, dass die Stelle ausgeschrieben war…
Zu eurem Team gehören unter anderem Isabelle Vuong, Lucie Tuma und Michelangelo Miccolis, die zusammen das kuratorische Board bilden. Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit und in welchen Formen arbeitet ihr zusammen?
Phila Bergmann: Richtig kennengelernt haben wir uns erst im Bewerbungsprozess. Wir entwickeln alle jeweils eine Protozone im Jahr. Zudem haben wir unsere eigenen Projekte, zum Beispiel kuratiert Michelangelo die Onlinereihe «The Shed». Dazu kommt viel inhaltlicher Austausch miteinander. Wir treffen uns so alle drei Wochen.
Thea: Wir haben das kuratorische Board angefragt, da wir unterschiedliche und gleichzeitig ähnliche Interessen haben. Uns war auch wichtig, dass die Leute im Board eine Verbindung zu Zürich haben, weil wir das gar nicht hatten. Ich komme zwar aus der Schweiz, war aber acht Jahre weg. In Zürich gearbeitet haben wir beide noch nie. Mit Lucie haben wir eine Position, die schon lange in Zürich wohnt und selbst als Künstlerin mit Prozessen arbeitet. Isabelle wohnte auch mal hier und hat dann in Berlin Zukunftswissenschaften studiert. Michelangelo hat davor im Cabaret Voltaire gearbeitet.
Wenn ihr von euch und eurer Arbeit erzählt, fällt immer wieder der Begriff «prozessbasierte Kunst». Auch im Beschrieb zum Programm der Shedhalle für die nächsten Jahre sticht der Begriff ins Auge. Wie definiert ihr prozessbasierte Kunst für euch und welche Konzepte stecken dahinter?
Phila: Wir haben eigentlich keine fixe Definition. Wir grenzen es klar von der Prozesskunst aus den 70er Jahren ab, wo der Prozess das Einzige ist, was ausgestellt wird. Da gibt es am Ende dann gar kein Objekt mehr. Höchstens die Überbleibsel von jemandem, der mal im Raum war. Wir sehen eher das Ausstellungsmachen und Institutionsleiten als einen Prozess an. Das heisst, dass wir nicht immer alles komplett vorgeplant haben oder genau wissen, was von Künstler*innen in einer Ausstellung landen wird. Wir gehen oft in ein Gespräch mit ihnen und schauen dann gemeinsam. Die Künstler*innen, mit denen wir arbeiten, haben meist eine recht breite Praxis, kommen aus dem queeren Umfeld und haben Bezüge zu Sci-Fi. Prozesshaft ist also auch, was zwischen den Arbeiten und den Menschen, die anwesend sind passiert.
Thea: Ich finde es schwierig zu definieren, was eigentlich das künstlerische Werk ist. Deshalb rede ich lieber von einem künstlerischen Prozess oder von einer künstlerischen Praxis. Produkte sind immer die Dinge, die Teil dieses Prozesses sind oder aus diesem Prozess entstehen. Wie ein Pilz, der unter dem Boden wuchert, und ab und zu kommt etwas an die Oberfläche. Aber der Pilz ist alles, auch das unter dem Boden. Es geht uns auch darum, die Gedanken, dass etwas fix oder unveränderlich ist aufzulösen. Wir haben gemerkt, dass etwas passiert, wenn wir den Künstler*innen sagen: Es geht um prozessbasierte Kunst und nicht um das Produkt. Das erzeugt ganz andere Herangehensweisen.
Ihr teilt eure Ausstellungen in zwei unterschiedliche Phasen: Eine Hi-Intensity und eine Lo-Intensity Phase. Was passiert jeweils während diesen Phasen?
Phila: Die Hi-Intensity Phase ist wie eine lang gezogene Eröffnung oder eine Ausstellung, die eine Woche zu früh eröffnet wird. Noch vor Corona haben wir gesagt, dass die Shedhalle in der Hi-Intensity Phase einfach mal zwei oder drei Tage durchgehend geöffnet sein soll. Uns interessiert, was in so einem intensiven Prozess zwischen Künstler*in und Publikum entstehen kann. Darauf folgt dann die Lo-Intensity Phase, in der die Shedhalle nur am Wochenende geöffnet ist. Was auch damit zu tun hat, dass unter der Woche in der Roten Fabrik nicht so viel los ist. Wir fanden es spannend, dass eine Ausstellung zwei Daseinsformen hat: Einmal ist sie richtig belebt, da sind ganz viele Leute und es passiert richtig viel und dann wiederum gibt es diese Wochenenden, an denen die Shedhalle wie eine konventionelle Ausstellung besucht werden kann.
Gibt es auch Dinge, die nach einer Ausstellung bleiben?
Thea: Es gibt Dinge, die wiederverwendet werden. Zum Beispiel hatten wir in unserer Protozone eine Wand eingebaut, in die Enad Marouf, der im Februar hier in Residenz war, einen Torbogen geschnitten hat. Den benutzt er weiter als Installation und Setting für einen Film. Als er den Torbogen rausgeschnitten hat, kam zum Vorschein, dass diese Wand ursprünglich für die Aids Ausstellung vor zwei Jahren verwendet wurde. Enad arbeitet mit Geschichten zu Aids und hat diesen Ausschnitt jetzt behalten. Oder die grünen Schattennetze in unserer Ausstellung: Die nimmt ein Künstler mit nach Griechenland, wo er sie für ein Gartenprojekt benutzt. Ein Teil geht in einen anderen Kunstraum. Es geht viel auch um Recycling und Wiederverwendung. Wir versuchen vieles im Kreislauf zu behalten oder weiterzugeben.
Die prozessbasierte Kunst passiert bei euch in Protozonen. Woher kommt dieser Begriff und was bedeutet er für euch und eure Praxis?
Phila: Thea kam eines Tages in unser Studio in Berlin und sagte: «Unser Projekt für die Shedhalle heisst Protozone». Genau da ist es entstanden. Eine Wortneuschöpfung, die erstmal im Raum stand. Daraus haben wir ein Konzept gemacht und ein Ausstellungsmodell für prozessbasierte Kunst entwickelt. So haben wir oft auch künstlerische Projekte entwickelt. Einfach was ausgedacht und dann überlegt, wie wir da künstlerisch herankommen können.
Thea: Der Begriff entstand auch aus der feministischen Science-Fiction, mit der wir uns auseinandersetzen. Da gibt’s oft Zonen, wo Dinge anders sind als sonst. «Proto», wie Prototyp, ist ein erstes Modell, ein Versuch. Etwas nicht Endgültiges oder Abschliessendes. Es soll eine Fiktion kreieren, die von verschiedenen Leuten auf unterschiedliche Art interpretiert werden kann. So, dass es etwas Offenes bleibt.
Was ist die Shedhalle für euch für ein Raum und was für Räume wollt ihr darin schaffen?
Phila: Erstmal ist es ein riesiges Privileg so einen Raum in Zürich zu haben. Er ist richtig toll von der Architektur her und wir haben Spass daran ihn zu bespielen. Es soll ein Space für eine gewisse Community sein und gleichzeitig verschiedene Personengruppen ansprechen. Bisher war vieles auf ein Kunstpublikum fokussiert, aber das soll auch wachsen. Der aktuelle Proto-Club spricht eher die Clubszene an, beim nächsten Mal wird er einen ganz anderen Fokus haben. Ein anderes Projekt erarbeiten wir mit «About us» – einem Programm für Quartier-Projekte, das gerade entsteht.
Thea: Wir versuchen, unterschiedliche Dinge zu machen, die unterschiedliche Leute interessieren. Das passiert auch einfach, da unterschiedliche Köpfe hinter unserem Programm stecken. Im Idealfall durchmischen sich die verschiedenen Publika.
Worüber wir jetzt noch gar nicht gesprochen haben, ist die Geschichte der Shedhalle. Das experimentelle Ausstellungsmachen hat ja fast Tradition. Und es haben schon viele Künstler*innen und Teams hier kuratiert. Was für andere Institutionen total neu ist, war in der Shedhalle schon in den 80er, 90er Jahren so. Es wurde auch immer schon interdisziplinär mit aktivistischen Gruppen, der Uni, etc. gearbeitet. Das war teilweise schwierig für die Shedhalle, da sie in der Vergangenheit oft argumentieren musste, wieso das Kunst war, was sie gemacht haben. Wir sind jetzt an einem etwas anderen Punkt und können darauf aufbauen, dass es diese Offenheit gibt zu anderen Feldern und Formaten. Auch zu einem queer-feministischen Geist und Hintergrund, der schon lange in der Shedhalle herrscht. Durch die öffentliche Förderung haben wir zudem eine Grundlage, die uns viel Freiheit gibt, Dinge auszuprobieren. Wir interessieren uns beispielsweise dafür, Leute einzubinden, die nicht aus der Kunst kommen, sondern zum Beispiel aus der Technologie, Wissenschaft oder dem Aktivismus. Aktuell planen wir gerade etwas mit der ETH. Dieser interdisziplinäre Austausch ist aber auch etwas, das erst einmal wachsen muss. Seit wir in der Stadt sind, können wir langsam Kontakte knüpfen.
Wie einschneidend ist für euch die Situation mit Corona und den dazugehörigen Massnahmen im Kulturbereich?
Thea: Wir wissen gar nicht, wie es vorher war. Schon die Zeit, in der wir über das Programm konkret nachgedacht haben, war während Corona. Wir haben uns überlegt, wie wir in dieser Zeit ein widerstandsfähiges Programm machen können. Unsere erste Ausstellung hiess deshalb «Contamination/Resilience». Contamination war im ursprünglichen Konzept schon drin – wir dachten, wir kontaminieren die Stadt und die Shedhalle mit prozessbasierter Kunst. Plötzlich bekam das eine ganz andere Bedeutung. Eine Frage war, wie wir mit anderen Leuten arbeiten und im Austausch sein können, trotz Corona. Da hatten wir auch einfach mega viel Glück: Der zweite Lockdown kam zwei Tage, nachdem wir unsere Ausstellung geschlossen hatten. Fünf Tage, bevor wir wieder etwas machen wollten, ging es wieder auf.
Phila: Es ist aber wichtig zu betonen, dass es unglaublich viel mehr Arbeit war. Wir haben im November das ganze Programm für 2021 neu gedacht. Alle Leute im Kulturbereich, und das kann nicht stark genug betont werden, arbeiten sich gerade wirklich kaputt und das sieht man nur ganz wenig. Es ist super-super viel mehr Arbeit und es wird nicht bezahlt. Man plant ein Programm, muss ein neues Programm planen und wieder ein neues Programm planen…
Thea: Kurzfristig zu planen ist auch einfach viel stressiger als langfristig. Wir haben keine Vergleichswerte, aber es ist schon super viel Arbeit
Und was kommt nun als nächstes? Wenn alles stattfinden kann, wie geplant…
Thea: Am 9. April beginnt Lucie Tumas Protozone Continuity/Transpassing. Die Künstler*innen dieser Protozone arbeiten schon über Jahre immer wieder zusammen mit Daseinsformen wie Steinen, Pflanzen, Wasser, aber auch Geistern oder Künstlichen Intelligenzen. Die Hi-Intensity Phase wird aber voraussichtlich im Mai stattfinden, sofern das möglich ist. Gerade ist es ja verboten Veranstaltungen zu machen. Wir sind jetzt schon mitten im Aufbau. Und gleich im Anschluss kommt Michelangelo mit seiner Protozone ab Mitte Juni. Jetzt geht es Schlag auf Schlag und wir freuen uns, über alle die uns einen Besuch abstatten. Wir trinken auch gerne mit Besucher*innen hinter der Shedhalle einen Kaffee und erzählen ein wenig über die aktuelle Protozone.