Ich nehme mich immer noch zu wichtig. Das werfe ich mir vor.
Nachdem das Taxi am Ende der Strasse nicht mehr zu sehen gewesen war, ging ich zurück ins Haus und trank, am Wasserhahn, bis ich nicht mehr konnte. Dann ging ich ins Zimmer und begann zu schreiben.
Der erste Satz war eine Frage. Ob er mich wohl vermissen wird? Er mich. Das meine ich. Er, der gelitten hat, mich, der ich mich zu wichtig nehme. Der ihm nie geglaubt hat, dass er leidet. Der immer geglaubt hat, es sei alles gespielt, nicht einmal gut gespielt. Der sich immer sagte: Er braucht das. Und sich sagte: Aber ich werde nicht mitmachen.
Als er mich einmal fragte, auf welcher Seite ich eigentlich stünde, wusste ich nicht so recht zu antworten, sagte: «Wahrscheinlich steht jeder auf der eigenen.» – Was auf ihn allerdings keinen Eindruck zu machen schien. Ich versuchte zu grinsen, als sei es ein Witz, aber da er weiter schwieg, sah ich in den Topf, den ich gerade auf die Herdplatte gestellt hatte.
Was hatte er da gedacht?
Die Erinnerung reicht, um wieder jenes Gefühl herzustellen, bei dem ich mir sicher bin, dass es aus ihm in mich über ging. Es. Mir fällt kein besseres Wort ein. Es ist vage genug und geht in die richtige Richtung. Aber um es zu beschreiben, fehlen mir die Worte. Von Anfang an ist das so gewesen, immer wenn ich erzählen wollte. Solange noch Ruhe herrscht, ist alles in Ordnung; in Ordnung, wie es in Ordnung ist, während man von Pepp runterkommt.
Im Bett, von allen Seiten belagert, von allen Übeln, die es gibt, aber noch ist ja nicht Morgen. Ein Loch, in das die Gedanken rasen, und wenn man die Augen wieder öffnet, sind ein paar Stunden vorbei und es ist hell.
Mit dem Tag beginnt es einzubrechen. Es, der Verlust der Fähigkeit sich zu artikulieren.
Ein solcher Begriff scheint einem unendlich einfach zu sein. Aber die Sätze werden länger und länger und entfernen sich – von was eigentlich?
Man hält sich in Händen und betrachtet sich, wie man in Tränen ausbrechen könnte, wenn man sich nur nicht vorher schon verhaspelt hätte. Denn es ist ja nicht nur ein Gefühl. Ein Wissen, ja, ein Wissen über ihn, als sei es sein Gedanke, den ich plötzlich – statt einer Antwort – vernahm: «Du arbeitest gegen mich.»
Das kann nur sein Gedanke gewesen sein.
Und wenn es sein Gedanke war, den ich bekam, während ich sah, dass er sich fürchtete, glaube ich nicht, dass es er war, der fürchtete, ich schreibe von ihm.
Natürlich, vielleicht doch.
Immerhin fürchtete er alles, hatte riesige Angst davor, was beispielsweise im Schatten an der Ecke sich verbarg – aber vor dem Schreiben, davor, dass einer des anderen schrieb, davor fürchtete ich mich.
Woher kommt das?
Das, dass ich ihn (als jungen Mann) heranradeln sah – im T-Shirt, eine Hand am Lenker, unterm Arm eine Mappe – und gleich denke: sein Notizheft, ein Tagebuch, nein, ein Journal, das Manuskript einer Erzählung – und mich ärgerte, dass ich in diesem Schauspiel der Zuschauer war, und er der Darsteller.
Und woher kommt es, dass im Gegensatz dazu niemand sehen soll, dass ich schreibe? Wofür schäme ich mich? Und weshalb tue ich es, wo ich mich doch schäme, trotzdem?
Woher kam, während ich da sass und schrieb, die Angst, er würde gleichzeitig in seinem Zimmer sitzen und ebenfalls alles aufschreiben. Weil ich ihn für ehrlicher hielt als mich. Aber warum hielt ich ihn für ehrlicher?
Wir unterhielten uns, bis das Wasser im Topf kochte.
«Unterhielten uns» stimmt nicht ganz. Ich sprach. Fast ausschliesslich ich. Ich kann mich gar nicht nicht verraten haben. Der Monolog, den ich hielt, bestand aus einem Haufen gut gemeinter Ratschläge und diplomatischer Versuche ihn (und sein Spiel) in den Griff zu kriegen, aber ich lüge, wenn ich behaupte, ich hätte sein Bestes im Sinn gehabt. Ich lüge sogar, wenn ich abstreite, ich hätte ihm Schlechtes gewünscht.
Eine Verachtung, die ich mir entgegenbrachte, hatte ich auf ihn verschoben.
Und statt ihn zu verachten, wurde ich wütend auf ihn. Der Wunsch ihn zu quälen, oder ihn zumindest gequält zu sehen. Eine boshafte Seite an mir, die ich heute klar sehen kann, mit der ich aber damals in mein Zimmer ging und ihn hasste, während ich aber nicht hätte sagen können, dass es Hass war.
Ich habe ja schon die Sprachlosigkeit erwähnt, von der ich überfallen war. Ich setzte mich hin und schrieb: «Ich fühle mich von ihm übermannt. Ich weiss nicht mehr, was ich denke. In Anbetracht der Tatsache, dass ich …» – und dann wusste ich schon nicht mehr weiter, strich alles durch und schrieb: «Es ist, als hätte ich alles vergessen. Was lässt sich also noch sagen? Was ich schreibe, sieht, noch während ich es hinschreibe, falsch aus. Und dieser Unsinn ist Ausdruck von dem, von dem mir der Kopf wirr ist. Ich rudere und gehe unter und schliesslich über mir das Meer, das sich schliesst. Vielleicht liegt es ja auch nur am Wetter, es ist irgendwie zwischen Herbst und Winter. Zwischen. Noch wissen die Wolken nicht, welche Gestalt sie annehmen sollen. Was er wohl in seinem Zimmer gerade tut? Das ist das Schlimmste. Man sieht nichts. Ich mache mir Sorgen und bin wütend. Auf uns beide. Auf das, was zwischen uns (und dass überhaupt etwas zwischen uns). Wir sind ja in einer Beziehung. Das einzige, was mich davon abhält zu glauben, es sei niemand in seinem Zimmer, sind die Töne, die durch die Mauer dringen. Vielleicht spielt er Gitarre. Manchmal klingt es aber zu hart, ähnelt Schlägen. Als schlüge er in seinem Zimmer Eisenstäbe gegeneinander.»
An diesem Tag hängte ich ein Bild an die Wand, die sein Zimmer von meinem trennte, eine Plakatwerbung von Channel. «Egoiste» als Bildunterschrift unter der Fotografie eines Mannes, der gegen den Schatten, den sein Körper an die Wand wirft, boxt. Vom Schlag fliegt ihm das Parfumfläschchen aus der Hand.
Es klopfte.
Ich sah vom Schreibtisch auf, er stand in der Tür – irgendetwas ist wieder – deutete auf das Bild und fragte, fast eine Spur schüchtern: «Hast du das neu aufgehängt?» Ich sah es durch seine Augen: Ein Schatten aus seinem Zimmer in meines –
«Lauschst du an der Tür?», erwiderte ich.
Wir lachten beide.
Ich stelle ihn mir vor, wie er, noch bevor er klopfte, auf dem Gang gestanden hatte, so, wie ich so oft vor seiner Tür, erstarrt vor der Frage, mit welchen Gedanken er gerade spielte, was er gerade tat. Bereitete er etwas vor?
Unser Lachen sollte leicht klingen, aber wir erschraken. In uns, hinter dem Lachen.
Er ging, ich blieb am Schreibtisch sitzen. Wir hatten beide dasselbe gedacht. Und ich schrieb: «Ob wir die Dinge so oder so einkleiden: Die Gestalt, die sie einmal annehmen werden, ändert sich nicht.» Ich machte einen Absatz und schrieb (voller Hass): «Er, dem beim Versuch einen Baum zu pflanzen, die Erde zu schimmeln beginnt.»
Eine Stunde verging. Dann sprachen wir wieder. Diesmal wieder in der Küche.
Mit einer Ruhe, die ihn rational erscheinen liess, legte er seine Worte auf den Tisch. Seine Innereien. Mit den Händen wog er ab, prüfte mit den Augen, ob er sich auch gut verkaufte, sprach dabei von «der letzten Würde» und wählte Wörter wie «Bitte» und «Gnadenfrist».
Ich kann mir heute kaum mehr vorstellen, was für ein körperliches Gefühl das für ihn sein musste. Er wolle keine Heilung. Das sagte er klar und deutlich. Er wolle keinen Arzt und keine Medizin, zumindest nicht, bevor er nicht aufgeräumt habe. Seine letzte Würde sei es, seine Abwesenheit selbst vorzubereiten. Er wolle packen und sein Zeug auf den Dachboden packen. Wenigstens das solle ich ihm lassen.
Warum er mit dem Aufräumen nicht warten wolle, bis er wieder entlassen sei? Er flüchtete sich wieder in die Sache mit der letzten Würde. Ich aber erkannte daran, dass er sich in Wahrheit nicht für krank hielt. Kein Stück. Ich sagte: «Wir sind doch alle krank» – und er tat darauf, als denke er über das Wort «krank» nach und murmelte, sein Nachdenken mit aller zur Verfügung stehender Mimik unterstreichend: «Vielleicht entgleist.»
Der Zug, der auf der Seite liegt, hilflos.
Der Zug, der rast und rast und da vorn, da hören die Schienen auf.