Wenn du nicht da bist, verschwindet die Farbe aus dem Leben, wie Wasser aus einem Schwamm; und ich existiere nur noch, trocken und staubig.

Virginia Woolf an ihre Schwester Vanessa Bell


Vanessa Bell, (geborene Stephen), war Virginia Woolfs geliebte und bewunderte ältere Schwester. Sie wurde eine bekannte Malerin und war wie Virginia ein prominentes Mitglied der von ihr ins Leben gerufenen Londoner «Bloomsbury Group» – einer losen Verbindung von Künstler*innen und Intellektuellen Anfang des vorigen Jahrhunderts, benannt nach ihrem Treffpunkt, der im Londoner Stadtteil Bloomsboury gelegenen Wohnung der vier Stephen-Kinder Vanessa, Thoby, Virginia und Adrian.

Vanessa, die bis zum Tod des Vaters im Februar 1904, also von ihrem 18. bis zum 25. Lebensjahr, neben ihrem Studium an der Royal Art School den jüngeren Geschwistern und dem hypochondrischen Vater als Familiensklavin ihre verstorbene Halbschwester Stella und die verstorbene Mutter ersetzen musste, hatte das damals noch ganz unpopuläre Bloomsbury als passendes Domizil für sich selbst und ihre Geschwister aufgetan. Alles, was mit der Welt der Eltern zu tun hatte, wollte sie weit hinter sich lassen.

Einen der jungen Männer aus diesem Kreis, den Kunstkritiker Clive Bell, heiratete Vanessa 1907. Die Ehe wurde nie aufgelöst, hatte sich aber schon 1916 in eine Freundschaft gewandelt.

Vanessa hatte mit Clive zwei Söhne, Julian, der 1937 im spanischen Bürgerkrieg starb, und Quentin, den späteren Biographen Virginia Woolfs. Vater ihrer Tochter Angelica (1918-2012) war Vanessas grosse Liebe, der bisexuelle Maler Duncan Grant. Angelica Bell erfuhr erst mit neunzehn, dass dieser Mann, mit dem sie auch aufgewachsen war (Duncan blieb in Vanessas Landhaus in Charleston um den Preis, dass sie seine Liebhaber tolerierte), ihr Vater war. Angelica heiratete schliesslich David Garnett, Duncans Liebhaber. Die Bloomsbury Group hielt wenig von bürgerlicher Moral; besonders liberal war Vanessa, und sie zahlte einen hohen Preis dafür.

Der bedeutende Kunstkritiker Roger Fry, über den Virginia Woolf nach seinem Tod ihre einzige Biographie schrieb, machte Vanessa ab 1910 mit den französischen Postimpressionisten und mit der Welt des Designs bekannt – diesem Teil ihrer Interessen verdanken wir z.B. Vanessas Buchumschläge für Virginias Werke.

Besonders Matisse mit seinen kräftigen Farben und grob umrissenen Formen wurde Vanessa zum Vorbild. Was Vanessa damals mit ihrer Kunst zum Ausdruck bringen wollte und mit Worten wie «Festigkeit» und «Üppigkeit» umschrieb, mütterliche Grosszügigkeit, Sinnlichkeit und Monumentalität, das hatte vor ihr schon die 1907 mit 31 Jahren verstorbene Paula Modersohn-Becker gewollt und verwirklicht. Vanessas «natürliches» Vorbild wäre Modersohn-Becker gewesen, aber die Bloomsbury Group war frankophil und hielt nichts von deutscher Kunst:

Warum geht ein vernünftiger Mensch nach Deutschland? … Unser Hotel war komfortabel und das Essen sehr gut, der Zug luxuriös und für alle Bedürfnisse war gesorgt. Aber der Horror ist unsagbar. Das ganze Land ist senf- und pfefferfarben. Die Frauen sind ohne Ausnahme hässlich und schlecht angezogen. Aber das Schlimmste ist die Kunst. Sie ist überall, kein Haus, keinen Zug lässt man in Ruhe. Alles ist gepflastert mit kultivierter deutscher Kunst. Es wurde so aufdringlich, dass man sich nach England sehnte.

Vanessa in einem Brief an Virginia, 1912.


Vanessa Bell scheint die Bilder ihrer grossen deutschen Zeitgenossin (Paula war nur drei Jahre älter) zeitlebens nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

In den 1920er Jahren hatte Vanessa ihre grössten Erfolge; die dreissiger und vierziger Jahre brachten Kriege und grosse persönliche Verluste. Ihr letztes Jahrzehnt verlebte Vanessa friedlich und entspannt mit ihrem Lebensgefährten Duncan in ihrem Landhaus in Charleston, Sussex, aus dem die beiden ein berühmtes Gemeinschaftskunstwerk gemacht haben.

Luise F. Pusch ist Professorin für Sprachwissenschaft. Autorin von u.a. «Die Frau ist nicht der Rede wert», «Das Deutsche als Männersprache» und «Alle Menschen werden Schwestern». Mitherausgeberin u.a. von «WahnsinnsFrauen», «Berühmte Frauen: 300 Porträts», «Berühmte Frauenpaare»; Herausgeberin des Kalenders «Berühmte Frauen». Die Glossen ihres Blogs «Laut und Luise» erscheinen seit 2008 im Wallstein Verlag. Sie ist Vorsitzende von FemBio Frauenbiographieforschung e.V.
Dieser Text erschien zuerst auf dem frauenbiografischen Webportal FemBio.org

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert