«Schüler nun aus der Volks- und der Bürgerschule, 6 bis 14-jährige Proletarier, Kinder von Weinhauern, Tagelöhnern, Kleinhäuslern, Arbeitern, Kinder, die die Einfalt der Landstadt und die Armut ihrer Eltern davor bewahrte, als Ablagerungsstätte für all den Bildungs-, Kultur- und Konventionsschutt zu dienen, der die Phantasie in den Herzen der Kinder der Reichen und der Kinder der Grossstadt erstickt, haben diese Arbeiten im Oesterreichischen Museum geschaffen.»
– Norbert Bischof zu «Künstlerisches Gestalten des Kindes»
I
Malereien, Holzschnitzereien und Tonplastiken: Das sind «die Arbeiten», in denen sich für den Autor die vor den «Verheerungen [durch] einseitige Betonung der intellektuellen Werte» gerettete «Seele des Kindes» offenbart. Zu sehen sind sie Ende 1926 im Österreichischen Museum (heute Museum für angewandte Kunst Wien ) und ein weiteres Mal 1929 im Haus der Wiener Secession in der Ausstellung «Künstlerisches Gestalten des Kindes». Initiator der Ausstellungen ist der in Baden bei Wien tätige und der Lehre Rudolf Steiners verpflichtete Kunsterzieher, Friedrich Thetter, der im Wien der 1920er Jahre, neben anderen, die «Kunst des Kindes» als eigenständige Form der Kreativität entdeckte und mit speziellen Methoden zu erschliessen suchte. Das «eigentriebige Gestalten des Kindes» sollte dabei laut Thetter vor allem vor der Überformung durch schulische Ansätze des Kunstunterrichts, wie dem Kopieren von Vorlagen oder dem Erlernen von Techniken geschützt werden. Angestrebt wurde das «Fernhalten jedes nicht aus den Kindern selbst Gewachsenen […] In diesem Abwehrkampf gegen Einflüsse aus der Bildungs- und Darstellungswelt der Grossen liegt der Hauptanteil der Lehrer an der Arbeit und am Erfolg.»
Vor allem durch das Bereitstellen reichhaltiger Arbeitsmaterialien – «bunte Tafelkreide, Farben in großen Tiegeln (die Farben werden von den Schülern selbst angerieben), Gips, Ton, farbige Glasscherben, Bretter, Aeste, Zweige, Linoleum, Metallbleche, Stoffe, Wolle usw.» – soll «die kindliche Phantasie zu einem Gestalten an[geregt werden], das in seiner Art unserem Erleben niemals vergönnt war, und das uns Erwachsene wie ein dem verlorenen Paradies angehörendes Schaffen anmutet.»
Die «kindliche Fantasie» und das «verlorene Paradies» sind Chiffren für die Möglichkeit alternativer Gegenentwürfe zu einem als zweckrational, einseitig verbildet und konventionell empfundenen Leben. In den Quellen werden diese Chiffren meist in einem Atemzug mit Konstruktionen eines positiv besetzen «wilden Anderen» aus einem exotistischen, kolonialen und volkstümlichen/völkischem Assoziationsspielraum entwickelt. Der Psychologe Norbert Bischof schreibt dazu: «Darstellungselemente frühester Kulturen erkennen wir wieder: Mexikanisches, Aegyptisches, Maori- und N*haftes scheint feststellbar. Sollte, wie das Embryo während seines intrauterinen Wachstumes alle Stadien der Entwicklung animalischen Lebens von der Zelle zum Menschen durchschreitet, auch der junge Mensch während seines geistigen Wachstums alle Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes zu durchmessen haben?»
Der Autor sieht hier Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des kreativen Schaffens von Kindern und unterschiedlichen Menschengruppen in den kolonialisierten Ländern des Globalen Südens. Diese werden als «frühe Kulturen» bezeichnet. Obwohl diese Menschengruppen in der Gegenwart leben, werden sie in diesem Diskurs als Vergangenes imaginiert und mit dem «jungen Menschen» gleichgesetzt. Beide – Kinder wie Menschen aus den Kolonien – haben in dieser Darstellung noch nicht «alle Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes» durchlaufen. An die Chiffre des verlorenen Paradieses der kindlichen Fantasie docken sich Auffassungen über nicht europäische Menschen an, die von den Denksystemen des wissenschaftlichen Rassismus geprägt sind.
Kolonial-rassistische Deutungssysteme verzahnen sich in solchen Diskursen über Kunst und Kinder mit bestimmten Vorstellungen von inneren, unverdorbenen Fantasiepotentialen. Diese werden ebenfalls als entfernt von der Zivilisation imaginiert, wie es zum Beispiel Werner Sombart beschreibt, Professor für Staatswissenschaft und sozialkonservativer Wegbereiter der Nazis. «Die Kunst im Leben des Kindes; ein entsetzliches Wort, da doch das Kind genug Phantasie besitzt, um sich eine Welt von Bildern und Gestalten selbst zu erzeugen und den dürftigen Gegenstand mit allem Glanz und aller Pracht auszustatten, da doch das Kind vor allem ungezogen, unästhetisch sein soll, um sich auszutollen, als kleiner Barbar aufwachsen soll und nicht als Ästhet. Je mehr «schöne» Gegenstände ich ihm vor die Nase setze, desto mehr stumpfe ich die schöpferische Kraft seiner Phantasie.»
So wie in den ersten Zitaten verbinden sich auch hier mit den Vorstellungen der Entfaltung der Fantasie der Kinder Ressentiments gegen die kulturellen Bildungsvorstellungen eines grossstädtischen, modernen, liberalen Bürgertums. Damit sind in den Diskursen zu Fantasie und Kindern in Referenz zu kolonial-rassistischen Bildproduktionen auch antisemitisch geprägte Konstruktionen des Volkes angelegt.
Zuzulassen, dass die Kinder ungezogen sind und sich austollen wollen, löst üblicherweise spontane Zustimmung in uns aus. Wie aber wollen wir mit dieser Zustimmung umgehen, wenn sie sich in Bezug auf Diskurse zeigt, welchen wir eigentlich nicht zustimmen wollen? Was ist, wenn an der Zustimmung etwas von diesen Diskursen anhaftet?
II
In den 1980er und 1990er Jahren finden wir im Kontext unserer eigenen Praxen der Kunstvermittlung und kulturellen Bildung Anklänge von Motivassoziationen aus dem oben skizzierten Repertoir wieder. «Das Palmenbuch. Ein Handbuch zur Benutzung von Museen.» war und ist eines der wichtigsten Handbücher eines neuen Verständnisses von Museumspraxis und Vermittlung aus dem österreichischen Kontext der 1990er Jahre. Wie wichtig es für Theoretiker*innen und Praktiker*innen auch heute noch ist, zeigen seine beiden Neuauflagen im Jahre 2007. Die Originalauflage war sehr gering und nur direkt beim Lehrmittelverlag des Kantons Zürich zu bestellen. In jedes Büchlein – sie waren gerade so gross, dass sie in eine Handfläche passen – war ein echtes kleines Stück eines Palmblattes eingelegt. Claudia Jentzsch schreibt 2007 im Rahmen der documenta darüber: «Seinen Titel erhielt das Palmenbuch, weil [den Autorinnen] Heiderose Hildebrand und Eva Sturm, der eigene, reine Text für den Leser zu trocken erschien und deshalb mit Palmenzeichnungen aufgelockert wurde. Die Illustrationen sind Teil einer Sammlung des Medienwissenschaftlers Christoph Eiböck. Jahrzehntelang hat er Passanten, die ihm im Alltag begegnet sind – ob in der Strassenbahn, an der Imbissbude oder beim Konzert – gebeten, ihm eine Palme zu zeichnen. Diese gesammelten Skizzen spiegeln vollkommen verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten einer Palme und dienen als Metapher: Die Vielfalt der verbildlichten Vorstellungen von einer Palme verdeutlicht die Vielfalt von Blickwinkeln, aus welchen ein Kunstwerk betrachtet werden kann. Heiderose Hildebrand kommentiert sinnfällig: Menschen glauben häufig, sie zeichnen DIE Palme, aber DIE Palme gibt es eben nicht!»
Bis heute konnte uns niemand wirklich erklären, warum überhaupt «die Palme»? Hätte nicht «Zeichne Deinen Apfelbaum!» oder «Zeichne ein Auto?» einen ähnlichen Effekt erzeugt?
Die erste Gruppe, die verbindlich im Museum moderner Kunst in Wien in den späten 1980er Jahren neue Formen von Kunstvermittlung anbot, nannte sich «Kolibri Flieg». In ihrer Publikation erklärten sie den Namen wie folgt: «Warum der Name Kolibri Flieg? «Kolibri, das sind die heissfarbigen Worte, die in der flammenden Urwaldsonne herumfliegen.», sagt Vinzenz in Robert Musils ‹Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer›. Im Laufe der Vorbereitungsarbeiten für das Projekt suchten wir ein Symbol für den Begriff Phantasie, für das bestimmt Unbestimmte ebenso wie für das unbestimmt Bestimmte. Uns schien der Kolibri, dieser exotische, kleine, bunte Vogel, der den Schwirrflug übt und sich von delikaten Dingen nährt, ein recht passender bildlicher Ausdruck hiefür.»
Die Verknüpfung als exotisch betrachteter Fauna & Flora mit Fantasie, Freiheit des Ausdrucks und schliesslich mit Wildheit sind ein so fixer Bestandteil der westlichen Imaginationskultur, dass sich die Frage stellt, ob wir überhaupt in der Lage sind, andere Bilder zur Kennzeichnung des Fantastischen zu produzieren. Vermutlich ja. Aber wie die oben genannten Beispiele zeigen, ist das koloniale Bildrepertoire «fremder» Länder und Wesen so selbstverständlich zur Hand, dass es kaum irritiert, wenn es verwendet wird.
So nennt sich auch ein Wiener Theaterhaus «Dschungel», das über sich selbst schreibt, seine «gesellschaftliche Verantwortung und Aufgabe [sei] bewegtes Theater für bewegende Zeiten zu machen. Wir sprechen nicht nur viele Sprachen, sondern rufen mit unserem vielseitigen, wilden, sinnlichen, ernsthaften und spielerischen Programm auf, aktiv, neugierig und selbstbestimmt den Dschungel Wien zu erforschen».
Auch hier: Warum braucht das Abenteuer ungezügelter Kreativität und des Spiels mit Sinnlichkeit einen «Dschungel», um sich zu entfalten? All die von uns genannten Beispiele aus dem Wiener Kontext der 80er Jahre bis heute beziehen sich auf Aktivitäten zur Förderung von Kreativität im Feld der kulturellen Bildung. Angestrebt wird Bedeutungsoffenheit, Imaginationsanregung, die kritische, partizipative Arbeit mit Besucher*-innengruppen oder Subversion bestehender musealer Ordnungen – «Kolibri flieg» nannte sich, um das zu unterstreichen, zwischenzeitlich «StörDienst». Dennoch sind diese Praktiken zumindest auf der symbolischen Ebene bestückt mit Bildern aus der kolonialen Konstruktion fantastischer, verlorener Paradiese im Globalen Süden – selbst dann, wenn die Protagonist*innen der genannten Initiativen diese Zusammenhänge nicht herstellen wollen, oder in ihrer konkreten Arbeit bzw. den Publikationen darüber sogar explizit dagegen anarbeiten und um nicht-rassistische Praxen bemüht sind.
Wie können wir verstehen, warum wir gerade dann, wenn kulturelle Bildung darauf abzielt, Räume der Fantasie und freier Imaginationsprozesse zu öffnen, so bereitwillig auf Versatzstücke eines Exotismus und hier vor allem auf Naturmetaphern zurückgreifen? Welche tiefer liegenden diskursiven Schichten und vor allem Geschichten rufen wir damit an?
III
Diese Zusammenhänge liegen nun nicht auf der Hand, sondern entfalten sich als Assoziationsketten auf der Ebene eines nicht willentlich gelenkten Spiels der Fantasien. Daher arbeiteten wir in dem von uns im Rahmen des Projektes «intertwining hi/stories of arts education» des Netzwerks «Another Roadmap for Arts Education» entwickelten Workshop mit einem Denkmodell, das wir «Scharnierfiguren» nannten, und das die verschlungenen, aber vielleicht auch beweglichen Andockpunkte zwischen pädagogischen Haltungen, die wir auch aus unserer heutigen Sicht als positiv einzuschätzen geneigt sind (wie das freie Entfalten, das Arbeiten mit allen Sinnen, das Entwickeln von Fantasie und Imaginationen) und rassistischen, kolonialistischen, völkischen Ideen aufzeigen sollte. Die Scharnierfiguren verstanden wir als Durchgangsräume mit Eingängen und Ausgängen in unterschiedliche Richtungen. Insbesondere können sie über bestimmte Begriffe und Konzepte die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. In ihrer Funktion als diskursive Verbindungsstücke sind Scharnierfiguren für sich genommen nicht rassistisch, aber sie sind auch nicht neutral. Inhaltlich kreisten die Scharnierfiguren um Konzeptionen von «Lebendigkeit» und organische Metaphern (z.B. der Idee, dass Fantasie wachsen und gedeihen soll), um die Idee der «freien Entfaltung», des Selbertuns und sich «Austobens» und um die Vorstellung, dass dafür «Schutzräume» zu bauen sind, in denen speziell Kinder, vor den Zumutungen der Erwachsenenwelt, der Schule, der Zivilisation aber auch vor dem Stress des städtischen Lebens geschützt, ihrer Fantasie freien Lauf lassen können.
Die Scharnierfiguren wurden aus Buntpapier ausgeschnitten und assoziativ mit eigenen Vorstellungen von künstlerischer Praxis mit Kindern, Zitaten wie den oben angeführten und Arbeiten in der Ausstellung «Studio Eine Phantastik» in der Shedhalle Zürich zusammengebracht. Einige der Teilnehmenden sprachen von «unheimlichen Verbindungen». Und genau das bewirken die Scharnierfiguren: Sie schaffen uns ein Verständnis für die Existenz von Verbindungsräumen zwischen einem rassistischen, völkischen Denkraum und einem, in dem wir uns selbst wohler fühlen.
Trotz aller Unannehmlichkeit wird dieses Verständnis gebraucht, um zu anderen Formen der Imagination zu kommen. Das heisst: Wenn wir wir Räume der Fantasie gestalten wollen, konstruieren wir diese besser nicht als zeitlose, inselhafte «verlorene Paradiese», sondern bauen immer eine kritische Geschichtsperspektive mit ein.