In meiner Fantasie stelle ich die Mehrwegbecher auf den Tresen. «Refill?», fragt die Barkeeperin. «Yes, please!», sage ich und krame drei Plastikchips aus meiner Hosentasche. Ich drücke Flo und Roman je ein Bier in die Hand: «Schnell absitzen?» Als wir an den Türstehern in ihren grünen Blazern vorbei nach draussen treten, blendet mich die Sonne. «Stimmt!», lache ich, «es ist ja erst Nachmittag.» Wir setzen uns neben den Eingang zum Food Court auf den Boden. Von der Vile Creatures/Bismuth-Kollabo, über die die beiden schwärmen, habe ich nur noch die letzten Töne mitgekriegt. Eigentlich hatte ich nur kurz bei Hante. reinschauen wollen, verlor mich dann aber in ihrem dunkelschönen Synthwave. «Nachher schnell Lingua Ignota?», fragt Roman übers Programmheft gebeugt. «Das wird aber knapp», wirft Flo ein, «um zehn nach sechs spielen Torche in der Koepelhal und die will ich nicht verpassen. Lingua Ignota spielt ja noch dreimal dieses Wochenende.» Ich ziehe ebenfalls die Running Order hervor, die ich zu Hause ausgedruckt habe, um mir drauf Notizen machen zu können. «Kraut/Psych» habe ich bei Motor!k hingeschrieben und umkreist. Ich entscheide, dass es der richtige Moment ist, einen Joint anzuzünden.
Early Bird — Zwei Monate davor, am 5. Februar 2020, sass ich nachmittags vor einem Café beim Palazzo Ducale in Genua wirklich an der Sonne, und das machte mich glücklich, weil dafür war ich da. Ein paar Tage Sonne, ein paar Tage mit mir allein aufs Mittelmeer schauen und dabei mein Leben betrachten – wie jedes Jahr.
Pre-production for these stages is going swimmingly, there’s just one problem… or rather two. What are we going to call these two stages?!
Nur kurz hatte ich meinen Facebook-Feed checken wollen. Über Corona postete damals noch niemand, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, obwohl das Virus Europa bereits erreicht hatte. Dafür blieb ich bei einem Post vom Roadburn Festival hängen. Mitte April würde ich wieder nach Tilburg fahren. – Wie seit 2011 jedes Jahr.
Ein ganzes Wochenende Dröhnen und viel Geld für Platten ausgeben, limitierte Siebdrucke und Milkshakes im Coffee Shop und mindestens einmal Burrito und Margaritas beim Mexikaner. Und vor allem: Nicht wie sonst für irgendwas verantwortlich sein. Mit den Bands quatschen, ohne sie fragen zu müssen, ob das Nachtessen gepasst hat und ob sie den Verstärker vielleicht nicht doch noch ein wenig runterdrehen könnten – die Nachbarn, ihr versteht schon. Wenn Rock’n’Roll dein Beruf ist, ist das toll, aber die Unbeschwertheit geht ein Stück weit verloren.
Im Post wurde der Roadburn-Community eine Neuerung angekündigt. In der «Koepelhal», eine der vom Indoor-Festival bespielten Venues, würden zwei statt wie bisher eine Bühne eingerichtet.
Pre-production for these stages is going swimmingly, there’s just one problem… or rather two. What are we going to call these two stages?! Your suggestions are welcomed below – and we’ll whittle them down to a short list. Help us name this part of the Roadburn story!
Castor und Pollux? The Chapel & the Crypt? The Factory und the Engine Room? Keine Ahnung, wie lange ich dort in der Wintersonne sass und mir Namen für die beiden Bühnen überlegte. Ich war nicht mehr in Genua, sondern in Tilburg im Süden der Niederlande, lief in Gedanken zwischen dem Gig einer japanischen Crust Punk-Band und einer kanadischen Kraut Rock-Combo durch den Weirdo Canyon, wie die städtische Party-Meile während dem Festival liebevoll genannt wird. Und spürte bereits das Dröhnen.
Pre-Production — Exakt einen Monat später, am 5. März, meldet die Schweiz den ersten Todesfall in Zusammenhang mit Covid-19. Am 7. März feiern wir im Coq mit drei All-female-Bands in den internationalen Frauentag. Desinfektionsmittel und ein mulmiges Gefühl. Es fühlt sich an wie das letztes Mal.
Laut Spotify habe ich am 8. März dennoch meine «Roadburn 2020»-Playlist ergänzt. Anscheinend mache ich seit 2012 so eine Playlist: Ich packe einfach ein bis zwei Alben jeder Band rein. Sie dient der Vorbereitung. Das Roadburn versteht sich als Avantgarde der lauten Musik, präsentiert Neues, hievt Obskures aus der Vergessenheit, lässt ganze Alben am Stück spielen, gibt neue Werke extra fürs Festival in Auftrag, lädt Szene-Bekanntheiten als Kurator*innen ein. Wer ans Roadburn fährt, will nicht einfach Party machen. Wer ans Roadburn fährt, nimmt den Krach ernst. Scheinbar dachte ich am 8. März noch, ich würde ans Roadburn fahren, oder ich wünschte es mir zumindest.
Festivals können in ihrer Wichtigkeit für die Musikbranche nicht überschätzt werden. Sie zahlen besser, bringen mehr Aufmerksamkeit, dienen dem Netzwerken.
Am 10. März schreibe ich in unsere Roadburn-Whatsapp-Gruppe:
liebe lärm-freunde,
Roadburn ist immer noch on, aber ganz ehrlich: bin skeptisch…
würd mal sagen, ich schaue, dass wir bei der unterkunft nichts anzahlen müssen… weil wir wissen alle: in einem monat wird es keine festivals geben und drum auch kein roadburn.
Als am 23. März die offizielle Absage kam, dachte niemand mehr daran, ins Ausland zu reisen und schon gar nicht an ein Festival. Die Schweiz befand sich bereits im Lockdown, auch meine Bar war zu, die Shows abgesagt oder verschoben auf irgendwann, ins Danach. Trotzdem posteten wir weinende Emojis und gebrochene Herzen unter den Facebook-Post.
Zur persönlichen Tragik, dass das, auf was man sich seit Monaten, ja seit dem letzten Jahr gefreut hatte, nicht stattfinden würde, gesellte sich die gesellschaftliche Dimension. Die drückte auch im offiziellen Statement durch:
The current situation is having an enormous impact already – on the venues we rely on, the bands that we love and the events that we have planned for. Until we come out the other side of this, it will be impossible to do a full assessment of the damage caused to the live music industry.
Festivals können in ihrer Wichtigkeit für die Musikbranche nicht überschätzt werden. Sie zahlen besser, bringen mehr Aufmerksamkeit, dienen dem Netzwerken. In der Nische noch mehr als im Mainstream.
Hätte das Roadburn 2020 stattgefunden…
…hätte die Post Rock-Band Red Sparowes aus L.A. nach 10 Jahren zum ersten Mal wieder live gespielt.
…hätten die Genfer Rorcal mit ihrem Post Doom vielleicht den längst verdienten internationalen Durchbruch geschafft.
…hätte das Industrial-Noise Projekt NGHTCRWLR der US-amerikanischen Musikerin und Produzentin Kristina Esfandiari zum ersten Mal in Europa performt und das, bevor es im Internet einen einzigen Song zu hören gegeben hätte.
…hätte das kleine «dark experimental record label» dank seiner Label-Nacht an einem einzigen Wochenende so viele Platten verkaufen können wie über die ganzen zehn Jahre seines Bestehens hinweg.
…hätte sich das kalifornische Power Trio Dommengang den Flug über den Atlantik leisten und damit ihre erste Europa-Tour ermöglichen können. Eine Station wäre bei uns im Coq d‘Or gewesen.
A group where everyone pretends to be at Roadburn 2020
Hätte das Roadburn Festival 2020 stattgefunden, wären meine Freunde und ich am 15. April losgefahren. Bewaffnet mit Club Mate und Colas, dem passenden Soundtrack und unge-heurer Vorfreude. Sieben Stunden im Auto, sieben Stunden übers Line-up diskutieren, sieben Stunden in Erinnerungen schwelgen, die sich bald aufs Neue manifestieren würden. Das gemietete Bungalow am künstlichen See des Ferienparks, wo wir immer übernachteten. Die rumpelige Fahrt im Shuttle Bus, auf der man aufpassen musste, sein Bier nicht zu verschütten. Das Ankommen in den vertrauten Strassen. Stattdessen schreibt Roman in unsere Roadburn-WhatsApp-Gruppe:
es verriist mer fasch chli shärz, jetzt uf d’roadburnplaylist zschaute. merci kissi trotzdäm förs zämestöue. üüch aune es guets homeburn! ond dänket dra: einisch pro tag muess me e «roadburn special» ässe!!!
Afterburner — Als ich am Sonntagmorgen in meinem Bett aufwache, hab ich trotzdem das Gefühl, unter einem Tinnitus zu leiden. Ich greife zu meinem Handy.
Fuck! I’ve got a tinnitus! Shouldn’t have been dancing so near to the speakers but Acid Rooster were just too mind-blowing! Or was it the apocalyptic finale of the Oranssi Pazuzu show?
Kaum habe ich den Post veröffentlicht, regnet es Likes und Herzchen. In den Kommentaren wird mir zugestimmt. Eine professionelle Tour Managerin, die mit einer ihrer Bands auch schon im Coq Halt gemacht hatte, bedauert, dass wir es verpasst haben, anzustossen.
Auf meinen Post folgen im Minutentakt weitere. Bilder vom Katerfrühstück. Bilder vom ersten Bier, Bilder von markierten und bekritzelten Running Orders. Ob alle noch schlafen würden, fragt einer aus Tilburg über einem Selfie vor der geschlossenen Venue. Ein Booker freut sich darüber, dass die belgischen Post Punker Brutus, mit denen er in ihren Anfängen zusammengearbeitet habe, gleich auf der Main Stage spielen würden («so proud!»). Ein Crew-Mitglied taggt den Backstage-Manager. Leider sei das Bier schon wieder alle.
Der Name der Facebook-Gruppe, in der das alles passiert, könnte selbsterklärender nicht sein: «A group where everyone pretends to be at Roadburn 2020». Aus Jux von ein paar Roadburn-Veteranen gegründet, am Tag, an dem das Festival hätte starten sollen, zählt sie am Sonntag jenes Wochenendes über 2000 Mitglieder aus der ganzen Welt. Auch Artistic Director Walter Hoeijmakers, in einer Noisey-Doku mal treffend als «Mr. Roadburn» bezeichnet, ist dabei. Neben Links zum spontan zusammengestellten Ersatz-Programm aus Live-Streams von Akustik-Shows und Talks erzählt auch er von seinen diesjährigen Erlebnissen. Die Geschichte von einem Musiker, der dank der Begegnung mit einer hübschen Holländerin und einer Portion Mush-rooms verloren gegangen ist und seinen Flug verpasst hat, verteilt er übers ganze Wochenende.
Niemand schreibt sich einen Stream Monate vorher in den Kalender ein, nimmt sich frei, wartet sehnsüchtig, dass der Tag kommt.
2020 war nicht nur das Jahr der Absagen, sondern auch der Versuche, das zu ersetzen, was nicht stattfinden konnte. Das Jahr der digitalen Ersatzhandlungen. Fernunterricht, Zoom-Meetings, Houseparty. Und für die Kultur: Live-Streaming. Dessen Grenzen jedoch wurden schnell offenbar. Niemand schreibt sich einen Stream Monate vorher in den Kalender ein, nimmt sich frei, wartet sehnsüchtig, dass der Tag kommt. Einer Lesung oder einer Diskussionsrunde mag man vom Schreibtisch aus vielleicht noch folgen, aber einer Death Metal Band, bei der man normalerweise zu 110db im Moshpit schwitzen würde? Das Dröhnen spürst du nicht am Schreibtisch und auch nicht auf dem Sofa.
Festivals wie das Roadburn sind zudem Get-together einer Community, die über den ganzen Globus verstreut ist. Eine Community, die an die Nische gewohnt ist und an den halbleeren Konzertkeller, die die Show trotzdem macht, weil sie sie einfach machen will. Die Metalheads, die schon in der Schule die Aussenseiter waren. Die Freaks, die gar nicht erst versuchen, ihren Arbeitskolleg*innen die Vorfreude zu vermitteln, die das Erspähen einer Ampeg 8×10’’ Bassbox auf der Bühne bei ihnen auslöst.
Am Roadburn finden wir Freaks zueinander – selbst wenn wir nur in einer Facebook-Gruppe ein Wochenende lang so tun als ob. Indem wir also spielten, wir würden gerade im Weirdo Canyon einen Burger essen, uns über Programm-Überschneidungen ärgern und am Morgen mit einem Tinnitus aufwachen, konnten wir zumindest dieses Gefühl 2020 retten. Fast spürten wir sogar das Dröhnen.