1

Das Radio spielt cholerische, spanische Lieder, die Observierungssubjekte wühlen in ihren Sachen. Immer liegen die Sachen herum, nie herrscht Ordnung. Subjekt Beta sucht ein Dokument. Das Dokument ist selbsttätig verschwunden, das ist ungünstig, denn eigentlich wollte Subjekt Beta es verschwinden lassen. Subjekt Omega gräbt den Inhalt einer Schublade um. Subjekt Omega sucht die Quittung einer Kamera für einen Versicherungsbetrug. Schön wäre es, eine grosse Summe zu bekommen, wenn bloss die Quittung noch dort wäre, wo Subjekt Omega sie zuletzt gesehen hatte, damals, vor Jahren, in einem anderen Haus, in einem anderen Zustand. Stattdessen findet Subjekt Omega das Dokument, welches Subjekt Beta sucht, will es ihm geben, doch sein Blick bleibt daran hängen.

Seine Augen hangeln sich geschwind wie Affen von Zeile zu Zeile.

Seine Augen hangeln sich geschwind wie Affen von Zeile zu Zeile. Im Dokument befinden sich lesbare Wörter von Subjekt Beta. Auch von anderen Subjekten. Worte, die gewechselt wurden, gesprochen, gehört und abgehört. Nun stehen sie im Dokument. Unumstössliche, gedruckte Schrift. Diese Worte waren niemals dazu bestimmt gewesen, Wörter zu sein, gelesen zu werden. Nicht von den Stellen, die sie transkribiert haben und erst recht nicht von Subjekt Omega. Trotzdem überfliegt es diese lesbar gemachten Wörter und jedes dieser Wörter ist Subjekt Omega im Einzelnen ein Gräuel, der gesamte, daraus fabrizierte Text ist ihm ein umso grösserer Gräuel und Subjekt Omega, diesen Text lesend, ist sich selbst zuwider.

Das Dokument ist ein offizielles Dokument. Im Gegensatz zu seinem Inhalt. Die Wörter darin sind nicht im Geringsten offiziell. Als Urheber ist Subjekt Beta aufgeführt, nur zur Überführung hat es offiziell nicht gereicht. Subjekt Beta hat diese Worte gesagt und mit anderen inoffiziellen Subjekten gewechselt. Die im Dokument aufgeführten Tatsachen pochen in Subjekt Omegas Schlagader. Subjekt Omega musste doch von diesen Worten gewusst haben. Zumindest etwas geahnt. Erahnte Worte erahnter Personen zu lesen ist für Subjekt Omega schwer zu ertragen.

Es muss ja nicht. Niemand zwingt Subjekt Omega, im Gegenteil. Besser, es würde Subjekt Beta das Dokument jetzt gleich aushändigen. Aber die Ahnung in ihm zwingt es, bis zum Schluss zu lesen. Die Ahnung ahnt, dass am Ende des Dokuments Gewissheit herrschen wird und sie selbst befreit und federleicht aus dem offen stehenden Fenster in den Himmel schweben kann. Eine Ahnung hat nur eines im Sinn. Sich frei zu machen vom Subjekt, in dem sie gefangen ist.

Jetzt wird sichtbar, wie morsch Subjekt Omega vor lauter Ahnungen geworden ist.

Aus dem Radio plärrt noch immer der spanische Sänger. Er bittet Gott, dass wenn er schon sterben müsse, er vor Liebe sterben wolle. Gleich in der nächsten Strophe aber beklagt er sich über die Leiden der Liebe und sucht nach medikamentöser Abhilfe. Weit weg im Wald habe er mit den Tieren gesprochen und überhaupt ergibt sich aus dem spanischen Lied kein kohärentes Bild der Liebe. Auch Subjekt Omega macht keinen besonders kohärenten Eindruck mehr, innerlich bröckelnd steht es mit dem Dokument in der Hand im Durcheinander der Sachen.

Das Dokument ist umfangreich. Die Worte nehmen in geschriebener Form mehr Platz ein, als in gesprochener, oder erahnter Form. In Subjekt Omega drin haben die erahnten Worte schon viel Platz eingenommen. Würde es sonst so bröckeln, nun da die Ahnungen entweichen? Jetzt erst wird sichtbar, wie morsch Subjekt Omega vor lauter Ahnungen geworden ist. Subjekt Beta hätte das eigentlich ahnen müssen. Aber der Platz in Subjekt Omega ist nun mal kein öffentlicher Platz. Dieser von Ahnungen eingenommene Platz fehlte niemandem ausser ihm. Auch Subjekt Beta fehlte er nicht.

Subjekt Omega findet, Subjekt Beta sei ein feiger Hund.

Subjekt Omega wankt auf Subjekt Beta zu, das mehrseitige, geheftete Dokument pendelt hin und her. Es sieht gelähmt aus im Gesicht und kann nicht sprechen. Wie soll es auch sprechen, nach all diesen, zu Text aufgereihten, von ihm zwar erahnten, aber nur Subjekt Beta bekannten, da von ihm ausgesprochenen Worten. Da bleiben Subjekt Omega die Worte weg. Es will wissen, wer die anderen, nicht von Subjekt Beta gesprochenen Worte gesagt hat. Subjekte waren das. Das hilft Subjekt Omega nicht. Die ganze Welt jenseits von Subjekt Beta ist vollgestopft mit Subjekten. Subjekt Beta hatte sie nie genauer definiert, diese Subjekte. Subjekte, Worte, Gräuel. Eben. Genau diesen Gräuel wollte Subjekt Beta Subjekt Omega ersparen. Es liess die Subjekte also im Ungefähren. Die ungefähren Subjekte, die nun aber im offiziellen Dokument ziemlich definiert hervortreten, stehen in einem Widerspruch. Sie stehen im Widerspruch zum Ungefähren, in dem Subjekt Beta sie gelassen hatte. Subjekt Omega findet, Subjekt Beta sei ein feiger Hund. Nur aus Feigheit hätte es die Subjekte gelassen.

Subjekt Omega will eine Konsequenz ziehen. Es müht sich ab. Kein Ausbruch will ihm gelingen. Subjekt Beta wähnt sich bereits wieder in Sicherheit und schaut sich nach Essbarem um. Da endlich kommt die Ohrfeige von Subjekt Omega, und die Semmel, die Subjekt Beta sich gerade in den Mund schieben wollte, fliegt an die Wand. Ob Subjekt Beta noch bei Trost sei, sich in so einem Moment eine Semmel reinzustopfen? Dann weint Subjekt Omega zusammengekauert in der Ecke. Dann springt es auf und rennt aus dem Haus. Draussen drischt es mit seiner Tasche auf eine kniehohe Hecke ein. Dann rennt es wieder rein und wirft sich schreiend auf den Küchenboden. Subjekt Beta kauft für Subjekt Omega am Kiosk ein Rubbellos und Mentholzigaretten.

Subjekt Omega, das Subjekt Beta die Semmel aus dem Mund geschlagen hat, ist desorientiert.

Subjekt Omega fühlt sich allein und dumm. Subjekt Beta habe sich ein Leben lang allein und dumm gefühlt. Der Vergleich mit seiner Einsamkeit und Dummheit tut Subjekt Omega nicht gut. Es kann nicht von diesem Vergleich profitieren. Momentan gerade nicht. Subjekt Beta will Subjekt Omega klarmachen, dass es mit seiner Einsamkeit und Dummheit nicht allein ist. Aber Subjekt Omega denkt, Subjekt Beta wolle ihm seine höchstpersönliche Einsamkeit und Dummheit ausreden. Was ja auch nicht schlecht wäre. Wenn Subjekt Beta Subjekt Omega das ausreden könnte.

Die Wörter im offiziellen Dokument sind nicht ins Ungefähre zurück zu verbannen. Dafür wurde gesorgt, von verschiedenen offiziellen Stellen. Was den verschiedenen Stellen noch fehlt, ist ein vollumfängliches Einverständnis mit diesen Wörtern durch Subjekt Beta. Es hat ausgesagt, sich nicht erinnern zu können. Es hat den Eindruck erweckt, nicht ganz gescheit zu sein. Für die offiziellen Stellen ist es schwierig, sich in dieser Welt aus vorgetäuschter und echter Dummheit zu orientieren.

Aber auch Subjekt Omega, das Subjekt Beta die Semmel aus dem Mund geschlagen hat, ist desorientiert. Es fällt durch ein Loch. Es weiss nicht, ob es ins Bodenlose fällt, oder auf Subjekt Beta drauf und dann von dort aus wieder auf Subjekt Beta herein. Nicht mal das weiss es. Ist da jemand, unter dem Boden? Es ist einfach ein Fallen ohne Ende. Subjekt Beta und Subjekt Omega sitzen in der Falle.

Warum wusste Subjekt Omega nichts von diesen Worten?

Subjekt Omega deutet auf sein Herz und sagt, mit Subjekt Beta zusammen zu sein wäre, als würde es mit einem Messer in seinen eigenen Brustkasten stechen und immerzu darin herumwühlen und bohren. Subjekt Omega könne doch gehen, bemerkt Subjekt Beta. Oder Subjekt Beta kann gehen! Und wieder weint Subjekt Omega, wegen der Semmel, und wird von Subjekt Beta getröstet, das mit der Semmel sei nicht schlimm. Nichts sei schlimm.

Subjekt Omega sitzt jetzt auf einem Hocker in der Küche und schaut ins Leere. Es fragt sich, wie es sich verständlich machen kann. Wie es sich darstellen soll, damit Subjekt Beta seine Lage begreife. Dass es diese Überlegungen überhaupt anstellen muss, bringt Subjekt Omega innerlich schier zur Raserei. Es möchte, dass das gegenseitige Begreifen selbstverständlich ist. Subjekt Beta beschwichtigt, dass man das erst lernen müsse, gemeinsam. Subjekt Omega will aber nichts lernen. Es hat Angst, das Falsche zu lernen. Und wenn Subjekt Omega es mit Subjekt Beta lernen würde, nimmt es an, wäre es besonders falsch. Zudem denkt es, unter dem Deckmantel dieses Lernens verstecke sich bloss eine weitere Verantwortung, mit der Subjekt Beta es letzten Endes allein lassen werde. Das sei der Gipfel. Ohne Antwort direkt zur Verantwortung überzugehen. Also was ist mit den Worten, Subjekt Beta soll antworten. Warum wusste Subjekt Omega nichts von diesen Worten? Wer steckt hinter den Subjekten im Dokument? All das will es wissen. Subjekt Beta bezweifelt, dass dieses Wissen ihnen beiden weiterhelfe. Subjekt Omega schreit. Bevor Subjekt Beta darüber entscheiden dürfe, was ihnen beiden helfe, wolle es erstmal dieses Wissen wissen…

 

2

Da steht Subjekt Omega, regungslos und wartet auf das Wissen. Subjekt Beta soll jetzt sofort Auskunft über die Worte und Subjekte im offiziellen Dokument geben. Subjekt Omega ist erschüttert über diese Verwicklung, zu der es selbst nicht eingeladen worden ist. Dass es sich dabei um eine offizielle Verwicklung handelt, die bereits geschehen und nicht rückgängig zu machen ist, ignoriert Subjekt Omega in seinen Forderungen nach Mitwissen. Will Subjekt Omega etwa tatsächlich nachträglich offiziell verwickelt werden? Die Tatsachen, insistiert Subjekt Omega, müssen jetzt klar sichtbar vor ihm auf dem Tisch gelegt werden. So würden die ungefähren Subjekte konkret zu existieren beginnen, es selbst, Subjekt Omega, würde in Relation zu ihnen existieren und innerhalb dieser Relation könne es entscheiden, ob es überhaupt in Relation zu diesen konkreten Subjekten existieren wolle! Dazu sei das Wissen zu wissen unerlässlich.

Er hat sich im Bett an seiner Bettgefährtin verbrannt und will jetzt von Gott einen Feuerlöscher

Schweigend stopft Subjekt Beta Tabak in seine Zigarette. Der spanische Sänger klagt in die Stille zwischen Subjekt Omega und Subjekt Beta hinein. Er hat sich im Bett an seiner Bettgefährtin verbrannt und will jetzt von Gott einen Feuerlöscher, er brüllt wie eine gesengte Sau, die Flamme der Liebe ist ihm zu heiss. Wütend stampft Subjekt Omega auf, jetzt aber raus mit der Wahrheit! Der Parkettboden ächzt.

Subjekt Beta möchte die von Subjekt Omega geforderte Wahrheitsübung lieber für den Ernstfall aufheben. Wenn es ernst werde, gehe das dann schon, mit der Wahrheit. Überhaupt stünde kein Ernstfall bevor. – Aber das offizielle Dokument? Der offiziellen Stelle? Das sei ja wohl fünf-vor-Ernstfall, findet Subjekt Omega und deutet entgeistert auf den offiziellen Stempel. Die Kanten der Buchstaben im Dokument schneiden in Subjekt Omegas Hirn. Wie kleine Messerchen sezieren sie fortzu die Realität, die dieses Hirn beflissen herstellt. Die ungefähren Subjekte existieren. Sie haben eine Sprache und sie sprechen diese Worte – sie sind nicht wegzudenken, spricht Subjekt Omega zu sich selbst, da Subjekt Beta lieber schweigt. Subjekt Beta hält es nicht für angebracht, – sich in diesen Prozess einzumischen. Zu vieles wurde bereits vermischt.

Die Kanten der Buchstaben schneiden in Omegas Hirn. Wie kleine Messerchen sezieren sie fortzu die Realität.

Kränkung macht sich in Subjekt Omega breit. Offenbar ist es der Realität völlig egal, wen oder was sie einschliesst. Ob bestätigte Tatsachen, verschwiegene bis öffentlich gewordene Subjekte oder Privatworte mitmachen, ist für die Realität nicht ausschlaggebend. Hauptsache die Realität setzt sich zusammen; ihre Bestandteile müssen nicht zueinander passen, alle dürfen sich dazusetzen und werden gelöst in einer ungerührten Substanz des Vertrauens.

Bestimmte Substanzen des Vertrauens hatten das Misstrauen der offiziellen Stellen auf sich gezogen. Grundsätzlich misstrauen die offiziellen Stellen jedem subjektiven Vertrauen. Worauf gründen diese Subjekte ihr Vertrauen, wenn nicht auf die durch diese Stellen gewährleistete, objektive Sicherheit? Also bitte! Da ist doch was im Busch, bei diesen Subjekten. Und die offiziellen Stellen ordneten die Fahndung an, selbst in den Busch zu steigen, zwecks Observierung dieser Zusammenkünfte der Subjekte um die Substanzen des Vertrauens.

Blut tropft vom Augenlid, die Wange schwillt sofort an.

Davon handeln die Worte der Subjekte? Von Substanzen? Und Subjekt Beta handle mit diesen Subjekten? Handel? Subjekt Omega will es nicht fassen. Es möchte ein kleine Integritätsaufführung aufführen. Aber auch das gelingt nicht wirklich. Die Aufführung entspricht nicht der Wirklichkeit. Vor Verzweiflung über seine eigene Unwirklichkeit fahren Subjekt Omegas Hände durch die Luft und landen schliesslich auf seinem Kopf. Mit beiden Fäusten haut es darauf ein. Subjekt Beta packt Subjekt Omegas verkrampfte Hände, dieses wimmert und macht ein paar schwache Versuche, sich aus Subjekt Betas Griff zu winden. Tränenfeuchte, warme Luft bläst stossartig aus der Umklammerung der Observierungssubjekte. Als Subjekt Beta Subjekt Omega schliesslich vorsichtig loslässt, gelingt es diesem doch noch, sich blitzschnell eine tiefe Kratzwunde über Auge und Wange zuzufügen. Blut tropft vom Augenlid, die Wange schwillt sofort an.

So wolle es nachher rausgehen? So wolle es ins Strassenverkehrsamt fahren und dort mit der Empfangsdame einen Prüfungstermin für das Auto ausmachen? Subjekt Beta zieht genervt die Augenbrauen hoch und hebt seine zu Boden gefallene Zigarette auf.

Was bleibe ihm denn anderes übrig, so Subjekt Omega nüchtern, als in diese Offizialrealität hinaus zu gehen? Etwa seine eigene Realität? Die ganz bestimmt nicht. Die sei ja bereits zu Markte getragen worden. Und der Erlös? Für ein Rubbellos und eine Cola ausgegeben! Mentholzigaretten, korrigiert Subjekt Beta lächelnd, aber Subjekt Omega hat gerade keinen Humor. Es drückt einen nassen Lappen auf sein brennendes Auge und ist insgeheim froh, dass es sich nicht gröber verletzt hat, als unbedingt nötig.

Er sei nun tatsächlich aufgrund einer bösartigen Liebeshexerei ums Leben gekommen

Das Radio ist im Gerangel um die Selbstverletzung hinter den Kühlschrank gefallen. Gerade berichtet der Sänger, er sei nun tatsächlich aufgrund einer bösartigen Liebeshexerei ums Leben gekommen, in einem schwarzen Hemd. Dieses schwarze Hemd aber laufe immer noch auf Erden herum und selbst im Tod käme man einfach nicht zur Ruhe. Besonders Mittwochs nicht, denn da suche das schwarze Hemd jeweils die Koffer seiner Exfreundin heim und durchstöbere ihre privaten Sachen. Und was für ihn früher Ehrensache gewesen sei, sei für das schwarze Hemd heute die reine Scheisse, oder der reine Mittwoch. Vermutlich ein spanisches Wortspiel.

Mittwoch, aha, jawohl Mittwoch, murmelt die Fahndung draussen vor dem Haus und hält gespannt den Atem an. Sie sitzt in ihrem Busch der Überwachung und macht sich Notizen. Es habe im zu observierenden Gebäude einen Tumult gegeben. Nun presse sich eines der Subjekte einen nassen Lappen aufs Auge. Der Busch wurde von der Nachbarin zur Verfügung gestellt, besser, sie wurde gezwungen, ihn der Fahndung zu überlassen. Die Nachbarin war zunächst nicht einverstanden gewesen, da der Busch ein sehr schöner Ginster, ihr Augenstern und ganzer Stolz… Aber die Fahndung hatte klargemacht, das etwas im Busch sei, drüben bei den Subjekten, Gottseidank nicht in ihrem geliebten Busch, aber laut Anordnung der Staatsanwaltschaft müsse man diesen Busch nun opfern, wenn man hinter die Geheimnisse des zu observierenden Buschs, also dieser Subjekte, kommen wolle. Und das wolle man nun offiziell.

Aufmerksam lauscht die Fahndung

Aufmerksam lauscht die Fahndung: Die Abhöreinrichtung hat den Tumult überstanden, aber drinnen wird vorerst geschwiegen. Nur die spanische Musik mündet in eine feurige Flamenco Einlage mit Gitarre und unartikuliertem Geschrei. Dann abruptes Ende und bedeutsame Stille.

Wasser tropft von Subjekt Omegas Lappen und Subjekt Beta beginnt über die Eltern zu schimpfen. Auch Subjekt Omega stimmt ein, das Schimpfen über die Eltern tut den beiden kurzzeitig gut, sie fühlen sich weniger verantwortlich für die Situation und auch das brennende Auge macht plötzlich Sinn. Die Väter, die Väter! Haben sich immer nur im ihre wichtigen Geschäfte gekümmert, kein Wunder also, dass die Mütter ungestört ihre Schabernack Universen haben bewirtschaften können. Realitätserfindung sondergleichen! Und erst die ganz körperliche Verantwortung, von wem hätte man die Bitteschön lernen sollen, etwa von den Vätern? Denen Nahrung, Flüssigkeit und lebenswichtige Mineralstoffe regelrecht eingeflösst werden mussten, damit sie nicht vor lauter Wichtigkeit beim Beruf verdorrten? Kein Wunder, kräht Subjekt Omega nun fast wieder gut gelaunt, habe Subjekt Beta sich zu einem Subjekt entwickelt, das die Realität samt Personal und Zubehör verdränge!

Die Fahndung im Busch notiert, die Stimmung drinnen bei den Observierungssubjekten schwanke schon wieder erheblich. Die Fahndung macht auch eine kleine Randnotiz für das Einsatzkommando. Bei Zugriff unbedingt einigermassen stabile Stimmungslage abwarten. Ansonsten: Löcher, Bodenloses, keine Grundlage, Schräglage. Unversehens muss die Fahndung schmunzeln. Saukomisch, wenn die Sondereinheit in ein Loch fiele, beim Zugriff auf die Subjekte.

 

3

Die Sondereinheit ist der Fahndung nicht geheuer. Krokus. Es sieht der Sondereinheit ähnlich, sich nach einer giftigen Blume zu benennen, die unter dem Schnee in einer Knolle überwintert und im Frühling als erste den ausgehungerten Tieren ins Gesicht springt. Urplötzlich sticht sie aus dem Boden, wie aus dem Nichts. Oft sogar durch den letzten Schnee. Wäre es nicht wesentlich angenehmer, die Sondereinheit würde Schneeglöckchen oder Tulpe heissen? Aber diese Gewächse verleihen nicht die von der Sondereinheit gewünschte symbolische Strahlkraft.

Die Fahndung, anfällig auf Symbolik, schaudert. So sind sie beschaffen, die Subjekte. Und aus solchen besteht auch die Sondereinheit letzten Endes, trotz ihrer Einheit: Aus einzelnen, an sich instabilen Subjekten. Da muss man ja irgendwie auf einen gemeinsamen Nenner kommen; da kommt man um Benennung nicht herum.

Und aller verbindenden Benennung zum Trotz verursachen die Subjekte überall Instabilität, sinniert die Fahndung. Dort verbrennen sie an der spanischen Liebe, hier zerkratzten sie sich das Antlitz. Den Subjekten muss etwas beigemischt worden sein, das diese Reaktionen auslöst. Die Subjekte, notiert die Fahndung schliesslich, bestehen höchstwahrscheinlich aus mehr als bloss der Summe ihrer Substanzen.

Sie selbst hatte ihre Subjekthaftigkeit früh ablegen müssen, um eine gute Fahndung zu sein. Gewöhnliche Subjekte können sich schlecht auf die zu observierenden Sachverhalte konzentrieren, ständig kommen ihnen ihre Empfindungen in die Quere, sie solidarisieren oder konkurrieren, sie privilegieren oder belustigen sich, sie möchten sich in die lange Reihe der Subjekte einordnen, und dabei kommt ihnen jegliche Objektivität abhanden. Die Fahndung aber hat sich all diese Affekte abgewöhnt und ist zu einer rein beobachtenden Instanz geworden. Deshalb macht es ihr auch nichts aus, im ungastlichen Ginster zu sitzen und den Subjekten drüben im Haus stundenlang beim Zanken zuzusehen. Reinen Gewissens absorbiert sie die Informationen, die ihr das Abhörgerät und der Feldstecher liefern.

Wenn Subjekte von ihrer Kindheit reden, haben sie immer denselben eingeschnappten Gesichtsausdruck

Die Observierungssubjekte schieben nach wie vor eifrig die Verantwortung umher. Die Eltern, die Schule, die Kirche, die allgemeine Aufzucht durch Staat und Gesellschaft, und man müsse es einfach noch einmal gesagt haben: die Eltern. Die Subjekte sagen es gern auch noch ein drittes und viertes Mal. Die befreiende Wirkung verflüchtigt sich schneller, als die Subjekte schimpfen können.

Die Fahndung verlagert ihr Gewicht auf die rechte Hinterbacke und lässt kurz den Feldstecher sinken. Solange drüben noch über die erlebte Erziehung debattiert wird, kann sie sich eine kurze Pause erlauben und die Augen entspannen. Wenn Subjekte von ihrer Kindheit reden, haben sie immer denselben eingeschnappten Ausdruck im Gesicht. Die Fahndung vermutet den entscheidenden Hinweis auf die Herkunft der Subjekts-Substanz nicht bei den Eltern der Subjekte. Seufzend knickt die Fahndung einen Zweig, der sie schon länger in die Seite pikst. Die offiziellen Stellen wollen keinem Subjekt seine Substanz aberkennen, aber um die objektive Sicherheit zu gewährleisten, würde man es bevorzugen, wenn die Subjekte sich offizieller Substanzen bedienten, um neue Verbindungen von Subjekts-Substanzen zu mischen. Dann müssten die offiziellen Stellen nicht so einen immensen Kontrollaufwand betreiben und könnten stattdessen selbst in den Handel mit den offiziellen Substanzen einsteigen. Ein lukrativer Geschäftszweig, wie man oft sagen hört.

Im Haus hinter dem Ginster steht die Nachbarin am Fenster. Säuerlich zwirbelt sie den Zipfel der Gardine. Diese Fahndung nimmt sich einiges heraus. Schon wieder hat sie einen Zweig geknickt, die Nachbarin hat es genau gesehen. Jetzt, wo der Busch in voller Blüte steht, kommt es auf jeden Zweig an. Und nun soll ausgerechnet ihr Busch für den Busch der Subjekte von gegenüber hinhalten? Und steht dabei nicht mal im Fokus? Ungerecht. Und all das im Namen der Justiz. Unverschämt. Aber die Nachbarin weiss sich zu helfen. Einen Tee mit gehörig Schuss wird sie der Fahndung in den Ginster bringen. Das wird die Fahndung mürbe machen und dann mal sehen, wie lange sie noch im Busch ausharren kann.

Subjekt Omega fühlt sich zerfleddert

Subjekt Omega geht in der Küche auf und ab und schmiert Wundheilsalbe auf sein behelligtes Auge. Es fühlt sich zerfleddert. Einiges an gesunder Selbstverschnürung wurde damals gelöst, um an Subjekt Beta anknüpfen zu können, denkt es bei sich.

Die Bestandteile der Realität fransen aus. Worte, Personen und Tatsachen lockern sich, werden durchlässig und zerfliessen zu einem trüben Wasser. Nichts sei mehr tatsächlich, aber alles möglich, stellt Subjekt Omega ratlos fest. Eine Kratzwunde sei immerhin eine greifbare Tatsache, bemerkt Subjekt Beta. Es selbst könne im trüben Wasser nicht einmal seine eigenen Hände mit Sicherheit identifizieren. Was tun diese Hände? Sie greifen nach den Gelegenheiten. Subjekt Beta sagt, es schaue nicht hin, wenn es zugreife.

Unsichtbare Gelegenheiten. Und wie? Und wo?, fragt Subjekt Omega. Wo fänden sich solche unsichtbaren Gelegenheiten?

Ist diese Frau noch bei Trost?

Für Sie, tippt die Nachbarin der Fahndung im Ginster auf die Schulter und streckt ihr mit engelhaftem Lächeln ein Serviertablett mit Tee entgegen. Sie hätte sich gedacht, die Fahndung könne sicher einen kleinen Imbiss vertragen, so lange wie sie nun schon da sässe. Der Fahndung kommt das gar nicht gelegen, und sie versucht die Nachbarin mit einer knappen, unfreundlichen Handbewegung zum Rückzug zu bewegen. Keine Gespräche, kein auffälliges Verhalten, zischt sie, doch die Nachbarin wiederholt nur noch deutlicher ihren Spruch vom Imbiss und gibt sich bewusst vertrottelter, als sie tatsächlich ist. Wenn sie jetzt nicht sofort vom Busch zurücktrete, werde sie die Nachbarin wegen Sabotage verwahren lassen, warnt die Fahndung aus dem Busch, also husch! Sie fächelt die Nachbarin aus dem Blickfeld. Betont langsam stellt die Nachbarin das Tablett auf den Rasen und zieht sich beleidigt zurück.

Ärgerlich drückt die Fahndung auf dem Empfänger der Abhöreinrichtung herum. Die Nachbarin hat sie im entscheidenden Moment mit ihrer aufdringlichen Teezeremonie durcheinander gebracht. Ist diese Frau noch bei Trost? Das wird ein Nachspiel haben. Eben war drinnen die Rede von Gelegenheiten gewesen, eben ist bestimmt genau jene Information ausgetauscht worden, auf die die Fahndung gewartet hat.

Subjekt Omega tritt an die gespaltene Fensterscheibe, die es beim vorletzten Streit fast eingeschlagen hatte. Sein überhitztes Gehirn sucht draussen nach visueller Ablenkung von den unsichtbaren Gelegenheiten. Eigentlich ein bemerkenswerter Ginster, bemerkt Subjekt Omega: das Auge brennt, der Ginster lodert – eine gelungene Kombination. Subjekt Omega versucht, über seinen eigenen Witz zu lachen. Subjekt Beta tritt hinzu, zusammen schauen sie in die gelbe Pracht. Im Schatten des Hauseingangs bewegt sich etwas. Die Nachbarin drückt sich dort herum und späht ziemlich auffällig zum Ginster herüber. Die Subjekte blicken zwischen Nachbarin und Ginster hin und her. Was ist mit dem Busch?

Was ist mit dem Busch?

Neben dem Busch steht ein dampfender Teekrug auf einem Serviertablett. Vermutlich ein heidnisches Osterritual, Opfergaben für den Frühling und dergleichen, meint Subjekt Beta kennerisch.

Der Sänger hinter dem Kühlschrank hat seine Stimme nach der kräftezehrenden Flamenco-Einlage erst wiederfinden müssen und stimmt jetzt eine sanfte Ballade an, ein Loblied auf den Frühling. Auf die dunklen Nächte des Winters, in denen der Schädel in Scherben zerschellt und die Liebe auf Eis liegt, folgt das lang ersehnte Licht des Frühlings. Endlich spriesst die Vernunft. Vernunft? Subjekt Omega horcht auf. Vernunft, wiederholt der Sänger und tritt hinter dem Kühlschrank hervor. Subjekt Omega dreht sich abrupt um und fixiert den Kühlschrank. Die Stimme schwebt losgelöst vom Radio durch die Küche. Der Regen, das blaue Adagio, fällt hernieder zu nähren den Spross, trällert die Stimme fröhlich und tanzt aus der Küche in Richtung Flur. Oh strahlende Vernunft, durchwachse du mein Herz – geht der Refrain, und der Sänger öffnet geräuschlos die Wohnungstür – durchwachse du mein Herz –er wiegt sich die Treppenstufen hinunter – oh strahlende Vernunft.

Ungläubig blinzelnd steht Subjekt Omega vor dem Kühlschrank. Das zerkratzte Auge tränt. Noch immer hört Subjekt Omega, wie die Stimme des spanischen Sängers sich im Treppenhaus entfernt. Mit offenem Mund dreht sich Subjekt Omega zum Fenster um. Subjekt Beta hat nichts bemerkt. Es hält die Stellung und beobachtet das Teegedeck beim Ginsterbusch. Das Radio… haucht Subjekt Omega tonlos und versucht nun den Kühlschrank zur Seite zu rücken, um dahinter zu sehen. Was mit dem Radio sei, fragt Subjekt Beta zerstreut über die Schulter. Es könne hier gerade nicht weg. Eben komme ein schwarzes Hemd vorbei, die Opfergabe der Nachbarin abzuholen.

Sarah Elena Müller, *1990, schreibt und komponiert für das Spoken-Word Duo «Cruise Ship Misery». Im März 2019 erschien ihr Debut Album «Urteil». Sie schreibt Kolumnen, produziert Hörstücke, Essay- und Kurzfilme und arbeitet an ihrem ersten Romanprojekt.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert