Was bisher geschah: Sizilien im Winter. Der Erzähler trifft auf der Fähre nach Stromboli einen mysteriösen Amerikaner, der sich den Kopf angeschlagen hat, sowie eine Frau, die er wegen ihrer ikonischen Sonnenbrille Lolita nennt. Auf Deck hören sie Musik mit dem Handy, trinken Vodka aus der Flasche und essen Brote.

Wir legten an, es war stockfinster, keine Strassenlaterne leuchtete uns, es gab keine. Das einzige Strandlokal hatte bereits zugetan und auch sonst war nichts los, ausser uns war niemand unterwegs. Die Hafenstrasse war nicht breiter als für zwei Golfcarts, die normalerweise Touristen beförderten, nun aber angekettet, zuhauf beieinander wie gefangene Tiere unter einer Laube geparkt waren, die bei Gott keine Garage war. Einheimische fuhren sowieso mit der Ape. – Der Strand war komplett schwarz, wegen dem Vulkangestein; was man sich schön vorstellt, wenn man es hört; in echt schaut es aber superhässlich aus, nach Weltende und Zerstörung. Ein einziger, vergessener, rosa Plastikflamingo lag am schwarzen Gestade als Wächter mit sphingenhafter Gebärde, seltsamerweise wollte ihm ums Verrecken nicht die Luft ausgehen, wacker jedenfalls. – Hinter dem Spitzkegel des Vulkans, der sich vor der reichlich besternten Nachtschwärze nochmals schwärzer abzeichnete, glomm feuerhell Rauch. Wir gingen bald bergan, Richtung Ortsmitte, schien es mir. Die Wege wurden enger, es sah aus, wie wenn man träumt. Mondlichtweisse Mauern mit hinübergeworfenen wuchtigen Bougainvillen-Stauden, gekalkte kistenförmige Häuser mit angebauten Kästchen, Kuben in dunklen Gärten zwischen Zitronen- und Feigenbäumen, Palmen, Pinien und Oleander. Oder vielleicht war es doch mehr so, wie wenn man sich gleich nach dem Aufwachen an den ausgeträumten Traum erinnern muss, an einigen Resteindrücken festhält und für das, was zwischendrin passierte, mehr nur so ein Gefühl über hat, dem man nachhängt wie der verlorenen Zeit. Als ob es eine verlorene Zeit je gegeben hätte! – Also: Keine tosenden Löschflugzeuge im himmlischen Luftraum, niemand spielte Musik, kein Baby wimmerte und weinte; wir tranken im Gehen, schluckten im Schreiten und kamen zu einer Kirche mit einem kleinen Platz davor, wo wir uns das erste Mal wundernd umsahen. Dann kam eine grosse Kurve, eine Schule, der einzige Zebrastreifen auf der ganzen Insel, dann wieder eine abwärts-gehende Länge, links und rechts Felder, sinisteres, gestaltloses Gestrüpp darauf, eine unlesbare Geste. Bald eine Tabaktrafik und gegenüber ein zu einer meterlangen Sitzbank umgestaltetes Mäuerchen, mit blauweissen Kacheln gefliest, die wie Wappen aussahen. Auf der Bank schlief in Form eines Kartoffelsacks eine alte Oma und schnarchte absolut melodiös, durchsetzt von einem leisen Pfeifen. Wir tappten diebisch an ihr vorüber, um sie nicht zu wecken.

Jetzt bogen wir jäh rechts ab, abwärts, in irgendeine Schleichgasse, die wahrscheinlich wieder zum Strand führen musste, und gelangten auf einmal an die Felsenküste. Die Wellen klatschten. Fürchterliche, zackenförmige Riffs, unwegsame Pfade dazwischen, dann wieder vom Meer glatt-ausgeschliffene Hohlformationen von übertriebenem Gestaltungswillen wie barocke Ecklösungen, worin geborstenes Schilfrohr, Styroporreste und anderer vom Mond erhellter Unrat lag. Wir gingen dahin als wäre nichts; es lag uns nichts am Weg, einmal roch es ganz komisch nach Bohnen. – Dann eine Bucht. Im Strandbett lagen von der Flut der Schwere nach geordnete, unrunde Steine, gross wie Dinosauriereier; dahinter führte eine betonierte Rampe zu einem breiten Eisentor, das in einer hoch aufragenden Zyklopenmauer lag. Darüber zwei prächtige, nochmals extra eingehegte Ansitze, offensichtlich teuer-teure Privatgrundstücke. Wahrscheinlich der Wasserzugang der Station eines James Bond Bösewichts; darin die mit Maschinenpistolen bewehrten Motorboote seiner gesichtslosen Schergen etc. etc.

Der Amerikaner schritt nun tatsächlich zum Tor hinüber und rüttelte daran, bald mit idiotischer Unnachgiebigkeit, es tat keinen Mucks. Er sah über die Mauer hinauf. Zwei rot blinkende Kameras zwinkerten ihm zu. Nichts geschah. Ein bisschen blöd, ein bisschen peinlich. Lolita und ich setzten uns derweil auf den Rand der Rampe, in die Bucht rauschte das ewiggleiche Wellenrollen, sie bot mir eine die Fantasie anregende Jazzzigarette an, ich lehnte dankend ab. – This is a Ghost-Island, sagte sie, mit angehaltener Luft, den Rauch in den Lungen aufbehaltend. Ich nickte verständnisvoll, das tat ich immer, wenn ich nicht recht wusste, was sagen. Dann kam der Amerikaner wieder zu uns herüber, meinte, dass wir einen anderen Weg gehen müssten, verschlang ein paar nervöse Züge der Kiffe, dass es kurz hell gloste, während er sich locker mit einem Fächer schübeweise Meerluft-Plus zuführte. Das aufgespannte Halbrund des Fächers zeigte einen Feuerdrachen mit gefährlich ausgestreckten Klauen. Ich bekam das erste Mal etwas Angst, und trank mir deshalb noch ein bisschen Mut an. Der Feuerdrache flog an Ort und Stelle, auf und ab, kippte im Fächern von einer perspektivischen Verzerrung in die andere und kam dennoch nicht vom Fleck. Der Amerikaner klappte ihn endlich zu, steckte ihn wieder ein, blies mit einem Stoss den Stummel aus und wir gingen zurück in den Ort.

This black rocks, this desolation, this terror. This Island drives me mad, palaverte Lolita. Ich glaube, das war aus irgendeinem Film oder Drehbuch, denn sie betonte die Wörter gekonnt melodramatisch. Ich sagte gar nichts mehr und starrte umsonst in die Dunkelstufen der Umgebung. – Der Amerikaner wurde nun langsamer, lahmte, fasste sich wieder und wieder an den Kopf, wie bei Kopfschmerzen, nur dass er sich jedes Mal ein bisschen den Verband richtete, obwohl der doch so gescheit gemacht war, dass er eigentlich nicht verrutschen dürfte. Wir legten also Pausen ein nach jeder Steigung und warteten. Doch immerzu war gerade er es, der uns sagte wir «müssten», dass es «keinen Weg vorbei» gäbe, und hiermit die Pausen nun vorschnell auflöste. Er schnaufte allmählich richtig ungut, stützte sich unentwegt an der Mauer, sein Kopf hing wie ein kugeliges Gepäcksstück von seinem Hals, doch der Körper stand bald in einem schönen Kontrapost, man könnte sofort, oder jederzeit, ein gut ausschauendes Foto machen. – Stone-Es Are Falling In The Sea, das sagte er dann, formelhaft innehaltend, den Kopf wieder erhoben, sprach es wie einen antiken Vers, dessen Mass die Rede stelzt, intonierte aber wiederum ähnlich betulich wie Lolita vorhin das mit den Geistern. Ich fand es gar nicht mehr unheimlich, aber ein bisschen läppisch. – We Sell The Fish!, sagte ich plötzlich; mir war nichts Besseres eingefallen und das Schweigen hatte mich mürbe gemacht, es überkam mich einfach, etwas in mir oder ausser mir hatte Überhand gewonnen. Vielleicht die nahende Präsenz des Vulkans. Aber es war ok, oder sogar das Richtige, einzig Brauchbare, was in diesem Moment zu sagen war. Wir kamen langsam weiter, irgendwann ging es dahin.

Bald waren wir aus dem Ort draussen; trotteten steil bergauf entlang eines gepflasterten Steigs, Wände hohen Schilfrohrs zu beiden Seiten, sodass, wenn man umfiel, man nie hinunterkugelte. Die Handytaschenlampen erleuchteten uns den Weg. – An einer Stelle, so dunkel und unscheinbar wie jede andere, hiess uns der angeschlagene Führer dann aufzuhalten. – Er gab Lolita sein Licht, die jetzt mit zweien dastand wie eine Erscheinung. Und bedeutete mir: es ihm gleichzutun: also mit der flachen Hand in die Seitenfuge eines rechteckigen Kanaldeckels zu greifen und auf one, two, three: meine Finger mit einem Ruck hinauf zu stossen, wie wenn ich eine vollbeladene Schubkarre anpackte. – Es zischte dumpf, blödsinnig, der Deckel schütterte, und rührte sich. Ein Schränkchen fuhr also schwerfällig, aber gewissenhaft wie ein Strassenboller an die Oberfläche, mitten auf dem Weg! Es stank erstmal fürchterlich nach Scheisse und was weiss ich. Lolita sagte cool, ich auch. Der ausgefahrene, nicht sehr grosse Monolith besass ein Türchen mit antikem Ziffernfeld ohne Anzeige. Die hervorstehenden, vergilbten, rechteckigen Plastikknöpfe in zwei Reihen (0-5 und 6-#) sahen aus wie das Gebiss einer alten Person. Den einzelnen Tasten waren die Ziffern plus zwei Sonderzeichen zuerst eingraviert, dann war mit Schwarz die Gravur nachgezeichnet worden. Ich muss zugeben, die Machart des Ziffernblatts faszinierte mich noch mehr als das Ding selbst. – Lolita leuchtete wie eine Strassenlaterne, relativ reglos. Ich kannte mich nicht aus. Der Amerikaner wandte sich kurz ab, murmelte, die Hand am Kinn, so als grübelte er; dann begann er zu husten, laut, schlimm, fürchterlich, unerbittlich, gleich würde er auseinanderbrechen, und wir müssten seine Einzelteile oben in den Hauptkrater werfen, aber nein, anscheinend w ü r g t e er die Lösung hervor, denn blitz-plötzlich hörte das Husten auf, er wandte sich um und er strebte geradewegs mit dem Zeigefinger voran zum Tastenfeld. –– Are you sick?, fragte Lolita. –– No no, just Malaria. Er tippte acht Mal; es war sein Geburtsdatum. Das Türchen, schmal wie ein Schulspind, liess sich also aufmachen und mit eingezogenen Häuptern stiegen wir, er voran, Lolita mit den zwei Lampen zuletzt, im Krebsgang eine steile Metalltreppe hinab in den Boden.

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