Gemeinsam mit zwei Freundinnen habe ich mich über Sprache unterhalten. Wir teilen ein gemeinsames Umfeld, gewisse Identitäten, und dass wir mehrere Sprachen haben, die in unserem Leben eine zentrale Rolle spielen. Es ist ein Gespräch, das nach Muttersprachen, Mehrsprachigkeit und Identität fragt. In dem wir über Begrifflichkeiten, Bedeutungen, Neudeutungen und Aneignungen nachdenken. Und in dem wir uns Fragen nach Zugehörigkeit und Ausschlüsse durch Sprache stellen.
A: Was sind eure Muttersprachen?
M: Diese Frage ist für mich gerade sehr aktuell. Denn die Muttersprachen meines Vaters sind Türkisch und Kurdisch. Es sind aber nicht meine Muttersprachen und auch nicht meine Vatersprachen. Er hat nie mit mir Türkisch oder Kurdisch gesprochen. Durch die Zeit, die ich in der Türkei verbringe, habe ich ein Gehör für die türkische Sprache; ich verstehe sie und kann mich irgendwie durchschlagen. Ich lerne sie aber erst jetzt wirklich. Ich habe dadurch oft das Gefühl, nicht das Recht darauf zu haben, mich mit diesem Teil meines Lebens und meines Vaters identifizieren zu dürfen: Weil ich die Sprache nicht gut genug kann. Besonders wenn ich in der Schweiz bin. Ich fühle mich immer in einem Dazwischen. Dabei spielt dieser Teil meiner Identität eine wichtige Rolle in meinem Leben: Meine Familie lebt in der Türkei und ich pflege eine enge Beziehung zu ihr. Die Sprache ist ein Zugangsmittel, das mir fehlt.
A: Fühlst du dich in der Türkei zuhause?
M: Enorm. Darum frage ich mich auch, wieso so viel Wert auf der Sprache liegt. Ich habe so viel Zeit dort verbracht, all diese Erinnerungen, die Gerüche, mit denen ich gross geworden bin. Gerade von Menschen, die auch in der Schweiz aufgewachsen sind, die aber türkisch sprechen, kriege ich Reaktionen, die mich verunsichern. Ich kann ihnen nur schwer erklären, dass es für mich ein emotional wichtiger Ort ist und ich mich mit gewissen Menschen dort sehr verbunden fühle. Ich habe dann das Gefühl, weil ich die Sprache nicht kann, wird mir diese Verbindung abgesprochen.
A: Vielleicht ist das nicht ganz vergleichbar, aber meine tatsächliche Muttersprache ist Französisch. Meine Mutter kommt aus dem Berner Jura. Ich kann die Sprache, ich verstehe es. Im Gespräch mit den Grosseltern und Cousins, merke ich jedoch, dass meine Geschwister und ich immer diejenigen sind, die es nicht so gut können. Es fehlen Wörter. Vor ein paar Jahren wurde mir mal gesagt, dass ich im Französischen einen Schweizerdeutschen Akzent habe – das tat richtig weh. Wenn ich heute Leute aus der französischen Schweiz treffe, ist meine Reaktion immer: Ich weiss, ich klinge vielleicht nicht danach, aber eigentlich gehöre ich auch dazu.
N: Diese emotionale Verbundenheit zu einem Ort kenne ich sehr gut. Bei mir ist es Sizilien. Mein Grossvater war von dort. Die Identitätsfrage stelle ich mir auch oft: Darf ich mich als Italienerin bezeichnen?
M: Sprichst du Italienisch?
N: Ja, inzwischen verstehe ich es relativ gut und kann mich verständigen. In der Familie haben wir nie miteinander Italienisch gesprochen, obwohl meine Schwester und ich dies lange wollten. Aber schon mein Grossvater hat mit seinen Kindern nicht Italienisch gesprochen. Ich glaube, er wollte so wenig wie möglich als Italiener erkannt werden. Hast du mit deinem Vater mal darüber geredet, wieso er nie mit euch Türkisch gesprochen hat?
M: Wir sprechen oft darüber. Ich glaube er hatte das Gefühl, dass er sich völlig anpassen muss. Und gleichzeitig die Angst, dass wir nicht gut genug Deutsch lernen. Er ist jetzt seit 35 Jahren in der Schweiz. Schweizerdeutsch spricht er nicht und ich nehme an, dass er bei meiner Geburt vor 24 Jahren noch weniger gut Deutsch sprach als heute. Und doch hat er diese Sprache gewählt, obwohl er mit mir in seiner Muttersprache hätte kommunizieren können. Ich glaube, er wollte uns vor dem Bild schützen, dass die Menschen von uns hätten haben können. Er will die Migrationsgeschichte von uns fernhalten. Das werde ich wohl nie verstehen können, was auch daran liegt, dass ich diese Migrationserfahrung nicht gemacht habe und auch nicht die Erlebnisse, die diese Entscheidung beinflussten. Ich will ihm diese Entscheidung nicht vorwerfen, aber es macht mich traurig. Es ist ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, wenn Menschen einen Teil ihrer Identität zum eigenen Schutz ablegen und verdrängen müssen.
N: Und wie ist deine Beziehung zum Englischen?
A: Ich habe von neun bis dreizehn in Singapur gelebt. Ein gutes Alter, um eine Sprache zu lernen. Es wurde die Alltagssprache mit meinen Friends. Als wir wieder in die Schweiz kamen, war es mir sehr wichtig, diese Sprache nicht zu verlieren. Damals habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben auf Englisch und mache es noch heute so. Während ich damals oft englische Wörter im Deutschen verwenden musste, ist es heute umgekehrt. Aber ich denke noch immer in Englisch und meine Performances mache ich auch auf Englisch. Vielleicht ist es für mich meine persönlichste Sprache.
N: Sprache hat so viel mit Zusammengehörigkeitsgefühlen zu tun. Gleichzeitig gehören dazu viele soziale Codes und die Frage: In welchen Räumen verwende ich welche Sprache und in welcher Form? Und mit wem fühle ich mich dadurch verbunden? Und neben dieser Zusammengehörigkeit gibt es auch Ausschluss. Besonders stark habe ich das gespürt, als ich frisch an die Uni kam: Ich habe kaum etwas verstanden und musste mir erst viele Begriffe aneignen und diese Art sich auszudrücken.
A: Auch die Regeln, wie wir schreiben müssen, damit wir ernst genommen werden. Wer wird dadurch ausgeschlossen? Wem werden dadurch Zugänge zu Bildung oder Arbeit verweigert?
M: Es ist eine Millieufrage und somit ein Privileg, zwischen verschiedenen Sprachen und Ausdrucksformen wechseln zu können. Wenn du dieses Privileg nicht hast, ist das ein extremer Ausschlussmechanismus. Wenn du dieses Switchen aber einmal gelernt hast, hast du es internalisiert. Es wird als selbstverständlich erwartet: Wenn du es mal einfach nicht machen würdest, wären gewisse bestimmt schockiert.
A: Ich merke oft, wie ich in gewissen Gruppen oder mit bestimmten Menschen anfange, zu reden wie sie. Auch da stehen Zugehörigkeit und Ausschluss sehr nahe beieinander: Dadurch, dass du dich ausgeschlossen fühlst, willst du die Sprache lernen und dann merkst du, wie du mit dieser Sprache plötzlich andere Menschen ausschliesst.
Sprache hat auch viel damit zu tun, was wir in unserem Leben gerade durchleben. Zum Beispiel verwende ich gewisse Begriffe in meinem nahen Umfeld und es ist selbstverständlich, dass wir darunter dasselbe verstehen. Wenn ich diesen Begriff dann zum Beispiel im Umfeld meiner Familie verwende, muss er unter Umständen erst erklärt und verhandelt werden.
M: Ein Wort kann so viel bedeuten. Manchmal ist das richtig anstrengend. Sprache reproduziert gewisse gesellschaftlichen Normen. Da mein Leben diesen Normen nicht immer entspricht, muss ich mich erklären, damit ich so verstanden werde, wie ich will. Wenn ich es nicht mache, laufe ich Gefahr, dass die Menschen ein Bild von mir haben, dass eben dieser Norm entspricht. Das war immer meine grösste Angst. Aber dieses Erklären ist so viel Arbeit.
N: Dahinter steckt ja die Frage, wer lange die Definitionsmacht über die Sprache hatte, die wir heute verwenden. Dadurch entstehen Bilder, die viele Identitäten und Realitäten ausschliessen. Sollen wir nun besser neue Worte für unsere Realitäten finden, oder definieren wir die bereits existierenden Worte neu?
A: Und nehmen dadurch einem Wort die Macht und schreiben ihm eine neue Macht zu?
M: Sind wir schon an dem Punkt, an dem wir so offen sind, dass Sprache radikal anders sein kann? Wie gehen wir zum Beispiel damit um, wenn eine Person, die eine Sprache neu lernt, ein Wort etwas anders benutzt? Korrigiere ich sie dann oder nicht? Ich habe sie ja verstanden. Aber in unserer bestehenden Gesellschaft wird es ihr einfacher fallen, wenn sie es richtig lernt. Gleichzeitig fände ich es so fruchtbar, wenn wir diese Diversität aushalten könnten.
A: Ich finde, es gibt einen starken Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache. In der gesprochenen Sprache sehe ich mehr Flexibilität, um zum Beispiel von sozialen Codes abzuweichen. Bei der geschriebenen Sprache wünsche ich mir mehr Offenheit.
N: Bei inklusiver Sprache geht es dafür in der geschriebenen Sprache gerade etwas schneller als in der gesprochenen. Es fällt einfacher, einen Genderstern zu machen, als eine kurze Pause beim Sprechen. Haben wir die Zeit für diese Pause? Ja klar, aber wir nehmen sie uns oft nicht. Ich wünsche mir auch mehr Offenheit, und gleichzeitig brauchen wir gemeinsame Regeln, die wir bis zu einem gewissen Grad beherrschen müssen, um dann mit der Sprache spielen und diese Regeln immer wieder neu verhandeln zu können.
A: Sprache entsteht und wird immer in einem Miteinander und zusammen verändert.
N: Wenn wir dabei neue Wörter, Begriffe oder Sprachformen kreieren und finden, ist das enorm ermächtigend. Plötzlich hast du eine Sprache für das, was du lebst und erlebst. Wenn wir diese Sprache nicht haben, geht so vieles verloren und wir können keine gemeinsamen Realitäten kreieren.
A: Beispielsweise in der Genderfrage oder bei sexuellen Orientierungen: Es gibt so viele neue Begriffe, was überfordernd sein kann. Selbst in der Community gibt es teilweise diese Haltung: «Fuck Labels! Wir sind einfach, wie wir sind». Und doch ist es mega schön, diese Wörter zu haben, zu wissen, was alles existiert und sein könnte.
M: So kannst du anfangen darüber zu reden.
A: Genau! Dich im Sagbaren wiederfinden. Gleichzeitig ist da das Wissen, dass es in den Begriffen viele Nuancen gibt und das nicht alle die Begriffe genau gleich fassen.
N: Ist nicht auch die Entwicklung wichtig, dass wir erst eine Sprache für etwas finden müssen, um diese dann wieder zu verhandeln und sie womöglich später wieder zu verwerfen? Wenn du nicht darüber reden kannst, kannst du die Sprache und die Realitäten oder Normen, die sie transportiert, ja auch nicht hinterfragen.
A: Ein schöner Gedanke: dass Sprache manchmal auch einfach Mittel zum Zweck sein kann, um dann von einer neuen abgelöst zu werden.