Aglaja Veteranyi hatte keine Angst vor Pathos, Witz oder Grausamkeit. Ihr reichte ein Satz, um eine Geschichte zu erzählen. Mit sechzehn Jahren war sie in die Schweiz gekommen und hatte sich dort das Deutsche genommen, um sich schreibend auszudrücken. Nehmen hiess für sie: Es war ihr Deutsch und sie machte damit, was sie wollte.
Gewiss
Sie lagen sich in den Armen, er und sie.
Haus, sagte er.
Haus, sagte sie.
Zwischen den beiden Mündern war die Luft faltig, und die Wörter verfingen sich darin wie in einem Netz.
Sein Haus lag auf einem Hügel.
Ihr Haus stand auf Rädern.
Zwischen den Häusern lagen die Wortleichen
Und sie schliefen zufrieden ein, die Liebenden.
Als ich ein Kind war, besuchte ich mit meinem Vater Budapest. Jene Stadt, in der seine ungarische Mutter lange gelebt hatte und von der sie später sagte, dass ein Teil von ihr immer dort geblieben sei.
Für mich gab es drei Zeitebenen: damals, heute und irgendwann. Budapest war heute. Das Ungarisch, das mein Vater sprach, war damals. Er hatte grosse Verständnisschwierigkeiten. Die Sprache, die seine Mutter vor Jahrzehnten nach Deutschland mitgenommen hatte, dahin, wo er dann aufwuchs, war in der Zeit stehen geblieben. Ein Taxifahrer fragte ihn einmal: «Wo hast du dein Ungarisch gelassen?»
Aglaja Veteranyi wuchs mit dem Rumänischen und Spanischen auf, und alles war gesprochene Sprache. Sie war Analphabetin. Erst als Teenager lernte sie lesen und schreiben. Sie lernte das Deutsche lesen und schreiben, und ab zwanzig nannte sie sich und war damit freie Schriftstellerin. Zwanzig Jahre später setzte sie ihrem Leben ein Ende. Sie ist nicht die einzige Schriftstellerin, die diesen Weg gewählt hat; wir jungen Schreibenden vermissen viele Schriftstellerinnen älterer Generationen, die mit ihrem Freitod eine Lücke hinterlassen haben. Da, wo sie weiter sein sollten, ist eine abgebrochene Geschichte. Ein Abbruch, dem viel zu oft grössere Beachtung zuteil wird als der Arbeit der Autorin. Lange bevor mir «Warum das Kind in der Polenta kocht» in die Hände fiel, wusste ich von jener Schriftstellerin, die ein so tragisches Leben als Artistenkind geführt hatte, dass der Freitod beinahe eine logische Konsequenz gewesen war. Und auch später noch, als ich längst in ihren Texten wohnen wollte, war es fast unmöglich, bei der Recherche auf eine interessierte Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit zu stossen (eine, die durchaus ihr Leben mit einschliessen konnte). Wie oft ich über sie als «Paradiesvogel» der Schweizer Literatur gelesen habe! Wie viel Gefallen man daran fand, ihr Seelenleben zu sezieren, als sei sie kein Mensch gewesen, dem das eigene Leben gehört.
Im Kindergarten sprachen wir Mundart. Ab der ersten Schulklasse war Schriftdeutsch Pflicht. Die Lehrperson musste es ebenso sprechen wie die Kinder. Ich fand sie schick – die Sprache der Filme und der Bücher. Einer anderen Welt, die ich meistens besser mochte als sie tatsächliche. Nicht schick: mein massiver Akzent, der mich dann doch als Schweizerin auswies. Also üben. Dialoge sprechen. Ein bisschen Film in das Leben bringen. Eine andere Sprache sprechen als die, in der Liebe formuliert wird als: «I ha di gärn.» Und Wut, die eine_n zum Bersten bringen kann, die so detoniert, dass man die Hände zu Fäusten ballt und damit ins Kissen haut und dann ins Kissen schreit und am Kissen zerrt und reisst: «Sie het e bitzeli däubeled.»
Meine Schwestern und ich haben unsere eigenen Spiele.
Ich steige auf ihre Schultern und lasse mich auf die Kieselsteine fallen.
Sie trinkt Wasser aus dem Kuhtrog.
Ich lege Erde in mein Butterbrot.
Sie klemmt sich den Finger in der Tür ein.
Ich kratze mich, bis ich blute.
Sie reisst sich eine Handvoll Haare aus.
Ich lasse mich rittlings auf eine Stuhlkante fallen.
Aglaja lernte lesen und schreiben, in einer Sprache, mit der sie nicht aufgewachsen war. Kindern bringt man die geschriebene Sprache über das Fühlen und Sehen und Hören bei. Zum Beispiel so: Vokale fliegen frei, so lange, wie du willst – singe ein a, bis dir die Stimme versagt. Konsonanten bleiben gefangen – merkst du, dass etwas in deinem Mund sie gefangen hält, dass das t nirgends hinkommt?
Es gibt Theorien, wonach jede neue Sprache eine neue Welt aufmacht. Sie zu lernen schafft Verbindungen im Hirn, die davor nicht da waren. Sind die Grenzen der Sprache zugleich die Grenzen der Welt, steckt ein Mensch, der eine neue Sprache lernt, jene Grenzen also auch neu ab. Für die Wissenschaftlerin Dr. Banks im Science-Fiction-Film «Arrival» bedeutet das Erlernen einer Aliensprache, welche nicht linear geschrieben wird, dass sich auch ihr Empfinden des Lebens als linearer Verlauf aufzulösen beginnt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zu einem Plateau, auf dem sie sich bewegt. Sie kann die Entscheidungen, die sie trifft, nun mit aller Konsequenz sehen, was sie als Mensch grundlegend verändert. Für Aglaja bedeutete das Deutsche, dass sie Schriftstellerin wurde.
Die Schwester meines Vaters heiratete einen Italiener und zog ihre Kinder in Italien auf. Zweisprachig, italienisch und ungarisch, obwohl sie in Deutschland aufgewachsen war. Aber Ungarisch ist die Sprache der Familie. Ungarisch ist das, was weitergegeben wird, wie eine Augenform, wie ein Name, der eine_n als Mitglied eben dieser Familie und ihrer Geschichte ausweist. Ich bin nicht mit meinem Vater aufgewachsen, ich spreche kein Ungarisch. Als Kind wollte ich es irgendwann lernen. Es ist eine Insel, eine Sprache ohne Geschwister, mit zahllosen Fällen und nur einem Geschlechtspronomen – ő. Zum einzigen entfernten Verwandten, dem Finnischen, hat das Ungarische eine entfremdete Beziehung. Man könnte sagen: Die beiden verstehen kein Wort von dem, was die andere sagt.
Zu Lebzeiten gründete Aglaja Veteranyi mit ihrem Partner, dem Schriftsteller Jens Nielsen, eine Performance-Theatergruppe, die viele ihrer Texte szenisch umsetzte, die Engelsmaschine. Es kam wohl zusammen, was zusammengehörte: Aglajas Texte sind formstark, bildgewaltig und gleichzeitig von einer eigentümlichen Mündlichkeit. In einem Nachwort des Bandes «Wörter statt Möbel» schreibt Nielsen über ihre Arbeit: «Ein Anliegen von Aglaja Veteranyi als Autorin war es, dass ein Text intravenös auf Leserinnen und Leser wirke. Sie meinte damit, dass ein Eindruck als Bild, ein Gefühl als Reaktion zuerst sich einstellen sollte. Bevor man dazu kommt, über den Text etwas zu denken.»
Jens Nielsen ist Teil eines Netzes an Nahestehenden, welche unveröffentlichte Texte von Aglaja gesammelt, komponiert und 2019 herausgegeben haben. Aglaja war unverkennbar Teil einer Gemeinschaft. Sie arbeitete viel in Kollektiven, gründete neben der Engelsmaschine u.a. auch Die Wortpumpe, eine literarische Experimentiergruppe. Gemeinschaft bewahrt Sprache. Gemeinschaft sorgt dafür, dass von einer sprachmächtigen Autorin nicht hauptsächlich ihre Lebensgeschichte bleibt, dramatisiert und interpretiert von allen ausser ihr selbst. Sondern ihre Arbeit als Schriftstellerin. Heute weiss ich, dass es alleine nicht geht. Weder das Schreiben noch das Leben als Schreibende. Weil man nicht alleine Sprache erlernen oder finden kann. Und auch nicht bewahren.
Vor meiner Geburt war ich schon acht Monate lang Seiltänzerin auf dem Kopf.
Ich lag in meiner Mutter, sie machte den Spagat auf dem hohen Seil,
und ich schaute runter und drückte mich aufs Seil. Einmal konnte sie vom
Spagat nicht mehr hochkommen und ich bin fast rausgefallen.
Kurz danach kam ich zur Welt.
Meine Mutter kam neunzehnjährig in die Schweiz. Sie gewöhnte sich ihren schwäbischen Dialekt ab und nahm das Baseldeutsche an. Sie verstand sich als Schweizerin. Über die Deutschen machte sie sich gerne lustig. Ihr Mann, mein Stiefvater, war Berner. Er gewöhnte sich seinen Berner Dialekt ab. Es war die Sprache seiner Familie, die Bauern waren. Das war er nicht. Er war Basler. Basler waren keine Bauern.
Meine Muttersprache war nicht die Muttersprache der Menschen, mit denen ich aufwuchs. Es war die Sprache, die sie sich ausgesucht und genommen hatten, in der Hoffnung, dadurch ein Stück weit zu anderen Menschen zu werden. Vielleicht wie Aglaja, die Rumänisch und Spanisch sprechend eine Reisende war, stets unterwegs als Mitglied einer Artistenfamilie. Deutsch schreibend war sie eine Bleibende. Vielleicht wie ich, der das Leben mit dem Dialekt zu klein erschien. Die in Verwirrung darüber war, dass man mir häufig sagte, ich rede seltsam. Egal, welche Sprache ich anpackte, ob den Dialekt, ob das Deutsche, es gab immer eine Spur darin, die mich meinem Gegenüber verriet. Und vielleicht wie ich, die am langen Tisch der Familie meines Vaters sass und glaubte, hätte ich das Ungarische, wäre sie meine Familie. Und so war sie es irgendwie nicht.
Sprache zu verlieren ist eine tückische Angelegenheit. Weil ich nicht benennen konnte, was mir fehlte oder was mich verwirrte, blieb es auch in mir drinnen nicht greifbar. Es waren Bücher wie die von Aglaja, in denen ich Sprache wiederfand. Nicht die wohlformulierte, emotionsarme Sprache der Bücher, die das Gesicht jener Literatur sein sollten, die wir in der Schule als «die Literatur» kennenlernten. Sondern die aufgebrochene, wütende, grausame, kindliche Sprache. Die Sprache, die um sich schlägt und klagt und über sich selbst stolpert. Die Sprache derer, die Sprache suchen.
Orte
– Es gibt Orte in meinem Bauch.
– Es gibt Norden in mir.
– Es wintert in mir.
– Es regnet in mir.
– Es gibt Orte in mir, wo ich mich nicht aufhalte.
Helvetismen sind Wörter im deutschen Sprachgebrauch, die ihren Ursprung im Dialekt haben. Das Duvet zum Beispiel, das seinerseits wiederum dem Französischen entstammt und im Deutschen als Bettdecke bekannt ist. In der Literatur werden Helvetismen gerne aus einem Text herauslektoriert, um ihm bessere Chancen beim deutschen Publikum zu geben. So angetan man sich zuweilen auch von Dialekten zeigt, so unbedingt ist doch der Anspruch, dass sie gekonnt eingesetzt werden, im Wissen darum, wie der jeweilige Dialekt wirkt. Die Helvetismen scheinen in Anbetracht dessen eher ein Ausrutscher zu sein. Genauso fleissig, wie sie herauslektoriert werden, wurde aber auch stets für sie gekämpft.
Romulus erwidert in Dürrenmatts Stück «Romulus der Grosse» auf die Korrektur seines Dieners, es heisse Frühstück und nicht Morgenessen: «Das Morgenessen. Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich.»
Das andere Zimmer
Sag, ich sei kurz weggegangen
Immer häufiger denke ich beim Schreiben an Ausdrücke, die ich aus meiner Kindheit und Jugend kenne. Ich denke daran, dass sich für mich keine Bettdecke so anfühlt wie ein Duvet und kein Schneebesen je Rahm schlagen würde, wie ein Schwingbesen es kann. Ich denke beim Schreiben, dass ich mir das Deutsche genommen habe und es nicht länger die Sprache der Filme und Bücher ist, sondern die Sprache, in der ich liebe und schreibe und meinen Alltag bewältige – und manchmal sprachlos bin.
Ich denke beim Schreiben an das Ungarische und wie alles, was ein Wort vorantreibt, an das Wort selbst drangehängt wird und das Wort damit fast unendlich lang werden kann. Ich denke daran, dass eine Sprache, die alles will, die man entweder von der Mutter oder von einer Liebhaberin lernt, sonst schafft man es nicht – dass eine Sprache mit einem Wort wie megszentségteleníthetetlenség ein Geschlechtspronomen schlicht nicht braucht.
Und während ich schreibe, flechten sich diese Gedanken in den Text mit ein. Ich, die vor jedem Satz zögert, die verinnerlicht hat, wie ein Satz dazustehen hat, vor lauter Angst, ein falscher Satz könne bedeuten, dass sie nie Schriftstellerin werden wird, weil sie die gute Sprache der Schriftsteller nicht beherrscht – ich halte mich an den Büchern fest, in denen ich auf Sprache gestossen bin. Halte mich in Gedanken an Aglaja, die keine Angst vor grossen Worten hatte und ihre Sätze wütend und zärtlich auf die Seiten warf. Sie liess ihre eigene Geschichte darin zu. Ich halte mich an sie, weil sie mir bewies: Dadurch ist Sprache grösser als die eigene Geschichte. Sprache, die aus allem Verlorenen, Gefundenen und Genommenen besteht.