«Economiefeministe», die Plattform für feministische Ökonomie, will auf Lücken im wirtschaftstheoretischen Denken und Handeln aufmerksam machen. Im schriftlich geführten Interview mit Roxane Steiger erklären Anja Peter und Mirjam Aggeler, welche Bedeutung Care-Arbeit für unsere Wirtschaft hat und was feministisch-ökonomische Theorien mit der Anerkennung von Care-Arbeit zu tun haben.
Anja Peter und Mirjam Aggeler, Sie sind Geschäftsleiterinnen von «Economiefeministe», der Plattform für feministische Ökonomie. Wie kam es zur Gründung und was möchten Sie damit ermöglichen oder erreichen?
Die Pionierinnenarbeit der Ökonomin Mascha Madörin zur Sorge- und Versorgungsarbeit aus makroökonomischer Pespektive war zentral für die Gründung von «Economiefeministe». Neben ihr haben aber auch zahlreiche andere aus der feministischen Bewegung Wissen zur ökonomischen Situation von Frauen zusammengetragen – häufig in freiwilliger Arbeit. Die Grenzen der zeitlichen und finanziellen Ressourcen traten dabei immer wieder deutlich hervor. Daraus entstand der Wunsch, dieses Wissen systematisch zu sammeln, öffentlich zugänglich zu machen und weiterzudenken.
Dank einer grosszügigen Spende konnte dieser Wunsch im März 2021 in die Realität umgesetzt werden. «Economiefeministe» ist als gemeinnütziger Verein mit Sitz in Bern organisiert. Zu unseren Hauptanliegen gehört es, die Lücken im wirtschaftstheoretischen Denken, welche die Arbeit und Leistungen von Frauen betreffen, sichtbar zu machen und zu schliessen. Es soll in Zukunft keine weiteren wirtschaftspolitischen Debatten, Studien und Gesetzesvorlagen mehr geben, ohne substanzielle Überlegungen aus feministisch-ökonomischer Perspektive.
Was stellen Sie sich unter einer «feministischen
Ökonomie» vor?
Die feministische Ökonomie gibt es nicht. Sie ist von unterschiedlichen Theorie- und Denktraditionen geprägt. Sie ist eine Disziplin, die direkt aus den feministischen und Frauenbewegungen heraus argumentiert, oder zumindest an deren Wissen anknüpft. Sie berücksichtigt die Erfahrungen und das Wissen von Frauen, denn der Grossteil der Arbeit und Leistungen von Frauen wird aus dem, was als Wirtschaft gilt, ausgeschlossen. Weil diese Lücken vorwiegend Frauen betreffen, sind sie für die feministische Ökonomie zentral.
Unabhängig von ihren Ansätzen und Denkgebäuden hat die feministische Ökonomie gemeinsame Ausgangspunkte: Sie befasst sich mit unbezahlter Arbeit und anderen Aspekten der Sorge- und Versorgungswirtschaft – auch bekannt unter Begriffen wie «Economics of Care», «Reproduktion», «Vorsorgendes Wirtschaften» oder «Ökonomie des Versorgens» – und ihrer Bedeutung für die gesamte Wirtschaft.
Sie möchten aus einer feministischen Perspektive auf «grosse bestehende Lücken» der aktuellen Wirtschaftspolitik und ihrer theoretischen Grundlagen aufmerksam machen. Auf welche Lücken beziehen Sie sich?
Die Arbeit von «Economiefeministe» stützt sich zum Beispiel auf die Beobachtung, dass Frauen und Männer etwa gleich viele Stunden arbeiten, Frauen jedoch über viel weniger Geld verfügen als Männer. In der Schweiz sind es rund 100 Milliarden Franken weniger Einkommen pro Jahr! Mit dieser Summe liesse sich nach Berechnungen der Ökonomin Mascha Madörin die Frühpensionierung aller in der Schweiz lebenden Frauen ab ihrer Geburt finanzieren (Stand der ständigen Wohnbevölkerung 2014).
Gründe für die enorme Einkommenseinbusse sind die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit sowie die Tatsache, dass Berufsfelder, in denen überwiegend Frauen arbeiten, schlechter bezahlt sind als männlich dominierte Berufsfelder. Frauen arbeiten über 80 Prozent ihrer Lebensarbeitszeit in Tätigkeiten, die mit Sorge- und Versorgungswirtschaft zu tun haben. Im Detailhandel, in der Pflege, in der Kinderbetreuung, im Bildungsbereich, in der Reinigung, und eine grosse Mehrheit gebärt Kinder und übernimmt einen Grossteil der Haus-, Sorge- und Betreuungsarbeit in ihren Familien und Nachbarschaften.
Diese Arbeit trägt wesentlich zu Wohlstand und Lebensstandard von uns allen bei. Insgesamt macht sie 70 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens in der Schweiz aus. Sie ist also der grösste Teil der Wirtschaft. Und trotzdem findet diese Arbeit weder gebührende Anerkennung noch wird sie in wirtschafts- oder sozialpolitischen Entscheiden berücksichtigt.
Das verwundert nicht: In gängigen Wirtschaftstheorien und -politiken fehlt sie als eigenständige analytische Kategorie. Wirtschaftstheoretisches Denken und Handeln beruht bislang in erster Linie auf der Analyse der industriellen Güterproduktion. Das heisst nichts anderes, als dass die Bedeutung dieser Arbeit in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatte ignoriert wird – zum Beispiel bei der Definition dessen, was im Bruttoinlandprodukt (BIP) als wertschöpfend und wirtschaftlich produktiv gezählt wird. Mit krassen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Position von Frauen, denn sie sind es, die überproportional viel unbezahlt und (schlecht) bezahlt in der Sorge- und Versorgungswirtschaft arbeiten.
Was ist die Rolle von Care-Arbeit für Wirtschaft und Gesellschaft? Was sind die Herausforderungen?
Wie schnell ein auf Kosteneffizienz getrimmtes Gesundheitswesen an seine Grenzen stösst, haben wir im letzten Jahr alle hautnah miterleben können. Auch was es bedeutet, wenn Kitas und Schulen schliessen, wenn tägliche Bedarfsgüter knapp zu werden drohen oder wenn die Beizen schliessen.
Aber nicht nur in der Krise ist diese Arbeit «systemrelevant». Sie ist es auch im sogenannten Normalbetrieb. Die Fragen, wie wir gepflegt und betreut werden, wenn wir krank oder alt sind, wie unsere Kinder aufwachsen, wie viel Zeit uns für Haus- und Familienarbeit zur Verfügung steht und unter welchen Bedingungen diese Arbeiten geleistet werden, sind für uns alle relevant, denn wir alle sind darauf angewiesen.
Sorge- und Versorgungsarbeit ist eine zentrale Voraussetzung für die Qualität unserer Lebensbedingungen. Diese Arbeit reproduziert also nicht nur die Arbeitskraft, wie das Theoretikerinnen in den 1970er-Jahren beschrieben haben, sondern produziert darüber hinaus Lebensqualität.
Eine grosse ökonomische Herausforderung ist die Zeit als ein entscheidender Faktor für diese Arbeit. Denn anders als in der industriellen Güterproduktion kann Sorgearbeit nicht einfach automatisiert und rationalisiert werden. In der Industrie erlaubt es der technische Fortschritt, den Arbeitsaufwand durch den Einsatz von Maschinen zu senken. Dadurch werden Arbeitskräfte ersetzt und die Arbeitskosten reduziert – sogar wenn die Löhne steigen. Gleichzeitig ist es möglich, Produkte immer billiger anzubieten, ohne dass die Qualität darunter leidet.
Die Sorgearbeit folgt einer anderen Logik. Ihre Qualität hängt direkt mit der zur Verfügung stehenden Zeit zusammen. Ihre Produktivität lässt sich nicht in gleicher Weise mit dem Einsatz von Technik und standardisierten Arbeitsprozessen steigern. Sorgearbeit ist und bleibt zeit- und damit arbeits- und kostenintensiv. Eine zentrale Zukunftsfrage ist also, wie wir als Gesellschaft Sorgearbeit organisieren und finanzieren, ohne sich auf die zeitliche und finanzielle Ausbeutung von Frauen und anderen unterbezahlten Arbeitskräften zu verlassen, wie es heute der Fall ist.
Spätestens seit den Frauenbewegungen der 1970er-Jahre ist eine Debatte über den Stellenwert von Care-Arbeit in unserer Wirtschaft und Gesellschaft entfacht. Was hat sich seither konkret für Care-Arbeitende getan?
Die UNO-Frauenkonferenz in Beijing 1995 hat beispielsweise verlangt, dass zur unbezahlten Arbeit Erhebungen gemacht werden und dass diese als Satellitenkonto ins BIP aufgenommen werden. In der Schweiz werden diese Zahlen seit 1997 erhoben und berechnet. Sie sind die Grundlage für Vergleiche der unbezahlten Arbeit mit anderen ökonomischen Grössenordnungen und für die Arbeit von «Economiefeministe» zentral.
Es gab und gibt auch immer wieder Kämpfe und politische Auseinandersetzungen um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen im Bereich der bezahlten Care-Arbeit. Aber es fehlt im ganzen Bereich der Sorge- und Versorgungswirtschaft an zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen. Nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Sorge- und Versorgungswirtschaft in der Krise. Aber sie macht den Mangel an Ressourcen und politischem Willen, daran etwas zu ändern, sichtbar.
Care-Arbeitende, meist Frauen, bleiben rund um die Uhr im Einsatz, auch wenn sie durch Schliessungen von Schulen und anderen Angeboten zusätzlich Kinder oder Angehörige zu versorgen haben, denn auf die Sorge um und die Versorgung der Bevölkerung kann nicht verzichtet werden. Durch ihre Arbeit mit und für Menschen sind sie selbst einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt.
Weder diese zusätzlichen zeitlichen, finanziellen und gesundheitlichen Belastungen für Care-Arbeitende noch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Leistungen im Sorge- und Versorgungssektor fanden Beachtung in der Bewältigung der Krise. Dabei wird genau hier überproportional zur Bewältigung dieser beigetragen.
In einem Interview mit der Philosophin Silvia Federici habe ich kürzlich gelesen, dass sich die Gleichstellungsdebatte bislang mehrheitlich um den Eintritt von Frauen in männerdominierte Arbeitsfelder dreht und weniger um die Anerkennung von Care-Arbeit. Gleichzeitig beschäftigen sich heute mehrheitlich Frauen tagtäglich mit Care-Arbeit, die nach wie vor nicht als «echte Arbeit» anerkannt wird. Was braucht es, um diese Verhältnisse zu ändern und was bedeutet das für den Feminismus von heute?
Spätestens seit den 1990er-Jahren hat sich auch in der feministischen Bewegung die Vorstellung durchgesetzt, dass Frauen über ein eigenes Erwerbseinkommen ökonomisch unabhängig werden und sich so von unbezahlter Arbeit befreien können. Beides ist nicht passiert.
Seit den 1970er-Jahren hat die Erwerbsarbeit von Frauen, insbesondere auch von Müttern zwar stark zugenommen – von rund 30 Prozent auf 80 Prozent. Gleichzeitig ist das Arbeitsvolumen, der in der Mainstreamökonomie sogenannt produktiven Sektoren wie in der Industrie gesunken. Gewachsen ist der Dienstleistungssektor. Auch der Bereich der nicht personenbezogenen Dienstleistungen, wie zum Beispiel der Bereich der Finanzdienstleistungen.
Die Frauen aber fanden ihre Jobs vorwiegend im Bereich der personenbezogenen Dienstleistung: in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Kinderbetreuung. Parallel zur Zunahme der Erwerbsarbeit von Frauen ist also ein riesiger Sektor – im Vergleich zu anderen Sektoren – schlecht bezahlter Frauenberufe entstanden. Die Sorgearbeit wird zwischen unbezahlten und häufig schlecht bezahlten Frauen hin und her geschoben, ohne dass sie dabei annähernd gleiche Einkommen und Renten wie Männer erwirtschaften können. Die Arbeit im Sorge- und Versorgungssektor wird auch in Zukunft nicht weniger werden.
Es gibt verschiedene Ansätze, die die Berücksichtigung von ökologischen und sozialen Aspekten in Kennzahlen wie dem Bruttoinlandprodukt fordern. Was würde es bringen, wenn man unbezahlte Care-Arbeit im BIP der Schweiz berücksichtigen würde?
Es ist ein politischer Entscheid, welche Wirtschaftssektoren als produktiv gewertet werden und damit in Debatten um Wertschöpfung und Finanzierung einen Platz bekommen und welche nicht. Eine tatsächliche Integration der Sorge- und Versorgungsarbeit ins BIP – als Satellitenkonto wird sie ja bereits aufgeführt – würde sie direkt zum Rest der Wirtschaft in ein Verhältnis setzen und die Dimensionen dieses riesigen vierten Wirtschaftssektors sichtbar machen. Das würde seine Relevanz verdeutlichen und den Druck erhöhen, ihn zukünftig in wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten zu berücksichtigen. Und das wäre dringend nötig.
Das Interview wurde erstmals am 1. Mai 2021 in der P.S. Zeitung publiziert. Für die vorliegende Publikation wurde es leicht gekürzt. Die vollständige Version kann hier nachgelesen werden: www.pszeitung.ch/care-oekonomie-aus-feministischer-perspektive.