Solange sie schreiben,
was sie schreiben wollen,
ist das alles, was zählt;
Und ob es für Ewigkeiten
oder nur für Stunden hält,
kann niemand sagen.


Aus: Virginia Woolf «Ein Zimmer für sich allein»

Adeline Virginia Stephen wird am 25. Januar 1882 im viktorianischen England in eine wohlhabende intellektuelle Familie hineingeboren. Sie ist eines von insgesamt acht Geschwistern, vier Mädchen und vier Jungen, wobei die drei ältesten aus früheren Ehen der Eltern stammen.
Virginias Vater, Leslie Stephen, ist ein angesehener Schriftsteller, Alpinist und Biograf. Abends liest er den Kindern vor und ermuntert sie zum selbstständigen und kritischen Urteilen. Die Mädchen können zwar keine Schule besuchen, aber Leslie sucht schon früh Bücher aus seiner umfangreichen Bibliothek aus, die Virginia und ihre Schwestern lesen dürfen. Schon als kleines Kind fällt Virginias intelligenter, widerspenstiger, spitzfindiger und charmanter Geist auf. Mit neun Jahren gibt sie zusammen mit ihrem Bruder Thoby eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift, die «Hyde Park Gate News», heraus. Sie erfinden Geschichten, imitieren grosse Schriftsteller*innen und Dichter*innen und bringen die neusten Informationen zum Geschehen in der Familie Stephens zu Papier.
Mit dem Tod ihrer Mutter verfällt Virginia mit 13 Jahren zum wahrscheinlich ersten Mal in eine Art apathischen Zustand. Auch der Vater steht unter Schock. In dieser Zeit werden Virginia und ihre Schwester Vanessa von ihren Halbbrüdern George und Gerald Duckworth, die sich vermehrt um ihre jüngeren Schwestern «kümmern», sexuell missbraucht. 1897 stirbt ihre Halbschwester Stella an den Folgen einer Bauchfellentzündung. Als Leslie Stephens schliesslich 1904 ebenfalls stirbt, erleidet Virginia einen Nervenzusammenbruch. Sie findet erst nach Monaten intensiver Pflege und Ruhe ins Leben zurück. Im Oktober ziehen die Geschwister – ohne George und Gerhard – an den Gordon Square 46 in Bloomsbury. Ab da beginnt eine befreiende und unabhängige Phase der Stephen-Kinder.

Unsere Köpfe waren
Voller Experimente
Und Reformen.

Wir würden
ohne Servietten
auskommen.

Wir würden malen, schreiben,

alles würde neu sein,
alles würde ausprobiert werden!


Aus: Virginia Woolf «Das Mal an der Wand»

Zusammen mit Freunden von Bruder Thoby und anderen jungen britischen Intellektuellen gründen sie die Bloomsbury Group. Ohne Satzung, ohne Mitgliedschaft und ohne Manifest. Die Gruppe wird zu einem bekannten
Zirkel von Literat*innen, Maler*innen, Verleger*innen, Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen. Die neue Freiheit bezieht sich mittlerweile auf mehr als nur das Weglassen von Servietten. Während die anderen Mitglieder der Gruppe beginnen, Grenzen der sexuellen Freiheit auszutesten, bleibt Virginia diesbezüglich zurückhaltend. Im Gespräch darüber ist sie schlagfertig und selbstbewusst; aber sie versteht «den Wirbel, den die anderen um den Orgasmus machen», nicht.
Virginia beginnt 1905, Rezensionen und Essays für The Guardian, die National Review und Times Literary Supplement zu schreiben. Der Zugang zu diesen Blättern wird ihr als Tochter des angesehenen Leslie Stephens vereinfacht. Im November 1906 erkrankt ihr geliebter Bruder Thoby an Typhus und stirbt.
Virginias Leben wird fortan von Höhen und Tiefen geprägt; eine Phase der Freiheit und Kreativität folgt einer Krise und umgekehrt. Immer wieder bricht sie zusammen und muss sich danach für Wochen oder Monate erholen. Dieses Auf und Ab wird sie ihr ganzes Leben lang begleiten. 1912 macht ihr Leonard Woolf, ein Freund von Thoby, mit dem sie eine enge Freundschaft pflegt, einen Heiratsantrag. Sie nimmt diesen nach langem Hin und Her an. Die Ehe mit Leonard wird neben dem Schreiben zu ihrem wohl wichtigsten und tiefsten Anker.
1917 kaufen Virginia und Leonard Woolf eine Druckerpresse und gründen «The Hogarth Press». Die weiteren Werke der beiden erscheinen fortan im eigenen Verlag, ebenso wie Romane von T.S Elliot, E.M Forster, Gertrude Stein, Hugh Walpole u.v.m. sowie Übersetzungen aus dem Russischen von Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi und Maxim Gorki. Anfang 1931 stellen die beiden John Lehmann als Lektor ein, woraufhin sich Virginia wieder vermehrt ihrem eigenen Schreiben widmen kann.
1922 lernt Virginia (mittlerweile) Woolf die Schriftstellerin Vita Sackville-West kennen, mit der sie eine Beziehung aufbaut, die weit über Freundschaft hinausgeht. Obwohl beide Frauen glücklich verheiratet sind, beginnt eine intensive und prägende Liebesgeschichte. Zum ersten Mal scheint Virginia wirklich verliebt zu sein und auch die körperlichen Lüste intensiver zu erforschen und zu geniessen; etwas, das sie bis anhin als von anderen übertrieben Gewichtetes wahrgenommen hatte. Die Beziehung zu Vita ist leidenschaftlich, aufregend und von Eifersucht, Versöhnung und Sehnsucht geprägt. Der humorvolle, Vita gewidmete Roman «Orlando» wird im Oktober 1928 herausgegeben und ist ein grosser Erfolg. Im selben Jahr hält Virginia mehrere Vorträge in Cambridge zum Thema «Women and Fiction».

Frauen haben all die
Jahrhunderte als Spiegel
gedient, die die magische
und köstliche Kraft
besassen, die Figur des Mannes in doppelter
Grösse zu reflektieren.

(…)

Imaginär ist die Frau von
Höchster Wichtigkeit…
…praktisch ist sie völlig unbedeutend.
Sie durchdringt die Poesie von Titel zu Titel…
…in der Geschichte ist sie so gut wie nicht vorhanden.


Aus: Virginia Woolf «Women and Fiction»

Im April 1925 erscheint Virginia Woolfs Essay-Sammlung «The Common Reader», im Mai ihr Roman «Mrs. Dalloway», 1927 dann der Roman «To the Lighthouse». 1929 erscheint «A Room of One’s Own», ein feministisches Essay, das zu einem Schlüsselwerk der Frauenbewegung wird. 1931 wird «The Waves» herausgegeben, 1933 «Flush» und schliesslich, 1936 «The Years».
Das Thema der männlichen Ehre und der männlichen Überheblichkeit beschäftigt sie bis ans Ende ihres Lebens. 1938 erscheint «Three Guineas», eine bis heute umstrittene feministische Schrift, in der die Schriftstellerin das Patriarchat mit Militarismus, Faschismus und Krieg verknüpft.

Es ist für einen Patriarchen,
der herrschen muss,
von enormer Bedeutung zu spüren,
dass die Hälfte der Menschheit
ihm von Natur aus unterlegen ist.


Aus: Virginia Woolf «Women and Fiction»

Nachdem Polen am 1. September 1939 überfallen wird, erklärt am 3. September England dem Deutschen Reich den Krieg. Leonard Woolf ist Jude. Im Mai 1940, nach dem Überfall auf Holland und Belgien, beschliesst das Ehepaar, sich im Falle einer deutschen Invasion gemeinsam das Leben zu nehmen. Virginias körperlicher und seelischer Zustand verschlechtert sich erneut. Im Januar 1941 beginnt Leonard, sich grosse Sorgen um sie zu machen. Sie kann nicht mehr schlafen, nicht essen und hört vermehrt Stimmen.

Ich sprach zu jenem Selbst,
das mich in vielen unwahrscheinlichen
Abenteuern begleitet hatte,
zu dem Getreuen, der am Feuer sitzen bleibt,
wenn alle anderen schlafen gegangen sind.

Dieses Selbst gab jetzt keine Antwort.
Es erhob keinen Einspruch.
Es versuchte sich nicht an einem Satz.
Ich wartete. Ich horchte.
Nichts kam. Nichts.
Da rief ich, plötzlich überzeugt von meiner
völligen Verlassenheit.
Es gibt also nichts.
Dies ist wahrlich der Tod.


Aus: Virginia Woolf «Die Wellen»

Am 28.März 1941 schreibt Virginia Woolf einen Abschiedsbrief an ihren Mann. Dann ist sie fort. Etwa zwanzig Tage, nachdem sie sich im Fluss Ouse ertränkt hat, wird sie gefunden. Im Garten des «Monk’s House», ihres Hauses, das sie während des Krieges bewohnten, stehen zwei Bäume mit den Namen «Leonard und Virginia». Dort begräbt Leonard seine geliebte Frau. Als Verleger kümmert er sich um ihren Nachlass und veröffentlicht weitere Essays, Erzählungen, Tagebücher, Briefe und ihren letzten Roman «Between the Acts».

Schliesst eure Bibliotheken ab,
wenn ihr wollt,
aber es gibt kein Tor,
kein Schloss,
keinen Riegel,
mit dem ihr die Freiheit meines Geistes
einschliessen könnt.


Aus: Virginia Woolf «Ein eigenes Zimmer»

Leonor Diggelmann hat Geschichte und portugiesische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert und macht derzeit einen Master in Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Sie lebt in Zürich und arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie.

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