Wir umarmen einander seit bald einem Jahr weniger, für einige fällt Körperkontakt mit anderen Menschen sogar ganz weg. Was macht das mit uns – und was hilft? Die Physiotherapeutin Cornelia Caviglia erklärt.

Miriam Suter: Im Rahmen Ihres Buchprojekts befassen Sie sich seit einigen Jahren neben Ihrem Beruf als Physiotherapeutin mit dem Thema Berührungen. Welches sind die grössten psychologischen Folgen, wenn uns niemand mehr berühren darf?

Cornelia Caviglia: Tatsache ist, dass man das gar nicht wirklich weiss. Klar ist: Durch Berührungen – und ich benutze diesen Begriff synonym mit «gewollte Berührung» – schütten wir Glücks­hormone aus. Fallen diese Berührungen weg, schliesst man daraus, dass wir unglücklich werden. Dazu muss man aber sagen, dass diese These nicht wissenschaftlich untersucht ist. Es gibt zwar Beobachtungen, die zeigen, dass etwa Kinder schwere Störungen entwickeln, wenn sie nicht berührt werden. Aber es ist extrem schwierig, das Thema Berührung so isoliert anzuschauen.

Inwiefern?

Wenn wir unsere Freund*innen umarmen, dann ist das einerseits eine Berührung, klar – aber eben auch Kommunikation: Du gehörst dazu, wir haben dich gern und du bist Teil unserer Gruppe. Und es gibt Abstufungen: Die beste Freundin umarmen wir vielleicht etwas länger als alle anderen und ein simpler Handschlag bedeutet auf der kommunikativen Ebene wieder etwas anderes. Wenn wir uns also einsam fühlen, fehlt uns nicht unbedingt nur die Berührung, sondern allgemein die Interaktion mit anderen Menschen. Und das kann man wissenschaftlich kaum ethisch untersuchen: Man kann nicht einfach jemanden in ein Zimmer sperren, jeden Tag sehr nett begrüssen und sich mit der Person unterhalten, aber nicht berühren – und dann schauen, wie es dieser Person geht.

Trotzdem fehlt es gerade im Moment so vielen von uns, unsere Freund*innen zu umarmen – es macht uns traurig, dass wir uns körperlich distanzieren müssen. Warum spüren wir andere Menschen so gern?

Es gibt einerseits den physiologischen Aspekt, unser Tastsinn, der gefüttert werden will: Überall unter der Hautoberfläche haben wir Rezeptoren, die gerne berührt werden. Und es gibt den psychologischen Aspekt, der lässt sich nicht von sozialen Interaktionen trennen: Im Café zusammensitzen, zusammen tanzen. Den Tastsinn kann man füttern, ohne dass uns jemand anders berührt, das funktioniert neurologisch trotzdem: Man kann sich etwa selber über den Arm streichen, den Fuss massieren oder den Körper abklopfen, ein warmes Bad nehmen, das nützt alles. Aber nur, wenn man sich bewusst ist, dass man sich selber etwas Gutes tut. Und leider haben viele Leute Probleme damit, sich selbst auf diese Weise anzufassen.

Ich glaube, wir stehen uns beim Thema Berührungen oft ein bisschen selber im Weg.

Warum?

Weil es gesellschaftlich negativ konnotiert ist, wenn wir uns selber berühren «müssen». Es gilt als traurige Angelegenheit, alleine zuhause auf dem Sofa zu sitzen, niemanden zu haben, der einen berührt, und das deshalb selber zu machen. Dabei tut uns das gut. Wir können sogar mit Berührung unsere Heilung fördern, zum Beispiel nach einer Nervenschädigung. Damit arbeite ich als Therapeutin: Die Patient*innen fahren mit der Hand oder mit einer Bürste über den Teil des Körpers mit den geschädigten Nerven, wo sie weniger spüren, um den Tastsinn zu trainieren. Und das funktioniert auch! Ich glaube, wir stehen uns beim Thema Berührungen oft ein bisschen selber im Weg.

Wie meinen Sie das?

Weil wir Selbstberührung als weniger wertvoll an-
sehen. Und gerade in einer Zeit der Pandemie nutzen wir unseren Spielraum zu wenig aus. Das Virus überträgt sich nicht über die Haut, niemand sagt, dass wir gar keine anderen Menschen mehr berühren dürfen. Solange wir unsere Hände waschen und unsere Maske tragen, können wir uns theoretisch mit einer anderen Person zur Rückenmassage treffen. Ich finde es schade, dass das BAG – im Gegensatz etwa zu den Benelux-Ländern – überhaupt keine Empfehlungen diesbezüglich herausgibt.

Wir brauchen Körperkontakt und dieses Thema sollte eigentlich Teil der Coronastrategie eines Landes sein.

Was wären denn Corona-konforme Möglichkeiten, die gefahrlos umgesetzt werden können?

Im Rahmen der Recherche für mein Buchprojekt habe ich mit einem Hausarzt gesprochen und ihn gefragt, was er von den Empfehlungen in Belgien und Niederlanden hält. Und er gab grünes Licht. Die vom BAG empfohlene Beschränkung auf die Familie kann ja jeder für sich auslegen: Ich kann selber entscheiden, wer meine Familie ist. Es sollten einfach immer dieselben maximal vier Leute sein. Vielleicht sind es für die einen die besten Freundinnen oder ein Kreis, zu dem eben auch jemand zum Kuscheln gehört.

Das ist ein sehr schöner Gedanke.

Finde ich eben auch. Wir brauchen Körperkontakt und dieses Thema sollte eigentlich Teil der Coronastrategie eines Landes sein. Ich glaube, es war Belgien, das erlaubt hat: Jede Familie darf noch einen externen Kontakt haben, Singles sogar zwei.

Ich merke bei mir selber, dass ich seit Beginn der Pandemie kuschelbedürftiger geworden bin – allerdings lebe ich mit meinem Partner zusammen und bewege mich wohl in einer eher aufgeschlossenen Bubble, wo Berührungen schon vor der Pandemie wichtig waren.

Ihre Bubble wird zudem wohl eine eher junge sein. Nun stellen Sie sich vor, Sie bewegen sich in einem konservativ geprägten Umfeld, wo Berührungen schwieriger sind. Oder Männer, bei denen Zärtlichkeiten per se nicht erlaubt sind, weil sie als schwach oder schwul abgewertet werden.

Es gibt ein Phänomen, das nennt man «skin hunger»: Das körperliche Bedürfnis danach, endlich wieder berührt zu werden.

Stellen Sie in Ihrem beruflichen Alltag als Physiotherapeutin eine Veränderung bei Ihren Patient*innen fest?

Nein, nicht wirklich. Ich glaube aber, das hat damit zu tun, dass für ganz viele Leute Berührung schon vor der Pandemie wenig stattgefunden hat. Ich höre das oft, ehrlich gesagt. Bei Patient*innen, die ich schon länger betreue, spreche ich das auch an.

Was haben Sie aus diesen Gesprächen gelernt?

Vor einigen Jahren hat mir beispielsweise eine Frau erzählt, dass sie sich nicht daran erinnert, wann sie zum letzten Mal in den Arm genommen wurde. Und das war ja lange vor Corona. Darum denke ich, dass bei meinen Patientinnen die Auswirkungen von physical Distancing gar nicht so stark sind – weil das für viele keine neue Situation ist und weil sie Möglichkeiten haben, das zu kompensieren. Aber in Pflegeheimen zum Beispiel ist das eine andere Ausgangslage: Je nach Institution wird dort darauf geschaut, dass die Leute etwa im Rahmen einer Massage zu wohlwollenden Berührungen kommen – dafür muss die Heimleitung natürlich entsprechend sensibilisiert sein. Wo das nicht der Fall ist, sind Bewohnerinnen ohne Besuch für Berührung komplett von Pflege und Betreuung abhängig und da fehlt oft die Zeit.

Woran merken wir überhaupt, dass uns Berührungen fehlen?

Das kann sich zum Beispiel auf mentale Krankheiten auswirken. Menschen, die ihre Depression vor der Pandemie im Griff hatten, erleben plötzlich Rückfälle. Dann gibt es ein Phänomen, das nennt man «skin hunger»: Das körperliche Bedürfnis danach, endlich wieder berührt zu werden. Es kann auch sein, dass wir emotional instabiler werden und uns öfter streiten – und gleichzeitig nicht genau sagen können, was eigentlich mit uns los ist. Das herauszufinden ist schwierig, und je nachdem vermischen sich hier Bedürfnisse und gesellschaftliche Erwartungen miteinander.

Inwiefern?

Die romantische Paarbeziehung wird gesellschaftlich stark idealisiert, das kann Alleinstehenden das Gefühl vermitteln, versagt zu haben. Da steht zärtliche Berührung vielleicht gar nicht zuvorderst bei der Frage: Warum bin ich im Moment unglücklich? Oft kommt man gar nicht bis zu dem Punkt, an dem man feststellt, dass einem körperliche Zärtlichkeiten fehlen. Aber generell habe ich das Gefühl, Frauen können dieses Bedürfnis eher stillen – indem sie ihre Freund*innen mehr umarmen, wenn es möglich ist, zum Beispiel.

Und die Männer?

Es fällt vielen Männern aufgrund von starren Geschlechterrollen schwer, ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit ausserhalb einer romantischen Paarbeziehung zu formulieren.

Was bedeutet die Pandemie für Menschen, die alleine leben und schon vor der Pandemie Mühe haben, jemanden kennenzulernen, jemandem näher zu kommen?

Ich habe den Eindruck, dass die Pandemie für viele auch etwas den Druck rausnimmt. Man muss nicht immer alle küssen oder umarmen, man muss nicht immer unter die Leute, und es ist plötzlich voll ok, Leute online kennenzulernen oder sich beim Kennenlernen Zeit zu lassen.

Miriam Suter (*1988) ist freie Journalistin. Sie schreibt vor allem über Feminismus und soziale Anliegen, unter anderem für die WOZ, das Surprise Strassenmagazin und Das Lamm.

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