Dunkelheit, Schweigen, mystische Melodien – passt das in eine Kindervorstellung? «Primo» von Felipe Gonzàlez und Alfredo Zinola tischt seinem jungen Publikum keine fertige Geschichte auf. Mit Bewegung, Lichtspielen, Empathie und Fantasie schafft die Unterwasser-Tanzperformance eine Umgebung, in der ein Kind selbst entscheiden darf, wohin es seine Vorstellungskraft führt. Ein Einblick in die Gedankenwelt des Tänzers und Choreografen Alfredo Zinola.

 

Fabrikzeitung: Ein Pool als Bühne, darum herum sitzen die Kinder – ein ungewöhnliches Bild. Wie ist diese Idee entstanden?

Alfredo Zinola: Felipe hat zehn Gedichte über die Schwangerschaft geschrieben, für jeden Monat eines. Und er wollte ein Stück für Kinder machen, wo sie stehen können. Da kam uns die Idee mit dem Schwimmbecken. Durch die Tanzkunst und das Wasser sollten Vorstellungen in den Köpfen der Kinder erweckt werden. Wir fragten uns, wie kriegen wir die Poesie mit den Elementen des Tanzes: Körper, Bewegung, Kontakt zusammen? Schlussendlich lösten wir uns vom Thema Mutterschaft und den Gedichten. Ich kann nicht sagen, was davon im Stück noch zu erkennen ist.

«Primo» ist für Kinder von zwei bis fünf Jahren gemacht. Eine sehr präzise Angabe…

Zweijährige sind teilweise noch dabei zu lernen, wie sie ihren ganzen Körper nutzen und aufrecht stehen können. «Primo» soll ihnen die Möglichkeit geben, das zu entdecken. Fünf haben wir gewählt, weil sie in diesem Alter noch nicht zur Schule gehen. Mit Menschen, die so jung sind, wird auf einem anderen Niveau kommuniziert. Vielleicht auch auf anderen Ebenen. Das gibt uns als Künstler die Möglichkeit, freier zu kreiern: Wir wollen abstrakte Formen vom Körper zeigen, aber wie geht das, ohne dass es langweilig wird? Unserer Erfahrung nach sind bis Fünfjährige von Abstraktem leichter zu begeistern. Das ist für uns superschön zu sehen, das ist echt!

Und wie reagieren die Kinder bisher auf euren Unterwasser-Tanz?

Sie hocken sich vor die gewölbten Scheiben, berühren sie mit den Händen, den Mündern, drücken ihre Stirn dagegen. So können sie selber ihre Perspektive finden.

Was macht ihr mit dem Element Wasser?

Es bietet mehrere Spiele: Wasser vergrössert Objekte, mit Licht wechseln wir seine Farbe, lassen gelbe Kugeln hinein fallen, die wirbelt es herum. Zu Beginn strecken wir die Arme bis zu den Ellenbogen ins Wasser. Wegen der Spiegelung ist der Rest des Körpers nicht sichtbar. Ist das eine Hand? Ein Schmetterling? Mein Wunsch ist, dass sich die Zuschauer während der ganzen Performance fragen: Was ist das?

Warum ist euch das wichtig?

Wir möchten dem Genre der Kindervorstellungen einen anderen Blick geben. Eine andere Art der Kunst zeigen. Es geht nicht darum, sich zu setzen und etwas vorgesetzt zu bekommen: Okay, hört zu, es gibt Prinzessinnen, die sind rosa und es gibt viele Könige auf der Welt. Wir schlagen eine Ästhetik vor, die für gewöhnlich für Kinder nicht erwartet wird.

Was soll mit den Kindern nach der Vorstellung passieren? Was wollt ihr auslösen?

Was sie danach kreieren – da kann ich nur für mich sprechen – sollten Fragen sein. Ich glaube eine Rolle, die die zeitgenössische Kunst hat, ist, dass die Zuschauer sich Fragen stellen. Es ist eine Art zu verstehen und unterschiedliche Interpretationen auf etwas zu geben.

Welche Erfahrungen habt ihr damit auf eurer Tour gemacht?

Es gibt einen Moment am Ende, mit Figuren, die sich drehen. Die Älteren erkennen darin vielleicht «the creation of the world», die Entstehung der Welt, das grosse Ganze. Ein Mädchen hat hingegen mal gerufen: «Ah, die haben gekackt!»

Wie beeinflussen die Musik und das Licht die Vorstellung?

Die Musik fängt an zu spielen, bevor die Zuschauer den Raum betreten. Sie ist immer präsent, es ist ein langer Track, der erst endet, nachdem alle gegangen sind. Ab dem Moment, wo das Publikum den Raum betritt, betritt es eine andere Welt. Eine, in der man sich beruhigen und mit seinen eigenen Gedanken woanders hingehen kann.

Kam es schon vor, dass sich Kinder unwohl fühlten oder Angst hatten?

Nein, deshalb ist die Umgebung so wichtig. Unser Ziel ist es, dass das Publikum und die Performance eins werden. Kindervorstellungen kennen viele Tabus. Bei «Primo» entwickelt sich die Musik mit der Performance, es gibt keine Schreckensmomente. Töne oder die Finsternis an sich sind nicht per se unheimlich. Vielmehr das, was wir damit in Verbindung bringen.

Traut ihr den Kindern mehr zu als den Eltern?

Eltern und Kind kommen zusammen – das ist ein Konzept, das wir seit jeher leben. Die Kinder wissen dann, dass die Eltern sich um sie kümmern. Wir laden sie ein, sich das Stück mit ihren Kindern zusammen anzuschauen. Es ist sehr schön, wenn sie mitmachen. Dann lehnen sie über ihre Kinder und schauen gemeinsam durch die Scheibe.

Oft kommt es vor, dass die ihr Handy zücken und sich während der Vorstellung zurücklehnen. Vielleicht, weil sie es so gewohnt sind von Besuchen traditioneller Stücke. Aber Felipe und ich sind ganz nah, wir sehen alles!

Wie reagieren die Eltern auf euch?

Erwachsene haben eine andere Beziehung zu unserer Kunst. Einige hätten gern, dass alles spielerischer wäre. Manche sind überrascht zu sehen, wie sich ihre Tochter oder ihr Sohn von der Performance mitreissen lassen. Andere lassen sich selber auf das Stück ein. Da ist es schon passiert, dass sie nach der Vorstellung rauskommen und ein bisschen weinen.

Was glaubst du, woran liegt das?

Es sind über 7000 Liter Wasser. Das ist eine Menge! Eine Frau zum Beispiel in Australien hatte gerade einen Freund im Meer verloren. Oder einmal haben wir gespielt, kurz nachdem das Foto von dem toten Jungen am Strand kursierte. Wir erzählen keine Geschichte, die Sachen kommen aus dem Inneren der Zuschauer heraus. Jeder sieht etwas anderes. Deshalb warten wir nach dem Ende der Vorstellung am Ausgang. Wir warten, falls jemand etwas sagen möchte, teilen möchte, uns umarmen möchte. Manchmal kommt das vor.

Seit 2013 seid ihr mit «Primo» in mehr als zehn verschiedenen Ländern auf Tour. Wie hat sich das Stück seither verändert?

Unser Vertrauen hat sich verändert. «Primo» ist unser erstes grosses Projekt. Wir waren sehr schüchtern. Haben uns gefragt: Wird das funktionieren mit den Kindern? Und haben gelernt, dass wir dem Publikum viel mehr vertrauen dürfen. Ich habe das Gefühl, sie haben denselben Respekt wie wir.

Hast du selbst Kinder?

(Lacht.) Nein, noch nicht. Ich bin Italiener, wir warten noch darauf, dass Schwule Kinder haben dürfen. Das ist noch nicht der Fall, aber in Zukunft, vielleicht, gern!

Was planst du als nächstes?

Ich möchte ein neues Stück machen mit dem Namen «Party». Hoffentlich wieder mit Felipe zusammen. In der Beschreibung unserer Vorstellung schreiben wir immer „mit Tanz“. Da passiert es oft, dass die Kinder im Tütü kommen und selber tanzen wollen. Also sagte ich mir: Okay, machen wir ein Projekt, wo ihr mitmachen könnt. Wir tanzen jetzt zusammen.

 

«Primo spielt» am Kindersonntag des 20. März um 11 und 14 Uhr im Fabriktheater.

Sandra Schudel ist Assistentin der Künstlerischen Leitung Fabriktheater.

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