(Ausschnitte)

1

Bist du aus Milch? Hat einer mich gefragt.
Bist du wirklich, oder habe ich mir dich gewünscht? Erfunden? Sitze ich mit dem Wunsch?

Ich bin Ruth, sage ich, ich bin wirklich.

Ich habe ein Buch, in dem die Menschen vermerkt sind, die etwas in mir getan haben. Es sind alle darin, die ich einmal mitgenommen habe in meine Wohnung und auch die, die ungefragt mitgekommen sind.

2

Ich habe tausend Fläschchen mit Öl und reibe mich jeden Tag ein. Ich konserviere mich.

Die Menschen kommen zu mir. Ich schliesse die Tür ab, aber sie sind doch alle da. Sie sitzen auf meinem Sessel, sitzen an meinem Tisch, stehen in meiner Küche, liegen mit mir im Bett. Sie sind alle da, mit ihren müden Gesichtern, den Kindern an ihren müden Händen, mit ihren Tüten und Akten und Koffern, den fahlen Gesichtern, den Augen, die nicht mehr sehen, die mich nicht sehen, wie kann man mich nicht sehen, wie krank und arm und voller Sorgen muss man sein, um mich nicht zu sehen.

3

Manchmal schaue ich den redenden Menschen zu, mein Blick geht durch sie hindurch, als wären sie ein offenes Fenster, vor dem Fenster eine Landschaft, und ich betrachte die Landschaft und denke, lieber Gott, ich möchte nie alt werden. Ich kann nicht alt werden, lieber Gott, ich habe nichts ausser meinem Mund, seine Sinnlichkeit, ohne ihn, wenn er trocken ist, dann bin ich nichts mehr, dann werde ich unsichtbar sein. Lieber Gott, ich will keine Wüste werden, nicht unsichtbar, keine Sandsteinhaut bekommen, ich möchte nicht verderben, nicht nach alten Keksen riechen. Lieber Gott, mach, dass ich in meinem Körper bleiben kann.

4

Ein alter Mann mit Augen aus grauem Glas. Er sitzt neben mir, Sonnenschirme rot, Stühle bequem, geflochtene Sitzflächen, Kellner weiss und schwarz, alles sehr elegant, auch ich, auch der Herr, der mich nach dem Geschmack des Kuchens fragt. Er schmecke den Kuchen nicht, sagt er, aber er habe Kuchen immer geliebt und auch seine Frau habe Kuchen geliebt, die sei gestorben und er schmecke jetzt nichts mehr, rein gar nicht mehr. Das sei kein lebenswertes Leben, so ein Leben ohne Geschmack, ohne Geschmack des Kuchens, ohne Geruch der Strasse. Es sei doch Mandelkuchen? Das stimme doch?

Und ich sage, ja mein Herr, das stimmt. Er schmeckt nach Mandel, nach Honig, sage ich und streichle dem Mann den Kopf mit meinem Blick.

Er habe seine Frau so geliebt, sagt er, dass er nie länger als einen Tag ohne sie hätte sein können. Sie jedoch habe kein Problem gehabt, von ihm weg zu sein, und das habe aber nicht bedeutet, dass sie ihn weniger geliebt habe, nein, es sei einfach eine andere Liebe gewesen, oder sie habe anders damit umgehen können.

Und ich frage mich, was das mit dem Kuchen zu tun haben kann. Und ich versuche mich zu erinnern, was er gesagt hat. Das bessere Leben findet in der Erinnerung statt. Das stimmt doch nicht, denke ich, das ist ein Blödsinn alter Mann. Das Leben ist jetzt.

Aber auch seine Liebe sei, sie habe das zumindest immer wieder deutlich gesagt, für seine Frau keine Bedrängung gewesen, sagt er. Sie habe immer, immer nach Rosenwasser gerochen. Seine Frau sei aus Rosenwasser gewesen und Sand, nach heissem Sand habe sie gerochen. Nun gehe er manchmal zum Spielplatz, lege sich mit dem Gesicht in den Sandkasten und dann weine er, er weine stundenlang. Sie sei jetzt immer bei ihm, sie sei nie weg. Sie sei mitten in ihm. Diese Bilder, die Geschichten, die Lebendigkeit, es sei alles viel intensiver und leichter, voller, lustvoller, als es damals gewesen sei, als sie noch da war. Manchmal sei es schwer gewesen, sagt er, als sie noch war, weil sie so still und trocken gewesen sei. Sie sei wie der Sand gewesen, nicht nur der Geruch, auch die Trockenheit, auch das Geräusch von Sand habe sie in sich gehabt, die Lebensfreude von Sand habe sie gehabt, und nun, wenn er an sie denke, dann sei es nicht mehr trocken und nicht mehr unangenehm, das Geräusch der Sandes, seiner Frau, dann sei es eine weiche liebevolle, lustvolle Erinnerung. Ob ich ein Stück Kuchen wolle, fragt er mich und, ob ich auch so lieben könne wie er. Er sei ein ausgezeichneter Liebender gewesen, oder immer noch, das könne er nicht sagen, das müsste er ausprobieren. Aber da er jetzt nicht mehr schmecken könne, werde vielleicht auch das mit dem Lieben schwieriger, er wisse es nicht, er lebe gerne in Erinnerungen, denn in der Erinnerung, da schmecke der Kuchen noch immer nach Nuss.

Lieber Herr, mein Name ist Ruth, sage ich und küsse seine Stirn. Er schaut mich mit an. Die Flecken küsse ich an seiner Stirn, lege meinen Oberkörper an ihn. Er riecht nach sehr altem Gebäck, nach den Keksen meiner Grossmutter. Seine Haare, die ihm aus dem Kopf wachsen, scheinen nach und nach zu fallen, davongetragen zu werden, vom Wind. Bis auch er irgendwann so leicht sein wird, denke ich, und fortgetragen. Ich küsse ihn und er streichelt meine Hüfte, dann laufe ich mit seinem Blick an meinem Körper davon.

5

Manchmal falle ich in mich hinein, als wäre ich kein Mensch, vielmehr ein Brunnen, bleibe unten im eigenen kniehohem Wasser liegen, auf mir ein kleines Stück vom Mondschein.

6

Ein junger Mann tritt ein, schliesst die Tür hinter sich und wird zur Echse. Er riecht nach Kies. Er hängt seinen Mantel an den goldenen Haken, als wäre der Mantel seine Haut, die er ablegen muss, um mit mir zu sein. Dann zieht er seine Socken aus, die Hose, das Hemd, die Unterhose, das Unterhemd. Die Schuhe liess er vor der Tür.

Ich bin hier, sagt er und macht Echsenbewegungen an meinem Bettrand.
Ich liege unter der weissen Decke, ich berühre mich unter der weissen Decke. Er kommt zu mir in mein Bett, macht Echsenbewegungen unter der Decke.

Bist du hier?, fragt er mich.
Ich bin hier, sage ich, lege meine Hände auf seine schuppige, leicht feuchte Haut.

Er nimmt seine Haut vom Haken, legt einen Schein auf den Tisch.

Beim Gehen ist er wieder Mensch geworden.

7

Ich werde nie weniger. Ich messe mich ab. Ich wiege jeden Teil von mir und zähle alle Punkte auf mir. Ich habe 57 Muttermale. Ich habe fünf Narben. Ich habe im Auge ein Fleck. Ich habe einen Leberfleck am Augenrand. Er ist verwässert und hellbraun. Ich habe Linien in den Handinnenflächen. Ich habe reine Haut. Ich habe eine weitere Brustwarze unter der linken Brust. Ich habe Haare, die mir ausfallen, die nachwachsen, das merkt man nicht.

Ich habe ihn in das Buch eingetragen. Die Echse.

8

Alter Mann, sage ich, ich bin es Ruth, ich wollte Sie nach der Liebe fragen.
Seine grauen Glasaugen sind geschlossen.
Wer sind Sie, fragt ein Herr.
Ich bin Ruth, sage ich.
Und was wollen Sie?
Ich wollte ihn fragen, wie das mit der Liebe ist.
Sie können draussen warten, sagt der Herr.

Ich setze mich in den Flur, schaue an die weissen Wände, rieche die Medizin, der Boden glänzt, die weichen Sohlen auf ihm. Ab und zu eine Dame mit sehr grossen Brüsten und barfuss im Flur und hinten ist ihr Kittel offen. Da ist ein faltiger Po zu sehen und ein Rücken, der nach unten läuft. Die Dame ist eine Kerze. Sie ist oben abgebrannt und unten läuft das Wachs hinab.

Alter Mann, Sie schlafen immer noch. Ich kann nicht warten. Lieber Mann, ich bin es, Ruth. Da öffnet er die Augen, die grauen Glasaugen und er schaut mich an.

Na, was ist denn das?
Ich bin es, sage ich, Ruth.
Du bist ein schönes Kind.
Erinnern Sie sich an mich?
Ja, sagt er. Bestimmt gleich wieder.
Sie haben mir von Ihrer Frau erzählt.

Meine Frau, sagt er. Meine Frau ist tot. Sie war so still und so trocken, sie war nicht wie Sie sind, Sie sind lebendig. Meine Frau ist in meinen Gedanken lebendiger, als sie es war, als sie lebte. Als meine Frau noch lebte, war sie bereits tot. Sie war voller Trauer. Sie war so traurig, dass sie ganz schwer war, alles war voller Tränen, das ganze Haus war voller Tränen, ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich bin fortgegangen von ihr. Als ich wiederkam, war alles genau so, wie ich es verlassen hatte. Sie sass am Fenster und zeichnete. Sie zeichnete diese Figuren, diese vollen, sinnlichen Frauenkörper. Sie lächelte und sagte, wo warst du denn? Sie sass noch immer am Fenster, dabei war ich zwei Tage fort gewesen. Ich war herumgegangen, hatte getrunken, habe gestunken. Sie hat nichts gesagt, wegen dem Trinken, dem Gestank, als ich wiederkam, sass da am Fenster, die Vorhänge, die schweren weissen Vorhänge. Sie sass da in ihrem immer gleichen Hemd, immer diese Hose. Immer diese Socken, immer diese Haare, die ihr schön und lang und weich über die Schultern fielen, und der Raum, das ganze Haus war dunkel, roch nach ihr, ihrer Trockenheit, nach Sand, nach Trauer, nach Stille.

Ich lege meine Hand auf seine Brust und er schaut mich an. Ich kann nicht sagen, wie viel von mir er sehen kann. Ich lege meine Hand unter die schwere, weisse Decke, lege sie unter sein Hemd, auf seine Brust.

Ich kann nicht mehr schmecken, nicht gehen, sagt er, ich habe sie umarmt, bin zu ihr ans Fenster gegangen, als sie schlief. Ich bin zu ihr hingegangen und habe sie so lange umarmt und geküsst, bis sie nicht mehr geatmet hat.

Ich will einschlafen und meine Frau wiedersehen, sagt er. Ich will sie fragen, ob es schlimm war mit mir, ob sie deswegen geschwiegen hat, ob sie meinetwegen gegangen ist.

Ich lege meinen Mund auf den Mund des alten Mannes. Ein trockener, schmaler Mund. Ich atme nicht, denn der faulige Geruch. Ich lege meine weichen Lippen auf seine, bedecke mit meinem Haar sein Gesicht. Ich lege eine Hand auf seine Augen und seine Nase. Er atmet schwer, er atmet und ich küsse ihn und er versucht zu atmen und schläft ein.

Die Frau aus Wachs zerläuft vor mir. Ich sitze auf der Bank im Flur. Sie holt sich eine Cola am Automaten. Dann sieht sie mich zum ersten Mal.
Wer sind Sie?
Sie zerläuft auf dem Weg in ihr Zimmer, aus der offenen Türe das Licht des Fernsehers.

Sie sind ja immer noch hier, sagt der Herr.

Er geht in das Zimmer hinein, macht Licht.

Ich gehe fort, hinter mir eilt der Herr zum Telefon.

9

Eine Frau kommt herein, wird zum Fisch. Sie legt sich neben mich, ihre Fischhaut berührt meine Haut. Sie hat ein wunderbares Becken, ganz weit ist ihr Becken, man könnte darauf ein Picknick veranstalten, auf ihrem Becken. Es ist wunderbar. Sie bewegt sich in meinen Händen und ihre Haut ist feucht und glatt. Sie singt, wenn ich sie berühre, wenn ich sie zwischen den Beinen berühre, dann beginnt sie zu singen. Immer lauter, höher und schöner singt sie, bis sie schreit. Ihren Namen kenne ich nicht, aber ich kenne ihre Bewegungen in meinen Händen, das Glitzern ihrer Haut. Sie ist mein Fisch.

10

Sie liegt in meinem Bett. Sie hat meine Decke um ihren Körper gelegt, an der Seite schaut das Becken hervor, wie ein Felsen aus der Wolkendecke. Die Frau als Fisch hat weisses Haar, hellrosa Haut. Ihre grossen Füsse, die Flossen werden.

Ich liebe deine Haut, sagt sie zu mir. Ruth, wie machst du das? Wie haben alle diese Menschen Platz in deinem Leben?
Ich trage sie in mein Buch ein, sage ich. Du stehst darin auch.

Ich habe eigentlich nichts ausser dir, sagt die Frau und wie sie das sagt, beginnt ihre Haut dunkler zu werden.
Ich habe ein Haus am Rand der Stadt, eine Strasse, die dorthin führt. In diesem Moment spielt mein kleinstes Kind im Garten, meine Mutter schaut nach ihm.
Es ist mitten in der Nacht, sage ich, das kann nicht sein, du bist mitten in der Nacht zu mir gekommen.
Ihre Haut wird matt.

Das Haus ist ein normales Haus, sagt sie, ganz normal. Es hat Wände, Türen, Fenster, ein Dach. Es ist ein Haus am Rand der Stadt. Die Kinder lieben den Garten, sie lieben den Hund. Ich liebe die Kinder, sagt die Frau als Fisch in meinem Bett. Weisst du Ruth, es gibt nichts Schöneres, als diese Kinder, es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Aber manchmal, manchmal bin ich allein.

Das bin ich auch, sage ich.

Aber es ist ein anderes Alleinsein, wenn man nicht allein ist, wenn man nicht allein sein darf. Ich habe doch meine Kinder und einen Mann und ein Haus am Rand der Stadt. Ich habe doch einen Garten und Gemüse im Garten, ich habe doch eine Arbeit, die mir gefällt, die gut bezahlt ist, ich habe Freizeit, Urlaub, Hobbys. Ich habe Freundinnen, die ich treffen kann und mit denen ich reden kann, über meine Kinder und meinen Mann und die Arbeit, den Garten, den Urlaub, die Freizeit, die Hobbys. Ich habe ja alles, warum brauche ich dich und warum habe ich das Gefühl, wenn ich bei dir bin, dann bin ich mehr, dann wird mehr aus mir.
Hier bist du ein Fisch, sage ich. Der Fisch hat keine Kinder, keinen Garten, keine Arbeit, keinen Mann, keine Freundinnen, keinen Urlaub, keine Freizeit und keine Hobbys. Der Fisch schwimmt im Gewässer, mein Bett ist dein Gewässer, wenn du ein Fisch bist.

Die Frau als Fisch schliesst die Augen.

Sie sagt, sie sei nachhause gekommen und da habe kein Licht gebrannt. Sie sei so spät gekommen, weil sie in der Arbeit ein Projekt hätte beenden müssen, sie hätten die Pläne für ein Haus abgeben müssen, sie hätten bis spät in die Nacht gearbeitet, aber auch gelacht, das hätten sie auch, sie möge dieses Arbeiten bis spät in die Nacht hinein. Sie sei dann nach einem Bier heim gefahren, die anderen seien noch geblieben, hätten sie gebeten auf noch ein Bier zu bleiben, man müsse das doch feiern, hätten sie gesagt, sie hätte kurz gezögert, hätte dann aber an die Kinder gedacht und den morgigen Tag, die anderen hätten das verstanden und die Familie grüssen lassen, sie sei also heimgefahren, habe das Auto in der Auffahrt geparkt, sei ins Haus gekommen, das im Dunkeln lag, der Hund sei erwacht und sie habe ihn gestreichelt und beruhigt, wieder zurück in den Korb geschickt, sie habe kein Licht gemacht, sie sei die Treppen hoch gegangen, habe ihren Mann im Bett betrachtet, dann sei sie zu den Kindern gegangen, leise ins Kinderzimmer geschlichen, sie habe die Kinder im Bett liegen sehen und sie habe sich in dem Moment gedacht, wenn sie jetzt das Kissen auf diese Gesichter drücken würde, auf das der Kinder, dann wäre alles anders, dann wäre alles sofort anders als es vorher war, und sie sei so sehr erschrocken ab diesem Gedanken, dass sie hinaus gerannt sei, in die Nacht hinein und in den Wald hinein und sie sei gerannt und gerannt und alles habe ihr sehr weh getan, die Steine, die Wurzeln, die Äste an den Armen und im Gesicht und den Füssen, nun sei sie hier.

11

Die Frau als Fisch tanzt für mich.

Die Frau als Fisch tanzt für mich. Sie ist weiss, ihre Haut schimmert rosa. Sie gleitet durch den Raum.

Die Fischfrau zieht sich langsam an und weint, sie wird zur Frau, sie geht auf kaputten Füssen hinaus in die Dunkelheit.

Julia Weber gründete 2012 den Literaturdienst (literaturdienst.ch) und 2015 gemeinsam mit Gianna Molinari die Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erschien ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich.
Ruth ist ein kunstseidenes Mädchen ins Heute geholt.

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