«Das war gestern abend so um zwölf, da fühlte ich, dass etwas Grossartiges in mir vorging.» Das war vor zwei Jahren, im letzten Zug von Zürich nach Basel – ich las diesen ersten Satz im ‹Kunstseidenen Mädchen› von Irmgard Keun – da fühlte ich, dass etwas Grossartiges in meinen Händen war. Und nach einer Seite
Das Leben in der Hand halten
Irmgard Keuns ‹Gilgi – eine von uns› «Aus dieser Frau kann einmal etwas werden», schreibt, deutlich paternalistisch, Kurt Tucholsky 1932 zur Veröffentlichung von Irmgard Keuns Debütroman ‹Gilgi – eine von uns›. Er findet Lob, allerdings nur für den ersten Teil des Romans, denn: «Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief». Das
Der Auszug der Stenotypistin
Irmgard Keuns Plagiat – eine Geschichte aus dem Jahr 1932 Die Berichterstattung aus dem Literaturbetrieb kennt kaum etwas Ermüdenderes als Plagiatsdebatten – und vermutlich nichts Ermüdenderes als die Wiedervorlage von Plagiatsdebatten, die von allen Beteiligten seit einem halben Jahrhundert zu den Akten gelegt sind. Das gilt zumindest so lange, wie man als Ziel solcher Debatten
Ruth
(Ausschnitte) 1 Bist du aus Milch? Hat einer mich gefragt. Bist du wirklich, oder habe ich mir dich gewünscht? Erfunden? Sitze ich mit dem Wunsch? Ich bin Ruth, sage ich, ich bin wirklich. Ich habe ein Buch, in dem die Menschen vermerkt sind, die etwas in mir getan haben. Es sind alle darin, die ich
Das Erlebnishotel der berechtigterweise totgeborenen Wunschvorstellungen
Manche Menschen fühlen sich zu großen Gefühlen berechtigt und im Stande, aber ihnen fehlen die Anlässe. Und wenn diese Art von Anlässen, von wichtigen und bedeutenden, einen selbst betreffenden Ereignissen ausbleibt, entsteht daraus bei manchen Menschen ein höchst unangenehmer Druck. Oder eine Leere, ein Ziehen im Kiefer, ein taubes Gefühl im unteren Teil der Mundhöhle
Portrait des Künstlers als junge Frau
Sie knüpft ein hellgelbes Seidentuch in einer Schleife um den Hals, rollt mit flinken Fingern eine Zigarette. Die dünnen Beine stecken in Anzugshosen, ein weisses Hemd darüber. Vorsichtig lässt sie das schwarze Federcape vom Kleiderbügel gleiten und schlingt es um ihren Körper, betrachtet sich prüfend im Spiegel. Die Federn machen ein Leuchten an ihr, eine
Gender und Macht bei Irmgard Keun
Irmgard Keun zeigt im Laufe ihres literarischen Schaffens ein ständiges Engagement mit der zeitgenössischen Realität Deutschlands. Zeichen dessen ist die Platzierung der Romanfiktion in dieser unmittelbaren historischen Zeit, welche aus einer kritischen Perspektive heraus betrachtet wird, zwecks des Abbaus von Herrschaftssystemen. Bereits die ersten Romane ‹Gilgi – eine von uns› (1931) und ‹Das kunstseidene Mädchen›
Die Romanschule
Eine Satire über das Schreiben in finsteren Zeiten. Erst 2016 tauchte sie auf: Eine verschollene Geschichte, betitelt «Die Romanschule. Unerhört spannender Kriminal-Roman von: Irmgard Keun». Keun hatte einen Auszug davon 1935 an Arnold Strauss, ihren wenig später in die USA emigrierten Geliebten geschickt. Aus dessen Nachlass sind die Seiten offenbar in das Archiv der Dominion