Bereits um sechs begannen die Sterne zu glühen. Knapp über dem Horizont stand der grosse Wagen auf dem Kopf. Der Bootsführer hatte uns gezeigt, wo wir unser Zelt platzieren konnten, ohne von der Flut überrascht zu werden. Dann hatter er sich bis zum nächsten Morgen verabschiedet. Joel und ich – wir verblieben allein auf der kleinen Insel im pazifischen Ozean, schnorchelten in der Bucht über nie gesehene Riesenmuscheln, vorbei an Fischen, die farbig funkelten. Legten uns nach Sonnenuntergang auf die Terrasse eines leerstehenden Häuschens, das das einzige Gebäude auf der Insel war, entdeckten beim Pinkeln vom Felsen leuchtende Punkte im Wasser – waren es Quallen? Oktopusse? Fische? – und schauten in die Sterne und einem Lichtlein nach, das nicht weit von uns vom Himmel zu fallen schien. Ich hatte meinen Kopf auf seine Brust gelegt, deren Senken und Heben sich langsam beruhigte; das Pochen hinter den starken und doch so weichen Rippen. Er strich mir durchs Haar und über die Lippen, der Stein der Terrasse wärmte von unten, die Luft war mild und sanft, der Himmel weit, unendlich und doch ein beschützendes Himmelszelt. «Entweder gibt es da irgendwo noch anderes Leben», dachte ich laut nach, nachdem wir eine Weile so dagelegen hatten; ich zeigte zu den Sternen, zur leuchtend weissen Milchstrasse, «oder es muss Gott geben»; so schien es mir, wie ich nicht einmal Angst spürte, mit meinem Freund allein irgendwo im pazifischen Ozean, wie die Welt, wie das All, wie alles in sich aufging. «Nein», sagte er aus seinen Gedanken gerissen, «das erklärt keinen Gott.» Er ereiferte sich. Nein, Gott und Leben auf unserem Planeten, da sehe er rein gar keinen Zusammenhang, das könne ich jetzt sicher nicht behaupten, sicherlich nicht von dem Einen einfach auf das Andere schliessen.
Die Szene beruhe auf wahren Gegebenheit, würde im Film hier stehen. Nur wenige Monate sind seit der Reise auf die Philippinen vergangen. Joel und ich: Wir sind seit drei Jahren ein Paar. Aber vielleicht versteht man besser, wer wir, wer diese beiden Menschen sind, wenn ich die Szene anhänge, die der Nacht auf der Insel voranging.
Ein Boot, schnittig wie ein Rennkajak, hatte uns auf die kleine Insel gebracht. Das sonore Röhren des Motors wurde von Zeit zu Zeit durch einen Knall unterbrochen. Fehlzündungen seien das, sagte Joel: «Der Bootsführer drosselt die Geschwindigkeit, der Motor kommt aus dem Takt, zu viel Benzin-Luftgemisch verbleibt im Kolben und explodiert knallend im offenen Auspuff.» Ich nickte, weil ich gefragt hatte und hielt die Hand ins Wasser: Warm war er, der pazifische Ozean. «Ja, angenehm zum Baden», sagte ich zu Joel, der mich fragend anschaute. Wir beide, wir ticken ziemlich anders. Zumindest im Kopf.
Als ich diesen Text zu schreiben begann, verbrachten wir einige Tage in der Bretagne. Wir liefen über den vom abebbenden Meer eben erst verlassenen Strand und schauten in die Weite, die ich zum Schreiben oft suche. «Ist das nicht schön?», sagte ich zu ihm, wie mich die Sehnsucht packte, wie ich bei einem Häuschen, das mit «à louer» beschriftet war, von der Möglichkeit zu schwärmen begann, darin zu wohnen, wenigstens einen Urlaub lang, das Meer zu beobachten, wie es sich auf und davon machte und mit Wucht zurückkehrte, dass es über die Ufermauern spritzte. Er stieg nicht ein auf mein Fabulieren, überlegte, bevor er schliesslich sagte: «Irgendwie ist für mich das Meer nur Sehnsucht. Vielleicht ist es schön anzuschauen, aber ich will dann doch nicht darin eintauchen. Zum Beispiel», er dachte nach, wir passierten einen Strandkiosk, «das ist vielleicht nicht der beste Vergleich, aber: Ein Schoggiglacé mit Rahmhut gefällt mir besser. Es ist schön anzuschauen und man kann es mit Genuss verspeisen.»
«Glaube ist nicht mehr als Selbstschutz, speziell für Leute mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten.»
Ganz ähnlich argumentierte Joel, als das Gespräch auf diesen Text hier fiel, als wir über Religion zu sprechen anfingen. Joel erwartete einen klar erkennbaren Nutzen, Eindeutigkeit, Erklärungen genauso wie für das Knallen von Motoren. Er sagte Dinge wie: «Glaube ist nicht mehr als Selbstschutz, speziell für Leute mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten.» Oder: «Religion dient Mächtigen zur Unterdrückung und Manipulation der Massen. Von der Kirche wollen wir erst gar nicht zu reden anfangen; den Kriegen, dem Mittelalter…» Dinge, die ich nicht in Abrede stellen kann. Aber auch Dinge, die nicht treffen, was Religiosität mir bedeutet. Es geht mir nicht um Glaubenssätze, die vorgeben Wissen zu sein; ich will keine Aussage darüber machen, wie die Erde entstanden ist, ob Adam und Eva gelebt hatten; keinen Fundamentalismus betreiben, sondern… ja, sondern?
Als ich ein Kind war, sass mein Vater oft in der ungeheizten Veranda unserer Wohnung und blätterte in mehreren dicken Bibeln, strich mit Farbstiften Sätze an, tippte auf einem grauen Computer – auf dem wir lieber Ping Pong gespielt hätten – unermesslich lange Texte und schickte uns zurück in die Wohnung, weil er Ruhe brauche. Er studierte Theologie, und auch mich führte mein erstes Studium an die theologische Fakultät, und auch in meinem Bücherregal kamen mehrere Bibeln zu stehen. «Bibeln?» Ich sehe meinen Freund förmlich vor mir, wie er den Kopf schüttelt: «Ein Buch voller Hirngespinste ungebildeter Neanderthaler.» Nicht, dass ich die Bibeln oft aufschlagen würde, aber zu wissen, dass ich es jederzeit tun könnte, dass dieser Schatz an Geschichten von jahrtausendealten Lebenserfahrungen auf mich wartet – irgendwie gefällt mir das so sehr, dass ich sie mit Leidenschaft gegen seine Angriffe verteidigen würde. Ich würde die etablierte theologische Praxis der historisch-kritischen Auslegung ins Feld führen – «wer hat was aus welcher Motivation niedergeschrieben? Gibt es weitere Quellen, die die Fakten bestätigen?» – aber er liesse sich nicht überzeugen. Und vielleicht nicht ohne Grund; ich argumentierte falsch. Es sind nicht die (vermeintlichen) Fakten, die mich an Religion faszinieren, die mich berühren. Viel zu sehr bin ich mir bewusst, wie gefährlich es wird, wenn Sätze aus der Bibel zur Wahrheit erkoren werden. Ich würde ihm in einer falschen Sprache antworten, in einer Sprache des Wissens, der Wissenschaften, einer Sprache der Kausalität, der Kosten-Nutzen-Rechnungen, der Effizenz – in einer Sprache der Rationalität. Aber Religiosität, meint sie nicht gerade das andere, das Irrationale, das Unfassbare?
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich in ‹Koala› von Lukas Bärfuss auf eine Passage gestossen war, die mir besonders gefiel. Er schreibt von einer jahrhundertealten Kirche, in der er sich von seinem verstorbenen Bruder verabschiedet, eine Kirche, die ihn bereits als kleinen Jungen ehrfürchtig werden und ganz automatisch verstummen liess, die ihm nun Trost verlieh: «Diese Kirche hatte Generationen kommen und gehen sehen, von der Taufe bis zum Grab, eine nach der anderen, und jeder, der sich in ihre Bänke setzte, wurde zu einem Funken, zu einer ephemeren Erscheinung.» Die ephemere Erscheinung – die Erfahrungen von Endlichkeit des menschlichen Daseins – und gleichzeitig ein Gefühl von Allverbundenheit, das las ich aus seinen Sätzen heraus. Ein Gefühl, wie auf jener Insel, als ich mich, als ich uns als winzigen Teil eines grossen Ganzen erlebte – vergängliche Menschen und doch ein Teil des unfassbaren Kosmos.
«Religion und Kunst – sie wollen das gleiche. Sie versuchen den Menschen zu packen, ihn mit Schönheit zu vereinnahmen, ihn mit Schönheit zu berühren, ihn zu bewegen.»
Ich erinnerte mich an einen Eintrag in meinem Notizbüchlein. Mit einem Kurs der Kunsthochschule hatten wir zu Beginn meines Studiums des Literarischen Schreibens das Berner Münster besucht. Wir sassen in den hölzernen Bankreihen unter dem imposant hohen Deckengewölbe und wir horchten, wie der Organist der über allem thronenden Orgel Klänge von sanftem Summen bis zu donnerndem Grollen entlockte, sahen, wie durch die klaren Kirchenfenster die Sonne das Gewölbe hinter der Orgel immer intensiver goldig färbte. «Die Kraft, die Erhabenheit dieser Kunst», der Organist kam ins Schwärmen und für mich spannte sich in diesem Moment der Bogen vom ersten zum zweiten Studium, von der Religion zur Kunst: Der Wille, so viel Schönheit zu erbauen, solch aufwändige Musikstücke zu komponieren, das grösste und polyphonste Musikinstrument – ich schrieb in mein Notizbüchlein: «Religion und Kunst – sie wollen das gleiche. Sie versuchen den Menschen zu packen, ihn mit Schönheit zu vereinnahmen, ihn mit Schönheit zu berühren, ihn zu bewegen.» In diesem Moment ist mir glaube ich aufgegangen, wieso ich von der Universität hatte weiter ziehen müssen. Geradeso wie mein Freund, liess sie mit der Forderung nach Statistiken, nach unwiderruflicher Logik, nach Messbarkeit in Franken und Rappen – selbst an einer Fakultät, die Gott im Namen trug – kaum Raum für das, was sich auf jener Insel abspielte.
Aus dem Gespräch an jenem Abend in der Bretagne wurde bald ein Streit, wie es uns immer wieder widerfuhr, wenn das Thema Religiosität aufkam. Auch ich wollte Recht haben und verteidigte Religion mit jener von Logik und Wirtschaftsbegriffen durchzogenen Sprache. Aber, an jenem Abend liefen Joel und ich bei Sonnenuntergang dem Meer entlang nach Hause und spürten in all dem rauhen Kitsch der Atlantikküste ganz entgegen unserer unversöhnten Meinungen auch so etwas wie Glück, etwas, ganz ähnlich dem Gefühl allein auf einer Insel im unendlichen Ozean, etwas, das ich auch im griechischen Wort «Kosmos» fand: Glanz, Schmuck, (Welt-)ordnung. Neben all der verstrickten Logik hatte uns an jenem Abend auch eine ästethische Erfahrung der glänzenden Weltordnung eingenommen. Wir erlebten Schönheit.
Als ich nun auf die Momente schaue, die ich hier zusammengetragen habe, erklärt sich mir etwas: Religiosität und die Erfahrung von Schönheit – sie teilen sich eine Funktionsweise, die sich den Kategorien von Rationalität entzieht. Ihr Wesen ist geradezu von Irrationalität und Unfassbarkeit bestimmt und vielleicht gerade in dem Masse, wie diese Teil des menschlichen Wesens sind. Der Kern von Religiosität wie auch von Schönheit, er erschliesst sich erst in der ästethischen Erfahrung – bei Religiosität in der ästethischen Erfahrung von Verbundenheit und Endlichkeit. Eine Erfahrung von zwei Polen, die wir nicht auflösen können; wissen wir doch, dass wir jederzeit sterben könnten und leben trotzdem mit ganzem Herzen. Religiosität, sie funktioniert für mich wie eine Beziehung zu einem anderen Menschen – oder auch wie Kunst – indem sie eine Beziehung zu einem Sammelsurium von Erfahrungen ist. Erfahrungen, die sich mit dem irrationalen Wesen des Menschen auseinandersetzen, mit seinem unfassbaren Platz im Universum, dem Platz zwischen winziger Endlichkeit und unendlicher Allverbundenheit. Und geradeso wie man aus Beziehungen zu Menschen etwas über seine eigenen (irrationalen) Empfindungen und über diejenigen manch anderer lernen kann, geradeso wie einem Geschichten, wie einem Literatur helfen können, sich selbst und die Umgebung zu reflektieren, sie zu begreifen, indem man sich neben den Protagonisten sehen kann, geradeso wie sich Bärfuss in seinem Roman in die jahrtausendealte Menschheitsgeschichte einreihte, geradeso erlaubt es Religiosität sich in unterschiedlichsten Erzählungen zu spiegeln, die sich Menschen bereits vor mehr als tausend Jahren erzählten und die sie so sehr berührten, dass sie sie über all die Zeit hin bewahrten, nicht um eine Aussage über richtig und falsch zu machen (obwohl das politische Potential von Reflexion riesig ist), nein, um der ästethischen Erfahrung, um der Erfahrung von Schönheit, von Kosmos Willen.