Seit rund 15 Jahren existiert eine kleine Gruppe von alternativen online Archiven oder digitalen Bibliotheken, die von Künstler:innen entwickelt und von ihnen bis heute betrieben werden. Sie bezeichnen sich selber als Shadow Libraries (Schattenbibliotheken). Dies ist ein sprechendes Bild, denn es verweist auf ihr Verhältnis zu öffentlichen Bibliotheken, zu denen sie sich als Antagonist:innen sehen – nicht als Gegner:innen. Oder wie es die Shadow Library «Memory of The World» ausdrückt: in ihnen werden die Grenzen der Versprechen der öffentlichen Bibliothek sichtbar.

Aber zuerst einmal:
Was ist eine öffentliche Bibliothek?

Memory of the World (MoTW), schlägt folgende Definition für die öffentliche Bibliothek vor: «Freier Zugang zu Büchern für alle Mitglieder einer Gesellschaft, einen Katalog, und Bibliothekar» Kurz: eine Institution. Als solche besteht sie aus einem Konzept, einer Ordnung und Menschen, welche die Institution am Laufen halten, und die von ihr in Bewegung gesetzt werden, wie es der Soziologe Everett Hughes ausdrückte.

Das Konzept der öffentlichen Bibliothek ist der freie Zugang zu Büchern und damit zu Wissen. Dies ist ein Grundpfeiler der Aufklärung: dass Wissen auf Wissen aufbaut, und dass durch die Zirkulation von Wissen Fortschritt und eine bessere Zukunft für alle gewährleistet werden. Die Ordnung der Bibliothek ist der Katalog, das Verzeichnis der Bestände der Bibliothek, das gewährleisten soll, dass Bücher gefunden werden können, sowohl physisch in den Regalen als auch inhaltlich über eine Zuordnung zu Themen und Stichworten. Zur Ordnung gehört aber auch die Rechtsordnung des Immatrialgüterrechts, welche Wissen gleichzeitig als Gemeingut und als privates Gut organisiert, und in dessen Spannungsfeld sich auch die öffentlichen Bibliotheken bewegen.

Und die Menschen? Auf der einen Seite sind dies die Mitarbeiter:innen der Bibliothek, also die Bibliothekar:innen, die Magaziner:innen, die in der Administration Tätigen, technische Fachleute, Reinigungsleute, Hausmeister:innen und so weiter. Sie alle sorgen dafür, dass Bücher und Texte erhalten werden, an ihrem Platz stehen, im Katalog korrekt erscheinen und so gefunden werden können. Sie beraten bei Recherchen, geben kaputte Bücher in die Buchbinderei; sie halten die Räumlichkeiten sauber, warten die technische Infrastruktur und sorgen dafür, dass alles organisiert ist.

Zur Institution gehören aber auch die Benutzer:innen der Bibliothek: Menschen, die etwas wissen wollen, die auf der Suche sind nach Informationen, die recherchieren, Bücher ausleihen und nach Hause tragen, Menschen, die lesen.

Die Arbeit der User:innen

Und an diesem Punkt hört die Geschichte für eine bestimmte Gruppe von Bibliotheksbenutzer:innen nicht auf, sondern es fängt eine neue Arbeit an. Wer beruflich mit Texten zu tun hat, also etwa Wissenschaftler:innen, Kulturarbeiter:innen und Journalist:innen, muss seine Referenzen organisieren und eine eigene Ordnung anlegen. Dazu gibt es Literaturverwaltungssoftware wie Zotero oder Calibre (beide open source), in der Bücher und Texte erfasst werden können, mit allen notwendigen Metadaten wie Autor:in, Titel, Verlag und Erscheinungsjahr. Dazu können Notizen zum Inhalt abgelegt werden, Bücher können in Sammlungen gruppiert und mit Schlagworten versehen werden. Falls in Gruppen gearbeitet wird, können diese Daten über verbundene Benutzerkonten geteilt werden. Bücher können darin auch selber abgelegt werden, sofern sie in digitaler Form vorliegen. Dies führt dazu, dass viele Menschen auf ihren Computern mehr oder weniger grosse persönliche Bibliotheken lagern. Meine eigene ist rund 5 GB schwer, und umfasst über 1700 Titel, die in unterschiedlichen Sammlungen abgelegt und mehr oder weniger diszipliniert verschlagwortet sind.

Man kann also sagen, dass viele Bibliotheks-Benutzer:innen selber eine bibliothekarische Praxis haben. Um die öffentlichen institutionellen Bibliotheken herum existieren so eine Vielzahl kleiner, partieller Quasi-Bibliotheken, die von Quasi-Bibliothekar:innen unterhalten werden. MoTW nennt sie «Amateur Librarians».

Memory of The World

Memory of the World wurde 2011 von den Künstlern Marcell Mars und Tomislav Medak gegründet. Memory of the World ist die aktivistischste unter den Schattenbibliotheken (eine Liste weiterer Shadow Libraries findet sich am Ende des Textes). Technisch gesehen ist es eine online Plattform, die aus einem Netzwerk verbundener kleiner individueller Bibliotheken gespiesen wird. Dies passiert über ein «let’s share books» genanntes Plugin für die Literaturverwaltungssoftware Calibre und ein kleines Script, über welches individuelle Bibliotheken mit dem Server synchronisiert werden. Im Unterschied zu den üblichen Funktionen für geteilte Sammlungen synchronisiert das Plugin aber nicht nur die Metadaten, sondern auch die angehängten digitalen Files, also die Bücher selber. Auf Memory of the World findet man darum neben den Angaben zum Buch (wie auf konventionellen Bibliothekssystemen wie Swisscovery) auch gleich das ganze Buch in digitaler Form.

Infrastrukturen of Care

Aber was bedeutet dies? MoTW ist eine Infrastruktur, welche die Arbeit von Bibliotheks-Benutzer:innen in die Bibliothek selber mit einbringt, und zwar existentiell: ohne Amateur Librarians wäre der Katalog auf MoTW leer (gegenwärtig umfasst MoTW etwas über 157’000 Bücher, aufgeladen von 23 Bibliothekar:innen). Dies bedeutet aber auch eine Verschiebung der Funktionen der Beteiligten: Bei öffentlichen Bibliotheken sind es die Angehörigen der Institution, welche für den Erhalt und die Zugänglichmachung der Bücher zuständig sind, während ihre Benutzer:innen in einer konsumierenden Position dazu stehen, was ihre Praxis individualisiert und damit unsichtbar macht.

MoTW und andere kollaborative Shadow Libraries wie aaaaarg und Monoskop operieren jenseits dieser Dualität von Institution und Benutzer:innen. Ihre Infrastruktur ist essentiell auf Kollaboration und Beteiligung ausgelegt, und stellt so etwas wie verteilte Institutionen her. Diese ermöglichen nun sehr viel differenziertere Beteiligungsmöglichkeiten, als es öffentliche Bibliotheken tun.

Was heisst das konkret? MoTW offeriert die Rolle der:des Amateur Librarians. Jede:r kann Amateur Librarian werden, es gibt keine formalen Kriterien, und es gibt keine Aufsicht – einfach das Plugin installieren und loslegen. Die Gemeinschaft der Amateur Librarians organisiert sich autonom und aus eigener Motivation. Qualitätssicherung passiere, wie Marcelll Mars augenzwinkernd meint, über peer pressure, und dies scheint auch gut zu funktionieren in einer überschaubaren Gemeinschaft von 23 Personen, wovon sich einige auch persönlich kennen.

Ein anderes Kaliber ist aaaaarg, mit seinen geschätzt 140’000 Benutzer:innen und rund 90’000 Titeln (die Zahlen stammen aus einem Interview mit seinem Erfinder Sean Dockray von 2017 , das im Kontext des Forschungsprojektes Creating Commons geführt wurde, an dem ich auch beteiligt war). Der Name des Projektes war ursprünglich aaarg, als Abkürzung für «Artist, Architects and Aktivist Reading Group». Seit seiner Gründung ums Jahr 2004 hat er sich um zwei weitere a erweitert: als Ausdruck der prekären Situation von Shadow Libraries zwischen Copyright und digitalem Aktivismus. Aaaaarg stellt verschiedene Möglichkeiten des Engagements für seine Benutzer:innen zur Verfügung: neben dem Hochladen von Büchern und dem Zusammenstellen von Sammlungen (hier «collections» genannt), ermöglicht aaaaarg vor allem Gespräche und Diskussionen. Diese beziehen sich sowohl auf die Inhalte der Bücher und ihr diskursives Umfeld, aber sie beziehen sich zu einem erstaunlich grossen Teil auch auf die Pflege der Bestände: Aufrufe zur Bereinigung von doppelten Einträgen, das Aufmerksam-Machen auf fehlende oder fehlerhafte Daten, unleserliche Scans, falsch zugeschnittene Seiten, und die gezielte Anfrage nach Texten, die benötigt werden.

Die Care-Arbeit, die hinter Bibliotheken steht, ist auf aaaaarg Teil gelebter gemeinsamer User-Praxis. Während bei MoTW diese Prozesse verborgen ablaufen, sind sie auf aaaaarg Teil seiner Gesellschaftlichkeit. Es ist eine grosse, selbstverwaltete digitale Bibliothek, wo jede:r beiträgt, was er:sie leisten kann.

Als Sean Dockray die Nutzer:innen seiner Plattform nach den Gründen ihres Engagements fragte, bekam er viele unterschiedliche Antworten. Er unterteilte sie in fünf grobe Gruppen:
—Um ausserhalb von Institutionen zu denken
—Um Dinge zu finden, die man sonst nicht finden kann
—Um einen Ort zum Teilen von Dingen zu haben
—Um sich gegen das Konzept von geistigem Eigentum zu engagieren
—Aus einer Liebe zu Büchern (in welcher Form auch immer)

Was sich darin äussert, ist ein Bedürfnis nach einem Zugang zu Büchern, der nicht von einem Markt definiert ist. Warum ist dies überhaupt ein Problem?

Prekäre Institutionen

Diese bereits ausgeführte Aufteilung in Institutionen und Kund:innen ist ein Ausdruck einer Ordnung, die trotz der sozialen Funktion einer öffentlichen Institution zutiefst vom Markt geprägt ist. Denn auch öffentliche Bibliotheken müssen über den Markt zu ihrem Bestand kommen, bevor sie mit dem Teilen von Zugang überhaupt beginnen können. Und das ist ein grosses Problem für viele Institutionen. Denn natürlich ist der Bestand von öffentlichen Bibliotheken von den lokalen ökonomischen Realitäten abhängig, was grosse Teile der Weltbevölkerung von einem tatsächlichen Zugang zum Wissen der Gegenwart von vornherein ausschliesst. Aber auch in unseren westlichen wohlhabenden Breitengraden wird der Markt immer mehr zu einem Problem, vor allem im Bereich der Wissenschaftszeitschriften. Denn die angesehenen Journals werden von internationalen privaten Verlagen herausgegeben, und bezahlen weder die Autor:innen der Artikel (Forschung ist in der Regel öffentlich finanziert), noch die Peer-Reviewer, welche die inhaltliche Qualität der Journals sicher stellen. Diese Verlage, an vorderster Front Elsevier, verkaufen nun all diese öffentlich finanzierte Arbeit den öffentlichen Bibliotheken zu horrenden Preisen als Abonnement zurück. Das Problem ist inzwischen so gross, dass sich nicht einmal mehr Elite-Institutionen der westlichen Welt wie Harvard die Abonnements einfach leisten können.

Und so geht mit dem Markt eine stille Triage des Wissens einher: Welches Wissen ist relevant, welche Themen und Diskurse werden priorisiert, und welche eben nicht? Was dann konkret bedeuten kann, dass auch hier in der Schweiz die Bestände von Journals erst nach einer zeitlichen Blockade von mehreren Jahren zugänglich sind, was mir mehrmals bei Recherchen auf dem Gebiet der Technology / Gender Studies begegnet ist.

Die Institution der öffentlichen Bibliothek kann also ihr Versprechen von freiem Zugang zu Wissen nicht halten unter den Bedingungen des Marktes. Die Shadow Libraries zeigen dagegen eine andere Imagination auf – und dies in der Form von Institutionen selber.

Institutionen der Kunst

Nicht alle Shadow Libraries nehmen die User-Praxis ins Zentrum. Ubu, das Repositorium für Avantgarde Kunst des Künstlers und Poeten Kenneth Goldsmith ist etwa kuratiert. Aber trotzdem zeigt sich dort eine Art von Handeln, die auf Gemeinschaftlichkeit aus ist. 1996 begonnen ist es die älteste Shadow Library. Sie verzichtet bis heute auf eine Datenbank – es ist technisch also eher ein Text als ein Archiv. Und doch ist die Motivation hinter Ubu das Teilen der eigenen Sammlung, die sich aus der Recherche für die eigene Arbeit praktisch in jeder künstlerischen Tätigkeit ergibt.

Ähnlich ist die Ausgangslage bei Monoskop, vom Künstler Dušan Barok 2004 gegründet. Monoskop ist technisch ein Wiki (wie Wikipedia, also eine Enzyklopädie), in dem sich die Medienkunstszene in Osteuropa selber dokumentiert hat, und über ihre Verbindungen zu ähnlichen Institutionen auch international. Inzwischen ist es zu einem umfassenden Verzeichnis geworden, das einen einzigartigen Einblick in eine sich schnell verändernde Szene gibt, und bereits wieder verschwundene Festivals, Artist Spaces und Produktionen abbildet. Monoskop ist kollaborativ; die Geschichte einer künstlerischen Bewegung wird von ihren Mitgliedern geschrieben.

Radikaler künstlerisch ist 0xDB, die experimentelle Filmarchiv-Software des Künstlers Sebastian Lütgert und des Programmierers Jan Gerber. In ihrem Projekt haben sie den Gedanken des Archivs auf die Medialität von Filmen angewendet. In 0XDB können Filme nicht einfach nur als hermetische Objekte verwaltet und verschlagwortet werden, sondern sie werden in ihrer zeitlichen Dimension zugänglich: Es gibt eine Ansicht des visuellen Eindruckes über die Zeit des Filmes, die vor allem die Farbensprache abbildet. Es gibt zeitbasierende Anmerkungen. Es gibt die Möglichkeit, Untertitel zu durchsuchen. Und all diese Marker können quer durch Filme miteinander verbunden werden. Die Datenbank ist hier ein Instrument, mit dem anders über Filme gedacht werden kann, und mit dem Filme auch anders performt werden können: In der Abschlussausstellung zum erwähnten Forschungsprojekt war 0XDB vertreten mit einem Video namens «Get Into the Car / Get Out of the Car». Ein halb-automatischer Zusammenschnitt von Szenen aus 300 Filmen, in denen jemand jemanden zum Ein- oder Aussteigen aus einem Auto auffordert – eine Tour-de-Force durch 100 Jahre Film anhand des Objektes Auto.

Alle in diesem Text erläuterten Shadow Libraries sind auf ihre jeweils eigene Art in der Kunst verortet. Ihre Funktion ist damit auch ästhetisch, auch wenn sie es nicht auf die Produktion von Kunstwerken abgesehen haben. Vielmehr zielen sie auf die Produktion von Imaginationen, Alternativen von sozialen Institutionen, vom Wert der Zusammenarbeit, der Rolle von Infrastrukturen, und von den Möglichkeiten digitaler Technologie. Und sie tun dies, indem sie diese Imaginationen bauen. Es sind also gleichzeitig Imaginationen und ihre Verkörperungen, an der Realität geprüfte tatsächliche Infrastrukturen, Gemeinschaften und Praktiken.

In order of appearance:
memoryoftheworld.org
aaaaarg.fail
monoskop.org
ubu.com
0xdb.org

Weiterführende Interviews zu den Projekten:
https://creatingcommons.zhdk.ch/category/working-materials/interviews/index.html

Shusha Niederberger kommt aus der Kunst, forscht und lehrt zu digitaler Kultur an der ZHDK und der F+F in Zürich. Sie ist am HeK (Haus der elektronischen Künste Basel) für die Vermittlung zuständig. www.shusha.ch.

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