In einer Zeit, in der Realität und Fiktion, echt und fake, Information und Desinformation bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmelzen, ist «Wahrheit» ein strapazierter Begriff. Umso mehr brauchen wir die Fähigkeit, zu differenzieren: Wer tischt uns hier gerade was auf – und mit welchem Zweck?
Martina Momo Kunz und Benjamin Spinnler brechen das auf ihre eigene Geschichte herunter. Zwangsweise isoliert, stehen sie sich über Monate gegenüber. Wühlen in der Isolation in ihrer Beziehung. In der eigenen Echtheit und den Lügen. Heraus kommt eine epische Geschichte. Wenn ich dir meine Version der Erinnerung oft genug erzähle, wird sie dann zu deiner?
Denn Wahrheit ist langweilig. So langweilig, dass wir sie gerne selbst ausgestalten. PseudologInnen sind wir alle. Selbst die Wissenschaften können nicht erklären, wann Lügen krankhaft wird oder sie nur der Selbsterhaltung oder Selbstoptimierung dient. Wir brauchen das, das Leben ist langweilig genug. Wir machen es spannend, wir schmücken aus, erhöhen, ändern Farben, lindern Schmerz durch Phantasie, passen uns an, überspielen Schwächen und erfinden Stärken.Realität ist trocken und nüchtern. Erst Erzählung macht sie geniessbar.
Die Macht der Erzählung: Wir sehen sie von der Lebensgeschichte bis zur Instastory, vom TikTok Filmchen bis zum täglichen Ankleideproblem. Was will ich sein und was will ich scheinen? Wir sind uns das gewöhnt, spielen meist verschiedenste Rollen täglich und passen sie unseren Gegenübern an – alles nur, damit wir «richtig» wahrgenommen werden. Erzählungen prägen unsere Beziehungen zu anderen Menschen, unser Verständnis von Gesellschaft, und unser Verhältnis zu uns selbst.
Die Companie «les Mémoires d’Helène», ein höchst fluider Wirbelsturm um die Regisseurin, Schauspielerin und Sängerin Martina Momo Kunz, blitzt seit Jahren auf den Bühnen des Schweizer Freien Theater auf. Sie verunsichert durch radikale persönliche Direktheit, und begeistert mit wildem Spiel und brutaler Emotionalität. In der Verbindung von Performance und Erzähltheater bespielt Les Mémoires d’Helène die persönliche Ebene: die Absurditäten des menschlichen Bewegungsapparates, Nonkonformität und seelische Abgründe. Die radikale Offenlegung von Emotionalität und das Hinterfragen der Bedeutung von «gesellschaftlichem Versagen» ist eine grundpolitische Ausrichtung von Les Mèmoires d’Helène.
Die Produktion der «Pseudologia Phantastica» erstreckt sich über bald zwei Jahre. Die Premiere wurde dreimal verschoben, Teile der Companie verbrachten Weihnachten in Quarantäne. Das Stück veränderte sich, einzelne starteten reale/fiktive Solokarrieren. Unzählige Nervenzusammenbrüche und wundervolle, geheime Premierefeiern gaben dem Stück neue Kanten und neuen Schliff.
Die Companie «les Mémoires d’Helène» erzählt die Geschichte von Momo und Ben. Sie reflektieren ihre Erzählung, versuchen Erinnerungen mit handfesten Beweisen festzuschreiben und landen in einem Panoptikum von Lügengeschichten, optimierter Selbstdarstellung, brutaler gesellschaftlicher Realität und träumerischen Parallelwelten. Sie martern und lieben sich, versuchen die eigene Geschichte zur gemeinsamen zu machen, zurecht zu biegen mit Lügen und persönlichen Wahrheiten. Sie erzählen sich das Erleben ihrer eigenen Geschichte und versuchen so, eine gemeinsame Version zu finden.
Zwischen fein gestrickter Dramaturgie und absolutem Nonsense pendelnd, wirft Pseudologia Phantastica die Fragen auf, wie sehr wir uns der unterschwelligen Glaubenssätze bewusst sind, nach denen wir leben. Wieviel Pseudologie steckt in unseren eigenen Weltbildern? Was nützt mir die Suche nach meinem wahren Ich, wenn ich immer wieder anders sein will als ich bin? Wie bin ich überhaupt?