Zeitgleich mit dem Aufkommen eines neuen lateinamerikanischen Feminismus hat sich in Argentinien eine neue Musikszene gebildet. Aus dem Underground kommen queerfeministische Musiker*innen, um sich bis anhin männlich dominierte Musikgenres anzueignen und diese neu zu interpretieren.
Spätestens seit 2015 gilt Buenos Aires als Zentrum eines neuen lateinamerikanischen Feminismus. Zu tun hat dies unter anderem mit der hohen Mordrate an Frauen: In Argentinien wird im Schnitt alle 30 Stunden eine Frau getötet. Diese geschlechtsspezifische Gewalt wurde zwischen 2013 und 2015 vermehrt in den Medien thematisiert und führte in den sozialen Netzwerken zu einem öffentlichen Aufschrei unter dem Hashtag #NiUnaMenos (Nicht eine weniger). 2015 wurde zur ersten Ni Una Menos-Demonstration aufgerufen. In Buenos Aires nahmen 200’000 Menschen teil und trugen ihre Forderung nach einer öffentlichen Politik zur Beendigung patriarchaler Gewalt auf die Strasse. Die grosse Mobilmachung führte dazu, dass sich der Fokus änderte und Gewalt gegen Frauen nicht mehr als privates oder häusliches Problem betrachtet wurde, sondern als strukturelles Problem in einer sexistischen Gesellschaft mit geschlechtsspezifischen Machtstrukturen. Die Demonstration war ein Wendepunkt, weil feministische Forderungen erstmals in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurden. Das Kollektiv Ni Una Menos erlangte grosse Sichtbarkeit und erreichte, dass feministische Politik ins Parlament einzog. Themen wie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen oder die rechtliche Anerkennung von queeren Identitäten wurden zu politischen Geschäften und Fragen rund um sexuelle Vielfalt, neue Beziehungsformen, Sexualität und Lust, Genderstereotypen und Körpervielfalt wurden aufgeworfen.
Dieser Feminismus der 4. Welle, wie er in Argentinien genannt wird, politisierte eine ganze Generation und beeinflusste auch die Musiklandschaft. Denn alles, was in Argentinien als Musik zirkuliert, ist einerseits ein soziales Produkt und führt andererseits zu sozialen Effekten. Es ist also nicht verwunderlich, dass zeitgleich mit dem Entstehen einer neuen feministischen Bewegung auch eine neue Musikszene entstand. Diese Szene hat einen starken queeren, feministischen und antikapitalistischen Vibe und Frauen und queere Menschen als Bandmitglieder.
Lange war die argentinische Musikszene eine absolute Männerdomäne. Rock, Cumbia sowie Reggaeton waren sehr männlich dominierte, machistisch und patriarchal geprägte Musikstile. Frauen mussten vor allem schön sein und eine schöne Stimme haben, um Erfolg zu haben. Doch als Künstlerinnen ernst genommen wurden sie nur in seltenen Fällen. Seit 2015 jedoch tauchen immer mehr Bands mit weiblichen und queeren Musikerinnen auf. Dargestellt wird das auf wunderschöne und imposante Weise im Dokumentarfilm «Una Banda de Chicas» (Engl. A Girl’s Band). 2018 begibt sich die Musikerin Marilina Giménez mit ihrer Kamera auf die Suche nach anderen Frauenbands. In den Programmen der grossen Veranstaltungshäuser oder auf Festivals findet sie keine. Sie fragt sich: Sind sie inexistent oder im Mainstream unsichtbar? Sie taucht ein in die Undergroundszene der Stadt und findet zahlreiche queere und weibliche Künstlerinnen in den unterschiedlichsten Musikgenres, viele aber spielen Cumbia.
Dies ist kein Zufall, sondern exemplarisch für den feministischen Umschwung. Cumbia ist sowas wie die Popmusik Argentiniens. Seit Generationen im Land und immer wieder adaptiert, existieren viele verschiedene Formen. Zu Beginn traditionelle populäre Musik aus Kolumbien, wurde sie in Argentinien mit romantischen Schnulzen adaptiert, aber auch mit Pop oder Electro. Besonders beliebt ist eine Mischung aus Cumbia und Dancehall für die Tanzflächen der Clubs. Die Inhalte der Songs sind dabei oft despektierlich bis explizit frauenfeindlich.
Dieser allseits beliebte Musikstil wurde von den feministischen Bands aufgegriffen und neu arrangiert. Der Rhythmus ist der altbekannte, doch vor allem die Texte sind neu. Sie handeln von Empowerment, Selbstbestimmung über den eigenen Körper, freier Liebe und neuen Formen von Freund*innenschaft und Beziehung. Viele der Songs werden mittlerweile auf feministischen Demonstrationen gesungen. Und andersrum werden auf den Konzerten die Parolen der Kundgebungen geschrien und die Performancetänze der Demos getanzt.
Diese Vernetzung von feministischem Aktivismus und musikalischer Liveperformance ist exemplarisch für die neue Musikszene. Sie ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, sich ihren eigenen Platz zu schaffen. Denn davor gab es keine Plattform für queerfeministische Bands. Queere Thematiken werden dabei genauso herausgehoben wie feministische Anliegen, vielleicht weil eine Mehrheit der Musikerinnen sich als queer identifiziert. Die verschiedenen Bands sind zu einer Community zusammengewachsen, die sich untereinander kennt, ihre eigenen Veranstaltungen in politischen Kulturhäusern durchführt und zusammen auftritt. Zwei Pionierinnen dieser queerfeministischen Musikszene sind Sara Hebe und Chocolate Remix. Sara Hebe gilt seit Langem als bemerkenswerteste Rapperin Argentiniens. Seit 2009 mischt sie zusammen mit ihrem Beatmaker Ramiro Jota die Szene auf und kombiniert unterschiedliche Musikstile wie keine andere. Bekanntheit erlangte sie durch ihren unverkennbaren Rapstil. Diesen unterlegt sie die mit Rock, Punk, Cumbia, Reggaeton und neuerdings auch mit Trap oder Electro. Auch wenn die Musikrichtungen immer mal wieder ändern, die politische Einstellung bleibt stets gleich und wird in den Texten und Bühnenperformances sichtbar. Sara Hebe greift aktuelle politische Geschehnisse auf und verhandelt diese in ihrer Musik. Ihr Lied «Historika» beispielsweise wurde zum Slogan der Bewegung für legale und selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche. Nicht selten waren die Liedzeilen «Antes que histérica, histórica» (Nicht hysterisch, sondern historisch) auf T-Shirts gedruckt oder Transparente gemalt an den Demonstrationen und Kundgebungen zu sehen. Sara Hebe ist aber auch eine Meisterin der Liveperformance. Sie macht ihren Standpunkt gegenüber feministischen Anliegen, Menschenrechten, Rechte für Transpersonen, legale Abtreibung und viele andere politische Themen in ihre Performances deutlich. Bei ihren Konzerten holt sie Balletttänzerinnen, Drag Queens, twerkende Tänzerinnen und Trans-Musiker*innen auf die Bühne und lässt sie pogen, tanzen, ihre Brüste zeigen und Orgien nachstellen. Das Publikum reagiert darauf mit begeisterten Pfeifkonzerten und tanzt oben ohne. In der queeren Szene ist Sara mit ihrer Musik und ihren Liveperformances längst zur Ikone geworden.
Romina Bernardo hat mit ihrem Alter Ego Chocolate Remix ein neues Universum erschaffen: den queerfeministischen Reggaeton, wie sie es nennt. Die Künstlerin identifiziert sich als lesbisch und sagt, sie wolle mit lesbischen Vibes dem machistischen Musikstil des Reggaeton gegenübertreten und diesen wieder salonfähig machen. Sie tut dies seit 2013 auf witzige und provokante Weise, indem sie einerseits explizit lesbischen Content in ihre Lyrics einbaut und andererseits in ihrer Bühnenperformance den stereotypischen Reggaetonero parodiert. Sie dreht die Darstellung des coolen Typen mit sexy Background-tänzerin um und lässt Tänzer*innen mit diversen Körpern für sich selbst tanzen. Dabei wird auch mal wild auf der Bühne geknutscht, was das Publikum in wilde Ekstase versetzt.
Choco kann aber auch seriös sein. In ihrem mittlerweile berühmten Song «Ni una Menos» geht es um Femizide und körperliche Gewalt. Dazu treten leicht bekleidete Tänzerinnen mit Baseballschlägern bewaffnet auf und schlagen damit alle aus dem Weg, die ihnen zu nahe treten wollen. Diese Kombination aus Sexualität, Macht und Gewalt ist ein powervolles Statement für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper.
Chocolate Remix und Sara Hebe sind nur zwei Vertreterinnen dieser immer grösser und sichtbarer werdenden Musikszene. Was die Szene eint, ist die Hoffnung auf eine Welt, in der neue Normalitäten geschaffen werden, Zwänge und Stereotypen inexistent sind und alle Körper und Identitäten in Freiheit und Sicherheit leben können. Bis über die Heteronormativität hinaus – und noch viel weiter.