Die Idee einer Vielfalt von Geschlecht, Geschlechterdifferenzen und Sexualität beschäftigt Virginia Woolf in vielen ihrer Texte. Im Roman «Orlando» sowie im Essay «Ein eigenes Zimmer» haben wir es mit Personen zu tun, deren Geschlecht und sexuelle Orientierung sich im Zuge der Geschichte wandeln. Auf ähnliche Weise spielt Woolf mit literarischen Genres, wie Literaturwissenschaftlerin Hermione Lee schreibt: «Essays turn into fiction, fictions into essays».
Woolfs Verständnis von Geschlecht – einige zentrale Thesen
Woolf geht erstens von einer grundlegenden Historizität und Gesellschaftlichkeit von Geschlecht aus. Sie grenzt sich z.B. bewusst von der Behauptung ab, die geringe Zahl an weiblichen Schriftstellerinnen sei in der natürlich bedingten Unfähigkeit von Frauen zu kreativen, überhaupt anspruchsvollen Tätigkeiten begründet. Hingegen müssten sie eine entsprechende Bildung, «Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können». Woolf vertritt ein Verständnis von Geschlecht, wie es später in der feministischen Theorie der Sex/Gender-Trennung gefasst wurde. Zwar gibt es für sie (biologisch) unterschiedliche Geschlechtskörper, doch diese sind weder eindeutig noch unveränderbar. Das biologische Geschlecht wird durch das soziale beeinflusst. So werden in den westlichen bürgerlich kapitalistischen Geschlechterordnungen Individuen von Geburt an in einem komplexen Prozess geschlechtlicher Disziplinierung und Subjektivierung zu Frauen und Männern* gemacht.
Zweitens befürwortet Woolf die Vorstellung von einer grundlegenden Androgynität des Menschen. Anfang des 20. Jahrhunderts war Androgynie in westlichen Metropolen ein vieldiskutiertes Thema. Freud etwa geht von einer ursprünglichen Androgynität und Bisexualität aus, die im Zuge des Erwachsenwerdens überwunden werden müssen. Die Idee der Androgynität wird zu einem kritischen Gegendiskurs zum bürgerlichen Diskurs der qualitativen Geschlechterdifferenz. Als Reaktion hierauf wird Androgynität für viele zum Sinnbild geschlechtlicher «Monstrosität» – zu sehr stellt sie die binär-hierarchische heteropatriarchale Zweigeschlechtlichkeit in Frage.
Mit dem Erstarken des Faschismus wird jede Art nicht klar definierter heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit als entartet erklärt. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist Woolfs Konzeptualisierung einer grundlegenden Androgynität des Menschen gesellschaftspolitisch brisant. Zentral für ihr Verständnis von Androgynität ist die Vorstellung, dass in jedem Menschen ein «Schwanken» zwischen den Geschlechtern stattfindet; sowohl psychisch bezogen auf die Geschlechtsidentität, physisch bezogen auf den Geschlechtskörper und sexuell bezogen auf die sexuelle Orientierung.
Mit der Bemerkung, Orlando zeige nach dem Erwachen «keine Überraschung darüber», nun plötzlich eine Frau zu sein, scheint Woolf genau dieses Selbstverständliche der Wandlung bekräftigen zu wollen.
Androgynität ist für Woolf also eine anthropologische Aussage und kein Ideal. In der Frage künstlerischer Kreativität in «Ein eigenes Zimmer» hält Woolf eine «androgyne Balance» jedoch für zentral.
Orlando
Schlüsselszene des Romans ist das Erwachen Orlandos – nach einem siebentägigen Schlaf – als Frau. Ein heftiges Ringen findet statt, ob sein/ihr Geschlechtswechsel enthüllt werden darf. Nach den Stimmen des Zeitgeistes – «Keuschheit», «Reinheit» und «Sittsamkeit» – wäre dies unbedingt zu verhindern.
Letztlich setzen sich die Stimmen der «Wahrheit», «Aufrichtigkeit» und «Ehrlichkeit» durch. Orlando erwachte und «stand aufrecht in völliger Nacktheit vor uns, und während die Trompeten Wahrheit! Wahrheit! Wahrheit! schmettern, bleibt uns keine Wahl, als zu gestehen – er war eine Frau». Es ist ein Wandel, der sich für ihn/sie in völligem Einklang mit sich selbst vollzogen hat: die weibliche Seite hatte in «ihm» die Oberhand gewonnen.
Die Frage danach, was diese Verschiebungen auslöst, was in einer Person die männliche oder weibliche Seite dominant werden lässt, wird im Übrigen von Woolf explizit zurückgewiesen: das sollen «Biologen und Psychologen […] entscheiden. Für uns genügt es, die schlichte Tatsache festzuhalten; Orlando war ein Mann bis zum Alter von dreissig Jahren; als er eine Frau wurde und es seitdem geblieben ist» – wenn auch immer wieder situativ mit vielen Schattierungen dazwischen, aber auch jenseits davon.
Es gibt also für Woolf kein Wesen, keine Essenz (weder im Körperlichen noch im Psychischen), wonach sich entscheiden liesse, ob die Tatsache, dass Orlando nun eine Frau ist, Ausdruck ihrer wahren geschlechtlichen Identität, ihres wahren Wesens ist. Weder der Geschlechtskörper noch die Geschlechtsidentität sagen die Wahrheit aus über das Geschlecht einer Person. Keines birgt das «wahre» Geschlecht.
Woolf verleugnet folglich nicht biologische Geschlechterdifferenzen noch scheitert ihr Konzept von Androgynie an deren Existenz; vielmehr sind sie kein Indikator für die «wirkliche Geschlechtlichkeit» einer Person. Es könnte daher auch durchaus sein, dass sich bei Orlando keine körperliche Veränderung vollzogen hat; und doch wäre er deshalb kaum weniger eine Frau als nun, da sich sein/ihr Körper verändert hat. Entscheidend ist, dass Orlando zuvor ein Mann war und nun – in seinem eigenen Blick und Verhältnis zu sich selbst – eine Frau ist. Das Vorher ist so wahr wie das Jetzt – wenn es dem Gefühl der «eigenen» Geschlechtlichkeit entspricht und nicht lediglich den hegemonialen Geschlechternormen. Was zählt, ist die Gegenwärtigkeit der jeweils gerade gelebten geschlechtlichen Existenz.
In der Gesellschaft sind jedoch Individuen, die den herrschenden Normen geschlechtlicher Lesbarkeit nicht entsprechen, stets gefährdet. (Judith Butler prägt dafür später den Begriff «Intelligibilität».) Wie Butler verweist Woolf darauf, dass sich den gegenwärtig hegemonialen Anforderungen an Geschlecht zu fügen, auf das «kulturelle Überleben abzielt». In diesem Sinne wird Orlandos Geschlecht, je länger sie als Frau lebt, immer eindeutiger und ihr Begehren mit der Zeit ausschliesslich heterosexuell. Viele dieser Veränderungen sind ausdrücklich als Folge gesellschaftlicher normativer Anforderungen zu verstehen.
Entsprechend beschreibt Woolf ausführlich die gesellschaftlichen Zwänge, denen Orlando als Frau ausgesetzt ist, die Normen, mit denen sie sich konfrontiert sieht, aber auch die Ängste, Wünsche und Sehnsüchte, die sie den verschiedenen historischen Geschlechterordnungen gemäss als Frau entwickeln soll. Und da sich die Geschlechtersegregation mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft verstärkt und die Differenzen sich vertiefen, wächst in dieser Zeit der Druck auf Orlando nochmals deutlich, sich den herrschenden Vorstellungen von Weiblichkeit zu fügen. Der Kunstgriff, die Biographie Orlandos über mehrere Jahrhunderte hinweg vollziehen zu lassen, erlaubt es Woolf, ihre These von der Historizität von Geschlecht und Geschlechterdifferenzen zu illustrieren.
Utopie einer Vielfalt
Was Woolf am Beispiel Orlandos literarisch beschreibt, erinnert an das, was in den 1960ern Harold Garfinkel in seiner berühmten Studie zur TransPerson «Agnes» aufzeigt: Die Entwicklung einer lesbaren Geschlechtszugehörigkeit und -identität als einen gesellschaftlich geforderten aktiven Lern- und Herstellungsprozess. Woolf lässt nicht einmal das Detail der gerichtlichen Bestätigung des neuen Geschlechts aus; Orlando wird amtlich «unbestreitbar und über jeden Schatten eines Zweifels erhaben […] für weiblich erklärt». Orlando gewinnt in diesem Prozess die Einsicht, dass Frauen nicht «von Natur aus gehorsam, keusch, parfümiert und exquisit gekleidet» sind: Geschlecht ist nicht natürlich bedingt. Die Herausbildung einer gesellschaftlich intelligiblen weiblichen* Geschlechtsidentität und die damit verbundene Vereindeutigung ist das Ergebnis «mühevollster Disziplin».
Woolf geht dabei davon aus, dass im Zuge dieser Disziplinierungs- und Normalisierungsarbeit Geschlecht, Geschlechterdifferenzen und Geschlechtsidentität körperliche und psychische «Materialität» gewinnen. In der alltäglich gelebten Praxis erhält die jeweilige Geschlechtlichkeit in den Individuen materielle Realität: In einer Vielzahl vergeschlechtlichter Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, in Sichtweisen auf die Welt, in psychischen Strukturen und Begehrensformen sowie in den vergeschlechtlichten und sexualisierten Körpern und Körperpraxen. Dieses «Sein» von Geschlecht, die jeweilige Geschlechtlichkeit einer Person, bleibt jedoch für Woolf stets im Prozess, ein Sein im Werden.
Allerdings kann die geforderte Vereindeutigung von Geschlecht und Sexualität letztlich nie wirklich gelingen. So sind Woolf zufolge für viele Frauen die Erfahrungen ihrer strukturellen Diskriminierung in einer cisheteropatriarchalen Geschlechterordnung Anlass, sich innerlich von den herrschenden Weiblichkeitsnormen zu distanzieren und in ihrem Alltag, ihrem Arbeiten oder in ihren Beziehungen widerständige Praktiken zu entwickeln. Zudem verunmögliche auch das ständige androgyne Schwankens des Menschen die Vereindeutigung. So bewahrt sich auch Orlando Erfahrungen aus ihrem/seinem früheren Leben als Mann* – spezifische Körperpraxen, Denkweisen, das Gefühl von männlicher Selbstsicherheit und Wirkmächtigkeit.
Woolf entwickelt in Ansätzen bereits ein anti-essentialistisches und (de)konstruktivistisches Verständnis von Geschlecht. Mit ihrem Verständnis von Androgynität eröffnet sie einen Möglichkeitsraum für eine konkrete Utopie der Vielfalt von Geschlechtern, Geschlechterdifferenzen und Sexualitäten jenseits von Binarität und möglicherweise auch selbst von Geschlecht. Mit dieser Utopie verbindet sie eine Reihe grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen. Bürgerliche weisse heterosexuelle Männlichkeit als allgemeiner Massstab wäre in einer solchen Welt kaum mehr durchsetzbar.
Zudem würde – und genau darauf zielen Woolfs Überlegungen ab – überhaupt die Basis der bisherigen Logik und Dynamik gesellschaftlicher Normalisierungs-, Disziplinierungs- und Subjektivierungsprozesse schwinden. Für Woolf könnte die Überwindung der bürgerlichen weissen heterosexuellen männlichen Suprematie zugleich auch die Überwindung der mit ihr historisch verbundenen Prozesse der Rassifizierung und Klassisierung bedeuten. Woolfs konkrete Utopie, wie sie sie in Orlando aufscheinen lässt, lässt sich kaum treffender zusammenfassen, als die britische Schriftstellerin Jeanette Winterson dies tut: «It is a passion for life as it could be lived».