Es wird aufgerüstet in Europa, auch in der Schweiz – buchstäblich und medial. Noch die letzte provinzielle Tageszeitung schaltet ihren Kriegs-Live-Ticker. Während Selenski von manchen als Super-Influencer abgefeiert wird (etwa im SRF Club Spezial) fiel in der Arena Spezial bereits nach 10 Minuten der Hitler-Vergleich. Putin habe die Weltordnung, die man nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut habe, mit einem «Fingerschnippen» umgeworfen, meinte Fabian Molina wutentbrannt – die letzte Invasion in ein anderes Land in Europa habe Adolf Hitler begangen. Derweil plädieren auf anderen TV-Kanälen andere Linke (etwa Scholz und Baerbock) für Aufrüstung und «bewaffnete Friedenstruppen». Auch der Militärexperte Georg Häsler, zuständig für die NZZ in sicherheitspolitischen Fragen, wählte im Interview mit der Tagesschau vom 27. Februar deutliche Worte: «Deutschland wird nicht mehr am Hindukusch verteidigt.» Dies sagte er, zugeschaltet vor einer Bücherwand, wie das Expert*innen im Fernsehen eben gerne tun. Wer genau hinsah, konnte im Bücherregal des Experten unschwer die beiden dicken Reportage-Bände von Niklaus Meienberg erkennen. Nicht schlecht für einen Oberstleutnant der Schweizer Armee und zuvor Kommandant einer Festungsminenwerferkompanie und Stellvertreter-Kommandant der Artillerieabteilung 10! Derselbe (mit einem Bart, der sich unter Trotzkisten sehen liesse) trug als Gast im besagten Club übrigens rote Socken. Ein Sozi im Militär? Tarnung? Oder einfach einer, der weiss, dass man gut daran tut, seine Feinde zu kennen? In einem der Meienberg-Bänden im Bücherregal von Oberstleutnant Häsler findet sich übrigens ein Text von 1993 über den Krieg in Europa, die Befindlichkeit im sicheren Zürich und verhaltenes Interesse am Jugoslawienkrieg (etwa im Unterschied zum Golfkrieg) – wegen fehlendem Öl. In einem offenen Brief im Tages-Anzeiger an den Chefredaktor von Oslobodjenje schrieb Meienberg am 4. März 1993 nach Sarajewo:
«Lieber Zlatko Dizdarevic, aus Zürich kann ich Ihnen melden: keine kriegerischen Vorkommnisse im März. Die Zeitungen plumpsen frühmorgens pünktlich in die Briefkästen, die Redakteure streben unbehelligt in die Zeitungsgebäude, die Waffen schweigen […] gekämpft wird um Marktanteile, geschossen nur im übertragenen Sinn: auf die Konkurrenz. Der Tod erfolgt meist auf zivilisierte Art, im Bett zu Hause oder in freundlichen Spitälern, Krebs kommt vor und Herzinfarkt, und manchmal krepieren ein paar Junge an einem Schuss, den sie sich selbst gesetzt haben. Das Bestattungswesen ist intakt. […] wir verfolgen das Gemetzel am Fernsehen, aber es verfolgt uns nicht. Reality show. Wird so real serviert, dass es uns phantastisch vorkommt, als Ausgeburt einer rasanten Phantasie. Wir empfinden natürlich Mitleid, vor allem für uns, weil wir nicht helfen können. Und wir würden doch so gern. Und dann gibt es ja auch noch Somalia, Angola etc., überall zugleich können wir nicht hinblicken. Auch waren uns die Kuwaiter (die wir nicht kennen) sympathischer als die Kroaten und Bosnier und Kosovo-Albaner (die wir kennen, weil viele in der Schweiz arbeiten). Es heisst von ihnen, sie seien rauhe Gesellen, die sich nicht so recht bei uns einordnen wollen. Lieber Zlatko Dizdarevic, Sie sehen doch auch, wie kompliziert unsere Lage ist, wie hoffnungslos.»
Man sollte gerade jetzt, in Zeiten, in denen Medien wahlweise «Reality Shows» liefern, Betroffenheitsjournalismus zelebrieren oder in undifferenzierte Kalte-Kriegs-Rhetorik zurückfallen, wieder Texte wie jene von Meienberg lesen.
Differenzierte journalistische Beiträge zum aktuellen Kriegsgeschehen gibt es im Übrigen durchaus, auch in Schweizer Medien. Etwa die Sternstunde Philosophie über Gewalt und Gegengewalt (6.3.) oder der Kommentar des österreichisch-afghanischen Journalisten, Emran Feroz, über den europäischen Rassismus, den die grosse Solidaritätswelle mit der Ukraine offenlegt (Republik, 10.3.) – Auf letzteren folgte selbstredend ein Shitstorm.
Doch nicht die Unterhaltung an sich ist das Problem, sondern, dass alles zur Unterhaltung wird – wie der Medienkritiker Neil Postman 1985 in «Wir amüsieren uns zu Tode» schrieb.