Der Kulturjournalist Kevin Trachsler stellt seine zwei spannendsten Neuent-deckungen des überschatteten Kulturjahres 2020 vor. Er lässt sich von ihnen in die Karten schauen, provoziert, und räsoniert schliesslich über die Schwierigkeit, bei selbsternannten KünstlerInnen die Kunst zu finden.
In Zeiten, in denen beim morgendlichen ZOOM-Briefing nicht klar ist, ob der Chef Unterhosen anhat, haben sich viele Menschen aufgemacht, ihr wahres Selbst zu suchen. Die Zeit dazu war jetzt vorhanden und die Isolation liess eine noch grössere Fokussierung auf sich selbst zu.
Mit neu gefundenem Lebenssinn und wiederentdeckter Identität sind seit diesem Sommer zwei bemerkenswerte Künstlerinnen durch ihre offensive Art ihr Publikum heimzusuchen in Erscheinung getreten. Ich stiess auf die beiden beim Versuch, einen Überblick über das blühende und manchmal unter der exzessiven Förderung auch wuchernde Kunstschaffen der Schweiz zu finden.
In zwei getrennten Interviews versuchte im Fabriktheater die Hintergründe und das Selbstverständnis der beiden auszuloten. Beide Künstlerpersönlichkeiten traten während des Interviews sehr selbstbewusst auf, und wussten ihre doch recht unterschiedlichen Positionen zur Kunst einigermassen zu umreissen.
LAMBØRGHIÑJ TARØT ist ein neues Sternchen am schweizerischen Streaming Himmel. Ihren Erfolg liest sich aus den steigenden Klickzahlen, ihr Selbstbewusstsein entsteht aus einer Mischung von kalkuliertem Kostenmanagement bei der Produktion ihrer Songs und Videos mit einer engen Verbundenheit zu Tarotkarten, die ihr bei der Entwicklung ihrer Texte und ihrer Existenz-Sicherung die Wege schicksalbedingt vorgeben. Immer wieder wies sie im Interview darauf hin, dass für sie die Welt klar und offen liege, und dass wer sich nicht dem Schicksal (oder ihren Tarotkarten?) ergeben könne, einfach ein Loser bleibe oder werde.
Ihrem Wunsch, das Interviewset mit einem Tisch mit Tarot-karten und einem Glas Wasser auszustatten, entsprachen wir. Trotzdem war sie im Interview schwer zu lesen. Deshalb veröffentlichen wir hier einige original transkribierte Ausschnitte, die am besten diese vielschichtige Rapperin/Trapperin erklären.
K.T: Du hast nach deinem Netzerfolg «BILLIG», der doch einige viele Klicks generiert hat, jetzt einen neuen Song am Start, er heisst Limbo, warum heisst er Limbo?
L.B: Warum warum warum, Kevin mag es Fragen zu stellen. (lacht)
K.T: Ja, das ist mein Beruf.
L.B: Wenn man so viele Fragen hat wie du, ziehst du am besten mal eine Karte.
K.T: Ja, naja, ich glaub ja nicht so an Kartenlegen.
L.B: Egal zieh mal ne Karte. Was siehst du?
K.T: Ich sehe zehn Schwerter, die in einem Menschen drinstecken, sehr beängstigend.
L.B: Zehn Schwerter in einem Menschen.
K.T: Ja ein Mensch ist tot, brutal.
L.B: Kevin, wir wissen nicht ob er tot ist, aber wir wissen die Schwerter… schau mal heute, wir… die Schwerter sind wir. Die Schwerter stecken in uns allen. Und das ist Limbo, Liiiimbo. Der Mensch ist nicht tot, aber die Schwerter sind da. Limbo ist das Medikament, die Kur, für uns alle, das sagt das Schicksal, eh, die Karte.
K.T: Deine Release-Tournee, Clubtournee zu «BILLIG» ist wegen Covid abgesagt, viele Kunstschaffende tun sich im Moment schwer mit ihrer finanziellen Existenzsicherung, wie ist das bei dir, wie stellst du dir deine Zukunft vor?
L.B: (Lacht) Ich muss keine Konzerte geben, schau mal, die Leute kommen zu mir, die Klicks machen Geld, Geld kommt auf mein Konto, kling kling, kling kling, die Klicks machen Geld, ich nehm das Geld, ich hab ne Idee, mach einen Clip und ruf meine Videoproduzentin FLáN DeŠtinA an. Das Video macht Klicks, Bling Bling, verstehst du? Ok. Konzerte mach ich, wenn man mich ruft, ich brauch keine Konzerte, Konzerte rufen mich, nicht umgekehrt.
K.T: Du hast FLáN DeŠtinA als Produzentin deiner Videos an deiner Seite, sie ist sehr bekannt und hat früher die Ästhetik vieler Tanzvideos von Justin Timberlake geprägt. Wie kannst du dir das leisten?
L.B: Oh Kevin, du überlegst zu viel, das ist vielleicht dein Problem, dass du zu viel denkst (lächelt). Es gibt Sachen, die sind Schicksal. FLáN DeŠtinA und ich, das ist Schicksal, wir zueinander, wir sind zwei Charaktere mit einer Vision, wir gehören zusammen, realness, das ist keine Frage, «kannst du dir Flan leisten», die Frage ist Bullshit, Kack Bullshit.
K.T: Aber was ist eure Vision?
L.B: Du siehst unsere Vision, unsere Vision ist weiterhin eine Stunde investieren für einen Text, eine Stunde für einen Beat, halber Tag für einen Videodreh. Wir ziehen ein paar Karten, wir schiessen das Ding, das ist FLáN DeŠtinA und ich, das ist Schicksal. Du verstehst das nicht…? (Lacht) Warum, warum…
K.T: Viele sehen dich als neuen Stern am Streaminghimmel, wie siehst du deine Marktchancen, du hast doch da einige Konkurrenz.
L.B: Wer?
K.T: Ja zum Beispiel Loredana.
L.B: Ah du meinst die kleine Bitch aus Emmenbrücke.
K.T: Ja, sie hat ein bisschen mehr Klicks als du.
L.B: Ach Kevin, ich wünschte FLáN DeŠtinA wär da (lacht), Kevin versteht nicht, was Grösse ist und was Schicksal. Das ist ganz klar. (Zeigt auf die Karte) Ich seh mich, Lamborghini Tarot, ich seh mich ganz klar, ich bin da (zeigt auf Kopf) da (zeigt auf Bauch) und da zeigt zwischen (zeigt zwischen die Beine). Und hinten da in der Scheissecke, klein, klein, sehe ich ein kleines Mädchen aus Luzern, was soll ich da sagen, hallo Loredana, willst du einen Lolli Loredana. Mehr gibt’s da nicht zu sagen.
K.T: Ich konnte ja kurz in das neue Video reinschauen, wie kriegst du das zusammen, das Setup ist doch sehr aufwändig.
L.B: Na ganz einfach, wir finden eine Location, gehen ran und drehen. FLáN DeŠtinA bringt noch so einen Tim, Kim oder Kevin mit, der das Licht hält. Wir müssen gar nichts machen, das ist, was du nicht verstehst, Kevin.
Ach Kevin, du kriegst jetzt was für deine vielen Fragen, ich zieh jetzt eine Karte für dich.
Page der Münzen, also jetzt gratis, Tarot for free, weil du dir so viele schöne Fragen überlegt hast.
Du hältst eine Münze in der Hand, Geld Rubel Yen Dollar Rupien, wie der Scheiss alles heisst. Aber du hältst sie in der Hand, als ob sie nicht dir gehört. So wird sie nie dir gehören. Du verhältst dich auf dieser Welt wie ein Gast und das ist dein Problem, das aller Kevins da draussen. Ihr müsst das Zeugs einfordern, und das unterscheidet mich von euch, ich nehme, was mir schon immer gehört hat –
Soweit die Stimme des neuen Trap Shootingstars. Der andere Stern am Lockdown-Himmel ist Juri Stöckli. In Vielem ganz verschieden von Lamborghini Tarot, aber auch er hat seinen Plan gefunden.
Juri Stöckli ist sich seines künstlerischen Werdeganges als Shooting Star der Innerschweizer Literatur nur zu sehr bewusst. Er bezeichnet seinen künstlerischen Weg als Drang, aus den Tiefen seines Ich schöpfen zu müssen, um die LeserInnen sprachgewaltig und sprachschöpferisch mit seinen innersten Ängsten und Freuden zu beglücken. Sein neustes 2018 erschienenes Buch, wurde verfilmt und als Kurzfilm an den Solothurner Filmtagen prämiert.
K.T: Herr Stöckli, was möchten Sie den Menschen mit Ihrer Literatur mitgeben?
J.S: Ja es kommt sehr drauf an, was sie von mir lesen. Ich denke, wenn sie jetzt «Heugümper im Gümperstall» gelesen haben, das war eher ein radikales Buch, ein politisches Buch. Aber zum Beispiel «Die Birke tropft», die ich geschrieben habe schon im 96, das war ein Kinderbuch. Und da kann der junge Rezipient mit den Bildern etwas anfangen. Da sind nackte alte Menschen mit Windeln zu sehen, das war eine Zusammenarbeit mit einem Altersheim, um Kindern den Verfall näher zu bringen. Den körperlichen, physischen Verfall. Deshalb muss ich sagen, das hat mit den Lesern zu tun.
K.T: Ihr neustes Buch «Schön, wenn Gäste wieder gehen», um was geht es in diesem Buch?
J.S: Das ist eine sehr provokative Frage, «warum geht es in einem Buch» (lacht). Ich denke, es ist im Kern ein sehr biografisches Werk, tiefgründig von aussen betrachtet, von innen natürlich eher seicht.
Im weiteren Gespräch erzählte mir Juri Stöckli über seine während dem Lockdown neu errungene Lust, vor Publikum zu lesen. Er geht dazu nicht nur an Literaturabende, sondern liest auf Tramhaltestellen, in Warteräumen vor ganz normalen Menschen:
J.S: Diese Lesungen in aller Öffentlichkeit adeln in gewisser Weise meine Schreibtechnik und meinen Schreibstil. Sie bestärken mich darin, mein Innerstes direkt auf fremde Menschen zu spiegeln, das gelang mir bisher nur mit Seen und Bergen. Ich bin jetzt bereit, das mit der ganzen Welt direkt zu teilen.
Ihr seht: Beide Newcomer sind auf ihre Art neu und erfrischend. Dass sie Erfolg haben, gerade während dieser für die ganze Kunst und Kultur schweren Corona Zeit, verspricht vieles. Mein Wunsch, diese zwei gegensätzlichen Kunstschaffenden zusammen zu bringen und zu konfrontieren, wurde von beiden begrüsst.
Eine kontroverse Diskussion über das schweizerische Kulturschaffen, über Schein, Realität und Fiktion wird den Rahmen von bisherigen Kulturgesprächsformaten sprengen.
Beide KünstlerInnen haben zugesagt, sich im Rahmen der Reihe «Pseudologia Fantastica» vom 29. Dezember bis zum 6. Januar im Fabriktheater täglich vor einem beschränkten Publikum zu messen.