Thorsten Nagelschmidt hat mit «Arbeit» einen Gesellschaftsroman über all jene geschrieben, die nachts wach sind und ihren Job erledigen, während Studentinnen und Touristen feiern. Er erzählt von zwölf Stunden am Rande des Berliner Ausgehbetriebs und es kommt die Frage auf: Auf wessen Kosten verändert sich eine Stadt, die immer jung sein soll? 

Am 1. Oktober liest er um 20 Uhr im Clubraum der Roten Fabrik aus seinem Roman «Arbeit». Tickets müssen unter konzeptreservation@rotefabrik.ch reserviert werden.

Fabrikzeitung: Thorsten, wie geht es dir?

Thorsten Nagelschmidt: Danke, gut. 

«Arbeit» ist im Schockzustand der ersten Corona-Welle erschienenwie war das für dich?

Mein aktueller Roman erschien Ende April, also mitten in der Krise. Mein Verlag hatte mir im Vorfeld angeboten, die Veröffentlichung um ein halbes oder auch ganzes Jahr zu schieben. Ich habe das abgelehnt. Wer konnte im März schon sagen, wie es sechs oder zwölf Monate später aussehen würde? Ich hatte ausserdem das Gefühl, dass das Buch raus muss, dass es genau jetzt gelesen werden soll. Auch weil ich sonst vermutlich bis zur endgültigen Veröffentlichung an dem Text festgehalten hätte und es mir schwergefallen wäre, mich in der Zwischenzeit auf etwas Neues einzulassen.  

Nach der ganzen Arbeit am Buch keine Buchmessen, keine Lesungen, kein Livepublikum. Wie ist nun, da es langsam wieder losgeht, dein Verhältnis zu Live-Auftritten? 

Ich hätte im Mai und Juni über 20 Auftritte gehabt, die fast alle abgesagt oder ins Internet verschoben wurden. Zum Glück konnten im Sommer dann doch wieder einzelne Sachen stattfinden. Die erste «Arbeit»-Lesung vor Publikum war auf dem Parkplatz des Zakk in Düsseldorf. Es konnten 70 Personen teilnehmen, die teils grotesk weit auseinandersassen. Aber es war eben für alle Anwesenden, inklusive der Veranstalter und mir, die erste echte Live-Veranstaltung seit Monaten, da war ein Britzeln in der Luft und die 70 fühlten sich an wie 700. Wochen später hat mich ein Freund auf den Hof seines Weinguts an der Mosel eingeladen. Das sind die kleinen Momente, in denen man das, was man vorher für selbstverständlich hielt, umso mehr wertzuschätzen weiss. Nun geht es langsam wieder los, und auch wenn es ein irres Hin- und Her ist und manches unter eher widrigen Bedingungen stattfinden muss, ich freue mich mich über alles, was geht, und die Stimmung ist immer noch jedes Mal anders, irgendwie besonders. Ich bin halt auch einfach gerne auf der Bühne und performe meinen Text.

Wie hast du den Lockdown verbracht? Durch die Ausfälle ist ja auch viel Arbeit weggefallen und dafür gab’s Zeit, die du sonst auf Anreisen, in Backstages, mit Publikumsgesprächen und in Hotelzimmern verbracht hättest. Hast du so etwas wie die damals viel beschwörte Entschleunigung erlebt? 

Von den vielen ausgefallenen oder verschobenen Auftritten abgesehen hat sich für mich persönlich zunächst gar nicht viel geändert, da ich es gewohnt bin, von zuhause aus zu arbeiten. Darüber hinaus waren wir Ende März mit der Band im Studio und haben den ersten neuen Muff Potter Song seit 11 Jahren veröffentlicht. Das wäre ohne Corona sicher nicht passiert, zumindest nicht so schnell. Dann erschien Ende April der neue Roman, so dass ich mit Interviews und vereinzelten Auftritten beschäftigt war. Im Zuge des Romans kamen nach und nach immer mehr Anfragen für neue Texte und andere Projekte rein. Ich hatte also trotz Corona kaum Ruhe in den letzten Monaten. Im Gegenteil hatte ich eher das Gefühl, dass diese Krise und die ganzen mit ihr verbundenen Unsicherheiten eine gewisse Grundnervosität eher befeuert haben. Was manchmal unangenehm sein, sich aber auch in einem stärkeren kreativen Output äussern kann.

Und hast du an deine Figuren gedacht – der Taxifahrer, die Sanitäterin, die Fahrradkurierin, die Neukölln-Kids – was die wohl zu Stay-the-fuck-Home sagen würden?

Absolut. Ich habe auch mit einigen meiner Interviewpartner darüber gesprochen, was diese Krise für sie und ihre Tätigkeit bedeutet. Diese Pandemie hat an vielen unterschiedlichen Stellen soziale Ungleichheiten aufgezeigt und natürlich auch verstärkt. Für einen Jugendlichen in Neukölln, der mit der sechsköpfigen Familie in zwei Zimmern wohnt, bedeutet Stay-the-fuck-home eben etwas eklatant anderes als für Arnold Schwarzenegger, der mit einer kubanischen Zigarre in seinem Whirlpool in Kalifornien hockt und so einen Spruch als irgendwie lustig gemeinte Videobotschaft an seine Fans raushaut. 

Die Charaktere wirken extrem lebendig. Jedes Kapitel spielt in einer eigenen «authentisch» wirkenden Lebenswelt, mit einer der jeweiligen Figur eigenen Sprache. Ich habe mir beim Lesen vorgestellt, dass es sie wirklich geben muss – sie sind also in Interviews entstanden?

«Arbeit» hat 13 Hauptfiguren, Männer und Frauen zwischen 16 und 60, darunter Ostberliner, Westberliner, Zugezogene und Geflüchtete, und sie entstammen ganz unterschiedlichen sozialen Milieus. Um Klischees zu vermeiden, oder auch mit Klischees zu spielen, sind Duktus und Habitus hier also sehr wichtig. Die Figuren sind aber nicht 1:1 echten Personen nachempfunden. Ich habe für jedes Kapitel sehr viele teils sehr unterschiedliche Menschen interviewt, manchmal stundenlang oder mehrmals hintereinander, und natürlich auch sonst viel recherchiert, gelesen usw.

Eine meiner Lieblingsfiguren ist der Taxifahrer, der hobbymässig offenbar furchtbare Musik produziert und seine Demos nebenbei im Taxi laufen lässt, um die Reaktionen seiner Fahrgäste zu beobachten. Wie ist deine Beziehung zu den Figuren, wen magst du am liebsten und wen kannst du nicht leiden?

Ha, das ist so wie die Frage, welches seiner Kinder man am liebsten mag… Ich mag all meine Figuren, ehrlich. Auch wenn wir mal politisch nicht auf einer Linie liegen und auch wenn nicht alle durchweg sympathisch sind. Vielleicht gerade deswegen. Romanfiguren müssen nicht sympathisch, sondern interessant sein, und ich hoffe, dass es mir gelungen ist, jeder einzelnen gerecht zu werden.

Dein Roman heisst «Arbeit», tatsächlich zeichnet er ein Bild der sogenannten Arbeit der Zukunft, die schon längst in unserer Gesellschaft angekommen ist: Überwachung, Beschleunigung, Prekarisierung durch Digitalisierung. Inwiefern betrifft dich diese Tendenz oder anders: Was ist die Story hinter der Geschichte? 

Als ich in den Nullerjahren nach Berlin zog, hiess es noch, dort würde niemand arbeiten, da würden alle nur feiern. Mal abgesehen davon, dass Berlin immer teurer und «normaler» wird, war das damals schon eine sehr verkürzte und ignorante Aussage, die viel über die Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung von Privilegien und Klassenstrukturen in diesem Land aussagt. Oft wird vergessen, dass man sich auch das Feiern in den coolen Clubs erst einmal leisten können muss. Nicht nur finanziell, sondern auch gesundheitlich, durch die «richtige» Herkunft oder Hautfarbe oder durch das Erlernen der richtigen Codes, um es am Türsteher vorbei zu schaffen. Ich glaube, dass sich über die Zwölfstundenschicht eines Taxifahrers oder einer Notfallsanitäterin oder die Arbeitsbedingungen einer Essensauslieferin viel mehr über eine Figur, eine Stadt und eine Gesellschaft erzählen lässt, als über das Drei-Tage-Wach in einem angesagten Club. 

Du zeigst ein Berlin, das zunehmend auf die Bedürfnisse von Partytouris und Bonzen zugeschnitten ist, auf Kosten der Bevölkerung. Lebst du noch gerne dort? 

Natürlich ist Berlin immer noch eine wahnsinnig interessante Stadt und zum Glück auch noch nicht so teuer und tot wie Paris, London oder New York. Aber ich hatte in den letzten Jahren häufiger mit Berlin-Koller zu kämpfen. Grosse Teile des Buches sind in einem ehemaligen Bienenhäuschen in der Märkischen Schweiz (Brandenburg) entstanden.

«Ich will schreiben wie Film», sagt die Erzählerin in Irmgard Keuns «Kunstseidenen Mädchen». Daran musste ich bei deinem Roman oft denken: Geschrieben wie Film. Wie kommts? 

Puh, keine Ahnung. Vielleicht liegt es an den Dialogen? Ich mag gesprochene Sprache und lasse meine Figuren im Zweifel lieber einfach reden, statt als Erzähler ständig psychologisierend einzugreifen.

Ich musste beim Lesen auch an die Trilogie von Virginie Despentes denken. Vergleichst du dich mit ihr und «Arbeit» mit «Vernon Subutex»? 

Ich mag Virginie Despentes und mochte die Vernon Subutex Trilogie, wenn auch nicht alle drei Bände gleichermassen. Ein anderer grosser Einfluss war John dos Passos´ «Manhatten Transfer», dessen Form mich sehr beeindruckt hat. Der Roman ist von 1925 und hat viele Charaktere, die teilweise einfach wieder verschwinden, die Handlung erstreckt sich über zweieinhalb Jahrzehnte. Am Anfang war die Idee, «Arbeit» ganz ähnlich anzugehen, nur eben verdichtet auf die 12 Stunden einer Freitagnacht Ende März, wenn die Nacht genauso lang ist wie der Tag. Erst nachdem ich eine erste Fassung geschrieben hatte, entschied ich mich, alles noch einmal aufzubrechen, auf das chronologische Erzählen zu pfeifen und jeder Figur ein eigenes Kapitel zu geben.   

Du bist auch Musiker, als Sänger der Band Muff Potter – was ist der Unterschied vom Lieder- und Bücherschreiben? 

Beim Schreiben ist man natürlich viel mehr alleine, auch wenn mir die teilnehmende Beobachtung und der Austausch mit Menschen sehr wichtig ist. Ich geniesse es auch sehr, einen Schlagzeuger hinter mir zu haben, auf dessen Beat man in guten Momenten nur zu surfen braucht. Diese magischen Momente stellen sich beim Schreiben seltener ein, aber es gibt sie.

Du bist nicht zum ersten Mal in der Roten Fabrik, worauf freust du dich? 

Es ist mein bisher erster und einziger Auftritt mit «Arbeit» ausserhalb Deutschlands, da kann ich mich mal für einen Tag schön international fühlen. Ausserdem ist Zürich eine tolle Stadt und es gibt immer so gutes Essen. Bitte alle vorbeikommen und mit mir essen und trinken, bitte!

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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