Im rheinischen Revier wehren sich Menschen seit Jahren mittels Waldbesetzungen und direkter Aktion gegen den Braunkohleriesen RWE. Am Sihlquai in Zürich kämpfen Mieter:innen gegen einen der grössten Detailhändler des Landes. Der erste Kampf scheint aussichtslos, der zweite wurde bereits verloren. Was können wir dennoch von ihnen lernen?
Der aktuelle Zankapfel trägt den unaufgeregten Namen Lützerath. «Die Frontlinie» nennen Indigo (26) und Ronnie (24) das kleine Dorf in NRW, rund 60 Kilometer nordwestlich von Köln. Der deutsche Konzern RWE, in den Medien oftmals auch als «der Braunkohlegigant» bezeichnet, steht mit Baggern davor, denn für die geplante Ausdehnung des Tagebaus Garzweiler muss das Dorf, wie bereits dutzende Male davor, weichen.
Lützerath heute als Dorf zu bezeichnen ist zynisch, bestenfalls nostalgisch, denn die einstigen rund 90 Bewohner:innen haben den Ort in den letzten Monaten verlassen; geblieben ist nur ein einziger Landwirt. In den Ort gekommen sind dagegen Klima-aktivist:innen aus ganz Deutschland. So wie Ronnie und Indigo. Sie wirken aufgeweckt und fröhlich, als sie sich ins Zoom-Gespräch einwählen. Es ist Morgen, die beiden frühstücken gerade. Sie tragen dicke Schals und Mützen, im Hintergrund sind die Wände des aus zusammengeschlagenen Brettern errichteten Baumhauses zu sehen.
Dino Residovic (32) dagegen erscheint vor den weissen Wänden einer beheizten Wohnung im Zentrum von Zürich zum Zoom-Gespräch. Sein Kampf gegen die Übermacht ist bereits vor Monaten gescheitert. Über fast anderthalb Jahre hinweg hatte sich Residovic zusammen mit anderen Mieter:innen gegen die Vertreibung aus den beiden Wohnhäusern am Sihlquai 280 und 282 in Zürich durch Coop Immobilien gewehrt. Im November 2020 hatten die 25 Parteien kurzfristig die Kündigung erhalten, da Coop Immobilien die beiden Häuser zu Büroräumen, Laboratorien und einer Testbäckerei für den nahegelegenen Swissmill Tower umfunktionieren möchte. Ein Teil der damaligen Mieter:innen tat sich zusammen und rief unter dem Motto «Forever Sihlquai» eine Kampagne ins Leben. Sie involvierten den Mieter:innenverband und holten Politiker:innen ins Boot. Nach zahlreichen Demonstrationen, Aktionen, Besetzungen, öffentlichen Gesprächen und einem runden Tisch mussten Residovic und sein Mitbewohner die Wohnung im vergangenen September dennoch verlassen.
«Ich weiss, dass meine damalige Wohnung heute immer noch leer steht», erzählt er. Da die Verträge einiger der Hauptmieter:innen bis März 2022 verlängert wurden, die Rechtsstreitigkeiten aber noch anhalten, vermutet er, dass «seine» Wohnung als eine Art Puffer für den Streitfall freigehalten würde.
«Schule des Widerstands»
Die Übermacht, der sich Ronnie und Indigo in NRW gegenübersehen, ist beinahe monströs – und zumindest in Zahlen um einiges imposanter als eine finanzstarke Immobilienfirma: Der Kohletagbau Garzweiler von RWE umfasst gesamthaft eine Fläche von knapp 31 Quadratkilometern. 35 bis 40 Tonnen Braunkohle werden hier jährlich aus dem Boden geholt. Zum Kampfsymbol gegen den seit 2006 im Bau befindlichen Erweiterungsbau Garzweiler 2, ja zum Symbol gegen die Braunkohle überhaupt, wurde der Hambacher Forst, von dessen Verteidi-ger:innen auch liebevoll «Hambi» genannt. Über fast sechs Jahre hinweg besetzten hunderte Aktivistinnen immer wieder Waldstücke und die umgebenden Dörfer, es kam in diesem Zusammenhang zu massenhaftem zivilen Ungehorsam, zu der Besetzung von Schienen und Autobahnen, zu Grossaktionen der Aktionsgruppe «Ende Gelände» und zu hunderten von Verhaftungen und Gerichtsprozessen. Im Sinn der Befriedung der aufgeheizten Lage und zum Schutz einzelner bedrohter Tierarten, welche im Forst heimisch sind, entschied ein Gericht 2018 die Rodung vorläufig zu stoppen. RWE befindet sich seither im Rechtsstreit. Anderswo, namentlich in der Region um Lützerath, soll es derweil vorangehen. Ronnie und Indigo, wie sich die beiden aus Kassel und Berlin nennen, sind zwei von rund 150 bis 300 Aktivist:innen in der sogenannten ZAD Rheinland (Zone a defendre oder Zone to defend), zu der grössere Teile der betroffenen Gebiete zählen, wie auch die Hüttensiedlung «Unser Aller Wald».
«Als wir den Ort hier ins Leben riefen, hatten wir die Idee, dass wir das Ganze als Schule des Widerstands bezeichnen können», erzählt Ronnie. Ziel sei es gewesen, innerhalb eines konkreten politischen Kampfes alternative Formen der Organisation und des Zusammenlebens zu etablieren: «Alle Menschen tragen zu dem Projekt auf die Art und Weise bei, wie sie es für sinnvoll erachten und dafür bekommen sie quasi bedingungslos, was sie brauchen.» Indigo fasst zusammen: «Manche stehen morgens auf und bauen eine Barrikade oder ein Bauhaus, andere stehen noch davor auf kochen Kaffee für alle, und einige schlafen auch bis am Mittag».
In Zürich erinnert sich derweil Dino Residociv an die Anfänge von «Forever Sihlquai» als die Gruppe gerade erst zusammenkam und das Vorgehen noch völlig unklar schien. «Es hat alles sehr lose angefangen, doch die einzelnen Rollen kristallisierten sich schliesslich heraus.» Neben den anfangs unterschiedlichen Erwartungshaltungen innerhalb der Mieter:innenschaft sei es dann schnell auch zentral geworden zu erfragen, wer was kann, wer was gerne macht und wer welche Kontakte pflegt: «Wer macht die Medien? Wer kümmert sich um die Mobilisierung? Wer kennt Anwälte und wer versteht das Baurecht? Jeder und jede kann irgendwas besser macht etwas lieber. Gerade auch dadurch konnten verschiedene Menschen in die Kampagne eingebunden werden.» So waren gegen Ende sechs Personen in der Kerngruppe , die sich um die Verteidigung der beiden Häuser kümmerten. Mit einigen seiner damaligen Mitstreiter:innen seinen mittlerweile richtige Freundschafen entstanden, sagt Residovic. Doch das heisst nicht, dass es immer einfach war: Wo so eng zusammengespannt wird, gilt es, Konflikte zu überwinden, Diskussionen auszuhalten.
Das wissen auch Ronnie und Indigo: In «Unser aller Wald» etwa hätte es zum Beispiel Streiks von FLINT (Frauen, Lesben, inter und trans) Personen gegeben, da sich diese mit grossen Teilen der Care- und Reproduktionsarbeit alleingelassen fühlten. «Wir kommen alle aus einer Gesellschaft, in der wir verinnerlicht haben, auf Kosten anderer zu leben und jegliche Formen der Diskriminierung zu reproduzieren. Das löst sich nicht einfach in Luft auf», so Ronnie. Eine Awarenes-Struktur kümmere sich seit kurzem um entsprechende Zwischenfälle; Diskussionen und Reflektionen innerhalb der Gruppe finden regelmässig statt. Die Frage danach, wie Alternativen geschaffen werden könnten, bedeute eben auch zwangsläufig Konflikte auszutragen.
Dino Residovic erinnert sich: «Wer die einzelnen Erwartungshaltungen abholt, muss den Menschen auch sagen, dass es nicht einfach wird.» Immer wieder sei es am Sihlquai zu Situationen gekommen, in denen die einzelnen Kräfte diffus unterschiedliche Vorgehensweisen anstrebten. Dadurch seien Zielkonflikte entstanden und die Gruppendynamik litt. «Es ging oft auch darum, wie militant wir das Ganze angehen möchten. Manche kamen mit ganz anderen Vorstellungen an, als es andere im ersten Moment für vertretbar hielten.»
Ronnie erzählt, dass es auch bei Ihnen immer wieder Debatten darüber gäbe, wie bei der Verteidigung der ZAD agiert werden wolle, wo die Grenze zwischen Anschlussfähigkeit und Militanz zu ziehen sei. Dass das Kernziel aber sei, mehr ein emanzipatorisches Projekt zu errichten als nur einen Abwehrkampf zu führen, helfe bezüglich des Konfliktpotentials. Für diese Richtungsdiskussionen sei es, zentral Organisationsstrukturen zu haben, die dafür taugen, dass möglichst viele Menschen miteinbezogen werden können. Dazu gehört eine transparente Entscheidungsfindung auf allen Stufen und auch die allgemeine Bereitschaft, Strukturen flexibel anzupassen, wenn sie nicht funktionieren. Zentral sei es zudem, sich auf gemeinsame Ziele festzulegen, ohne bei allen Ausführungen oder weitergehenden Vorstellungen Konsens vorauszusetzen: «Bei uns sind Menschen, die Lohnarbeit abschaffen wollen und die Revolution fordern, aber auch Menschen, die einfach nur Lützerath verteidigen wollen», so Indigo. Gerade wegen solcher Dynamiken sei es für die Gruppe um «Forever Sihlquai» zentral gewesen, sich regelmässig zu treffen, die Ziele abzugleichen und Kompromisse zu finden, sagt Dino Residovic. Aber: «Auch diese Kompromissfindung funktionierte nicht immer und ich ging auch mal wütend ins Bett».
Was trotz allem noch Monate später an ihm nagen würde, sei die Annahme, dass die beiden Häuser eventuell eine Chance gehabt hätten, wenn nicht so viele der langjährigen Mieter:innen von damals bereits frühzeitig ausgezogen wären. «Wir hätten viel aktiver und radikaler in diese Geschichte reingehen sollen, schneller eine Perspektive schaffen. Anfangs dachten wir noch, wir müssen mit den Akteuren schön der Reihe nach reden und uns quasi in der Hierarchieleiter hocharbeiten. Rückblickend war das ein Fehler».
Über den Kampf hinausdenken
Neben internen Konflikten befinden sich Aktivist:innen, die sich einem grossen Projekt, einem gesellschaftlichen Wandel oder einer finanzstarken Institution in den Weg stellen, oftmals auch in einer anhaltenden Dissonanz gegenüber sich selbst: «Ich glaube, dass gerade auch in diesen alternativen Aufbau-Prozessen Burnout-Potential lauert, weil Menschen schnell dazu neigen zu denken: Wenn das hier nicht funktioniert, dann funktioniert es nirgends», sagt Indigo. Dies als logischen Fehlschluss anzuerkennen und den eigenen Kampf stattdessen bewusst als Teil einer grösseren Bewegung zu begreifen, sei für sie stets zentral gewesen, um auch mit vermeintlichen Niederlagen zurecht zu kommen.
«Was mir bei dieser emotionalen Achterbahnfahrt der letzten Monate geholfen hat, waren zwei Sachen: Zum einen der bereits erwähnte aktive Austausch mit anderen Teilnehmenden aus der Gruppe und zum anderen breite Solidarität aus der Bevölkerung», sagt Dino Residovic. «Zu wissen, dass man einen gewissen Rückhalt geniesst, auch wenn etwas aussichtslos scheint, hat mir immens durch diese Zeit geholfen.»
Auch für Lützerath kommt nüchtern gesehen jede Hilfe zu spät. Das Dorf ist verlassen, nur der Bauer Eckardt Heukamp, der den Konzern nun vor dem Oberverwaltungsgericht Münster dafür angezeigt hat, sein Land vor der rechtmässigen Enteignung bereits beschädigt zu haben, ist noch da. Ein Gerichtsentscheid zu seinen Gunsten würde zwar keinen Abzug des Kohleriesen bedeuten und auch keinen Sieg für die Klimabewegung, hätte jedoch zumindest eine symbolische Bedeutung. Das Urteil wird in Kürze erwartet. «Es kann gut sein, dass gegen uns entschieden wird. Dann sind wir darauf vorbereitet, dass RWE versuchen wird, uns zu räumen», sagt Indigo. Wie es nach Lützerath weitergeht, würde momentan diskutiert. Den Kampf gegen RWE und für Klimagerechtigkeit aufzugeben, kommt für Ronnie und Indigo desweilen nicht in Frage.
Dino Residovic sagt: «Forever Sihlquai hat mich politisiert.» Aufgrund seiner Erfahrungen hat der 32-Jährige angefangen, sich im offenen Mietplenum in der Zentralwäscherei in Zürich zu engagieren. Denn: «Auch wenn wir den Sihlquai nicht verteidigen konnten, so meine ich immer noch, dass wir die moralischen Sieger:innen dieser Geschichte sind. Das gibt mir Mut.»