Was passiert, wenn eine Berufslesbe sich mitten im Wahlkampf unverhofft mit einer Antifeministin auf der Tanzfläche wiederfindet? Gibt es Leute, die so daneben sind, dass man sie boykottieren muss – oder sind wir unter der Discokugel alle gleich? Eine unheilige Allianz für eine Nacht.
Eigentlich hatte ich keinen Grund, mich auf dieses Podium zu freuen. Organisiert war es von den Jungfreisinnigen, die gleich zu zweit mitdiskutieren würden. Thematisch ging es ums Nachtleben, was bisher nicht mein Fokusthema war. Und: Mit auf dem Podium war Camille Lothe.
Camille Lothe ist der Albtraum jeder Linken. In puderrosa Videosettings lästert sie über die «Genderideologie» und zückt auch mal stolz das Sturmgewehr. Die Medien nennen sie «Anti-Greta», weil sie aus Überzeugung viel fliegt. Und: Sie wettert aktiv gegen feministische Anliegen, während sie optisch traditionelle Ansprüche ans Frausein erfüllt.
Kürzlich wurde ich in einem Interview gefragt, wer meine Nemesis ist. (Das ist ein hipperes Wort für Erzrivalin.) Ich zuckte etwas unsicher mit den Schultern. Wenige Stunden später schickte mir die Journalistin, selbst jung und links, ein Video von Camille Lothe zu. Nachdem ich mir die ersten dreissig Sekunden angesehen hatte, wusste ich auch, wieso.
Enttäuschende Einigkeit
Ich bin in der Juso. Weil ich sehr feministisch bin, sehr gay und sehr links. Diese Eigenschaften schreibe ich mir schon lange zu; bei der Juso aber bin ich erst seit einem Jahr. Darum ist es mir auch neu, über andere Themen zu diskutieren als Gender und Homosexualität. Zum Beispiel über Nachtleben. Im Plaza. Im Plaza! Dem Mainsteam-Club, in dem ich nicht mehr war, seit ich Gay-Partys entdeckt habe!
Nun stand ich also im Plaza, um mich herum zwei gute Handvoll Jungfreisinnige. Sie trugen Anzüge und casual Nicht-Anzüge, bestellten sich Cocktails namens «Freiheit» und verteilten Flyer, die so clean waren, dass ich sie erst für Immobilienwerbung hielt. Dann kam Camille Lothe, genau so aussehend wie in ihren Videos, und schüttelte mir freundlich die Hand. Wir drapierten uns auf dem Podium; Camille, ein Mann und eine Frau der Jungfreisinnigen, ein Junger Grüner und ich. Im Publikum: Nur Schläckis. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade eine interne FDP-Veranstaltung gecrasht, und tröstete mich damit, dass es nun immerhin losging: Das Streiten. Das Uneinigsein. Das Buhlen um Argumente, Worte und Redezeit.
Wir sassen also auf diesem Nachtlebenpodium und… waren uns einig. Ich traute meinen Ohren kaum: Der jungfreisinnige Schläcki sagte, Drogen müssten legalisiert werden; Camille widersprach nicht. Camille sagte, Frauen seien im Ausgang unangebrachtem Verhalten seitens Männer ausgesetzt, die Männer widersprachen nicht. Ich sagte, alternative Räume seien wichtig, die Rechten widersprachen nicht. Ich stimmte meinen Oppenenten und Opponentinnen so oft zu, dass ich fürchtete, nächstens würde Ronja Jansen reinstürmen und mich höchstpersönlich aus der Juso rausschmeissen.
Sympathisch wider Willen
Dann war das Podium zuende. JSVP und JFDP gingen was trinken in der Bar, danach blieben sie alle noch für die darauffolgende Studierendenparty. Ich hingegen ging mit einem Kumpel, der im Publikum gesessen hatte, in ein Vegi-Restaurant. Wie hippe Linke das halt so tun.
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, meine Podiumsleute wiederzusehen. Aber mein Kumpel hatte sein Fahrrad noch beim Plaza. Da standen sie, Camille und zweidrei Schläckis. «Du bist wieder da!», riefen sie zu meiner Überraschung freudig, «jetzt kommst du aber noch mit rein, oder?» Die Party hatte soeben angefangen, erste Leute standen vor dem Club an. Ich guckte zu meiner Begleitung, die im Begriff war, sich zu verabschieden. Dann sah ich zu Camille Lothe, die mich aufmunternd anblinzelte. Fuck it, dachte ich. Ich nutze jetzt meinen Gratiseintritt. Und sei es nur für drei schlechte Lieder.
Auf dem Weg zur Garderobe sah ich den einzigen Bekannten, den ich diesen Abend treffen würde: Ein junger Iraner, der in die Schweiz geflüchtet ist, weil er queer ist. Phu, dachte ich, an den kann ich mich nachher ranhängen, wenn ich niemanden kenne.
In dem Moment stellten sich zwei junge Männer neben mich. «Hey, du kamst ja gar nichts mehr mit uns trinken», sagte der eine, der sich als Eduardo vorstellte. «…aber schön, dass du wieder hier bist», ergänzte der andere, der Klaus hiess. Ich hatte sie noch nie gesehen, aber sie mich schon: Die beiden hatten im Publikum gesessen. Eduardo trug über seinem weissen Hemdkragen einen offenen Schal. Klaus’ Kreuz, das er um den Hals trug, war dreimal überdimensionierter als mein Fünfräpplergrosser Davidstern. Sie sahen sehr anders aus als die Männer, mit denen ich sonst so meine Tanznächte verbringe.
Auf dem Dancefloor fanden wir die anderen: Jungfreisinnige Frauen und Männer und Camille. Sie freuten sich sichtlich über unser Dazustossen, und sie waren zum Tanzen aufgelegt. Ich auch. Vor allem bei R’n’B und Hiphop, die ich manchmal vermisse in meinem queeren Ausgang. Wir tanzten strahlend zu Musik, in deren Texten so oft «hoe» und «bitch» vorkam, dass man denken könnte, das Wort «woman» existiere nicht.
Ich weiss noch, wie ich früher an diesen Partys war. Als ich nicht wusste, dass es eine andere Welt gab. Dass eine andere Welt möglich war. Ich weiss noch, wie ich dachte: Warum bin ich nicht glücklich?
Nun war ich wieder an der gleichen Party.
Und dachte: Warum bin ich glücklich?
Flirten mit Grenzen
«Wir müssen das festhalten», rief Camille, «Selfie!» Unsere Gruppe begab sich in den Gang, wo das Licht besser war, und grinste in die Kamera, Arm in Arm. «Und jetzt alle: Soziii!», sagte Enrico. Ich musste daran denken, dass die Juso mal ein Fussballturnier für Jungparteien veranstaltet hatte. Das Team der Jungfreisinnigen nannte sich selbst «FC Kapitalismus».
Mein iranischer Kumpel ging an mir vorbei, mich anlächelnd. Was, wenn er an meiner Stelle gestanden hätte? Wäre er auch so warm aufgenommen worden in diese unheilige Allianz? Oder war ich einfach weiss genug, feminin genug, nett genug für ein Tänzchen zu Rihanna?
Wir alle kokettierten mit unserer Zugehörigkeit, weil der Kontrast so reizvoll war. Die Schläckis machten Greta-Witze, und Camille erzählte mir, sie sei eigentlich pro Ehe für alle. In dieser Nacht flirteten wir mit unseren Grenzen, während wir uns tagsüber darüber stritten, welche Grenzen überhaupt Sinn machen.
«Hört auf, meine Vorurteile zu zerstören, ich brauch die noch!», schrieb ich auf dem Heimweg zum unheiligen Selfie, das ich auf Insta postete. Ich meinte das ironisch – aber ich meine es auch ernst. Warum nenne ich junge Männer Schläckis, die den ganzen Abend genuin lieb waren zu mir? Und warum bin ich nett zu einer Frau, die aktiv Frauenfeindlichkeit in unserem Land vorantreibt? Will ich wirklich tanzen an der Seite von Menschen, die sich über Greta Thunberg lustig machen, während die Klimakrise unsere Lebensgrundlage bedroht?
Menschenrechte statt rechte Menschen?
Die eigentliche Frage ist: Gibt es Menschen, die man boykottieren sollte? Und wenn ja, welche? Mit Nazis würde ich niemals tanzen gehen – die würden mich wohl auch nicht lassen. Nazis boykottiere ich also, weil sie menschenverachtende Ansichten haben. Aber was ist mit meiner unheiligen Allianz dieses Abends: Sind sie nicht dafür, dass Flüchtlinge im Mittelmeer sterben, dass unser Land Kriegsmaterial exportiert und Arme ärmer werden? Das macht sie nicht zu Nazis. Aber es macht ihre Ansichten menschenfeindlich. Also ab welchem Punkt bin ich nicht mehr nett mit meinen politischen Opponenten? Ab dem Hitlergruss?
Der Abend war eine fröhliche Koketterie mit Feindbildern. Aber er warf wieder bekannte Fragen auf, die ich jetzt noch schlechter beantworten kann als zuvor. Sind wir, die wir für Menschenrechte sind, automatisch gegen rechte Menschen? Aber wie rechts ist rechts? Es brauchte eine Jungpartei, damit ich Feindbilder entwickelte. Es brauchte den Wahlkampf, um meine Nemesis zu finden. Was aber, wenn deine Nemesis dich strahlend auf der Tanzfläche willkommen heisst? Ist das gut für eine kompromissbasierte Demokratie – oder schlecht für eine Welt, in der rechte Hetze ohnehin schon als normal gilt?
Mit keinem dieser Ausgangs-Gspänli hatte ich seither Kontakt. Klaus folgt mir jetzt auf Instagram. Mein Facebook-Algorithmus zeigt mir mehr jungfreisinnige Werbung. Und ich sehe mir unser unheiliges Selfie an und denke: Scheisse, ich sehe viel zu glücklich aus.