Über 100 Mal wurden die Zürcher*innen in den letzten vier Jahren um Ihre Meinung und Ihre politischen Präferenzen gefragt. Ein Privileg für das nicht nur Zürich von ausländischen Beobachtern oft bewundert und manchmal gar benieden wird. Einher mit der häufigen Befragung des Willens der Bevölkerung geht allerdings auch eine grosse Müdigkeit. Denn im Vergleich mit anderen Ländern verzichtet regelmässig eine Mehrheit darauf, ihre Meinung auch kundzutun.
Und so erstaunt es nicht, dass auch in wenigen Wochen, wenn Zwischenresultate, Analysen und Hochrechnungen zu den Eidgenössischen Wahlen herumgereicht werden, die Frage auftauchen wird, welche Parteien und Kandidaten es geschafft haben, die Wahlbevölkerung zu mobilisieren. Und wie es überhaupt um die allgemeine Wahlbeteiligung steht. Sie liegt in der Schweiz mit jeweils unter 50% konstant auf tiefem Niveau und auch bei eidgenössischen Volksabstimmungen liegt die durchschnittliche Beteiligung gerademal bei 45%.
Dabei treffen die Politiker*innen, die künftig im National- und Ständerat sitzen, während jeder Session Entscheidungen die das Leben, die Lebensräume und die Lebensumstände von 8 Millionen Menschen beeinflussen. Was sind die Gründe, weshalb sich eine (wenn auch nicht immer gleiche zusammengesetzte) Mehrheit der Bevölkerung nicht mit der Frage auseinandersetzt, wer sie repräsentieren wird? Und das Wahlcouvert statt in die Urne lieber ins Altpapier legt. Warum geht jemand wählen? Und weshalb eben nicht?
Während Wahlpräferenzen vor und nach Abstimmungen jeweils ausführlich Beachtung finden, tun sich Analysten und Wahlforschung schwer mit Erklärungen zur politischen Abstinenz. Sie ist der blinde Fleck in jeder Demokratie. Dabei müsste das Interesse für die Gründe, einer Wahl oder Abstimmung fernzubleiben, eigentlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Schliesslich spielt es eine wesentliche Rolle, weshalb Menschen demokratischen Prozessen fernbleiben: Sind diese Personen ganz einfach mit der aktuellen politischen Entwicklung zufrieden? Stehen ihnen Hürden bei der Teilnahme im Weg? Oder haben sie sich frustriert und resigniert zurückgezogen? Sind es Menschen, die in prekären Situationen leben und viel unmittelbarere Sorgen haben? Oder sind es Individualisten und Hedonisten, die sich mehr für sich selbst als für die politische Auseinandersetzung erwärmen? Und, wie sieht es mit den nicht stimmberechtigten Personen aus? Sie stellen über einen Viertel der Bevölkerung in der Schweiz dar. (Was) würden denn diese abstimmen, sofern sie es könnten?
Auskunft darüber ist einigermassen schwer zu bekommen. Da politische Teilnahme als sozial erwünscht gilt, gibt es nicht viele, die sich offen darüber äussern, dass sie nicht wählen oder abstimmen gehen. Klar ist nach dem heutigen Stand der Wahlforschung, dass Nichtwähler*innen alles andere als eine homogene Einheit bilden.
Die Vielfalt an unterschiedlichen Gruppen zeigt auf, wie wichtig eine Diskussion über die Gründe von politischer Abstinenz ist. Warum gehen bestimmte Personen wählen und andere nicht? Wie lassen sich Nichtwählerinnen definieren und zuordnen? Gibt es in bestimmten politischen Milieus mehr überzeugte Nichtwähler ? Gibt es weniger in Landsgemeinden? Ist politische Abstinenz ein Ausdruck der Zufriedenheit oder der Resignation?
Wir haben für diese Ausgabe der Fabrikzeitung Politikwissenschaftler um eine Einordnung und Stimmberechtigte und Nicht-Stimmberechtigte um ein Gespräch gebeten. Und durften feststellen, dass kein Grund zur Sorge, doch ausreichend Anlass zum Handeln besteht. Schliesslich ist es eine Sache, wenn sich einzelne Wahlberechtigte selektiv zur Nicht-Teilnahme entscheiden und sich damit ihrer Handlungen bewusst sind. Es darf uns jedoch nicht egal sein, wenn Menschen nicht gefragt werden, sie sich nicht ernst genommen fühlen oder mit der Auseinandersetzung überfordert sind. Für eine lebendige und gelebte Demokratie müssen sie eingebunden, ermutigt und ermächtigt werden. Damit sie, wenn sie das nächste Mal gefragt werden, auch antworten können. Oder sich entscheiden, auch mal darauf zu verzichten.