Rio de Janeiro!
Lädt ein. Zum Literaturfestival in die Favela.
Moralische CO2-Bedenken kommen gegen die liberal-hedonistische innere Stimme nicht an: Es ist für die Kunst! Kultureller Austausch! Und das ist Arbeit, und Arbeit darf alles und überall!
Überlegungen zu Sicherheit werden vom aktuellen Lonely Planet weggefegt: Rios Favelas sind spätestens seit der Olympiade befriedet und THE place to be: Very authentic, crazy streetart, fancy hostels.
Suche ich also bei Airbnb und werde sofort fündig – modernes Apartment zuoberst auf dem Hügel, fantastischer View, spottgünstig, viele Sterne, begeisterte Bewertungen.
Die Erwartungen werden noch übertroffen. Bei Ankunft in der 24/7 Bar am Favela-Eingang nappen um neun Uhr morgens gestandene Männer in Bierlachen. Mit feierlichem Pathos wird uns eröffnet, wie bemitleidenswert ahnungslos wir sind: «We are very happy that you followed our invitation, even in this terrible time of war.»
Wie es um die sogenannte Befriedung in dieser Favela steht, sieht man am einzig verbliebenen Polizeiauto: Von beiden Seiten mit voller Wucht zugeparkt, dementsprechend Zieharmonika, eingeschlagene Fenster, zerstochene Pneus.
Alles ist tatsächlich viel authentischer als ausgemalt: Das City of God-Ambiente gewährleisten leimschnüffelnde Flaumgesichter, die mit schweren Feuerwaffen die unzähligen schmalen Treppchen der Hügelgemeinde bevölkern und ab und an einen Freudenschuss (fingers crossed) in die Luft knallen.
Auch die angepriesenen Graffitis sind nicht nur farbenfroh und ghetto-real, sie haben einen tieferen Sinn: Auf Nachfrage erfahren wir, dass beispielsweise die Portraits an unserer Hauswand zwei Jungs Tribut zollen, die Anfang Monat dort erschossen worden sind.
So stehen wir also mit vom Langstreckenflug geschwollenen Füssen auf unserer Terrasse. Blicken auf Copacabana Beach und seine Gated Communities. Sehen in die Gärten der Nachbarn, wo Hühner picken und Ratten quieken; wo Frauen Einkäufe die Treppen hochschleppen und Männer Ziegelsteine; wo Beton gemischt wird mitten auf der Strasse und Schweiss von Stirnen gewischt; wo Musik gehört und fern geschaut und Wäsche aufgehängt; wo Kinder – so metaphorisch! – Drachen steigen.
Kurz: Wir schauen auf Menschen, die sich nicht leisten können, hinter armdicken, automatischen Goldgattern zu leben. Die darum als Gutnachtbeat Maschinengewehr hören und nur hoffen können, morgen von keinem Querschläger getroffen zu werden. Die ihre Miete aber seit der «Befriedung» selbst hier fast nicht mehr bezahlen können – weil plötzlich «In-Quartier« und «Künstlermagnet».
Und merke: Schon wieder finde ich mich im Elfenbeinturm.
Hab mir den besten Aussichtspunkt im chic vermarkteten Armenviertel erkauft auf Airbnb. Kann hier stehen und Selfies machen mit Panorama. Kann mich mutig fühlen dafür; das Exotische, Wilde, Anarchische auf mich wirken, mich inspirieren lassen. Aber wenn ich vom Nervenkitzel genug habe, kann ich meine Sachen packen und gehen.
Und wenn’s in einer Woche hier wirklich losgeht mit dem Krieg, bin ich schon wieder ganz woanders.