Hier findet gerade ein Umbau statt. Meine hochstaplerischen kolumnistischen Fähigkeiten werden abgeworben von einer Zeitung, die auch tatsächlich gelesen wird – Augen, die diese Zeilen sehen und deren Brauen nun hochschnellen: Hallo! Juhu! Grüsse! Underground! Die Sonnenseite dieses Transfers ist strahlend: Wir dürfen hier nun jeden Monat die Kolumne von Anaïs Meier präsentieren. Die fettige
In Zeiten von Kulturschock
So ein Atelieraufenthalt unter Künstlerinnen in der Grossstadt ist schon eine feine Sache. Tagsüber wird im goldenen Käfig des Schweizer Instituts tunnelblickig gearbeitet und Unmengen vorzeigbares Kulturmaterial produziert; abends tummeln sich die aufstrebenden Stipendiaten aus aller Welt in einer der prestigeträchtigen Akademien, fressen Häppchen unter kolonialen Wandteppichen und tun wichtig. Und zehn Monate sind eine
In Zeiten von Hochstapeln
Das war meine Übersetzerin Jen, die mir davon erzählte. Wir sassen in Rom in einem Restaurant und redeten über Jobs, die wir früher gemacht haben, Verkauf, Gastro, Fleischtheke, und wie wir nun so selbstverständlich hier sitzen und unseren Traum von Büchern leben. Verrückt, sage ich, wie ist denn das passiert? Und Jen sagt, sie könne
In Zeiten von Desaster
Sonntagmorgen, weiterschlafen; wer aufsteht und Facebook hochfährt, sieht die Welt brennen und ihre Heldinnen fallen. Da hilft auch kein Yoga for After Desaster, wir sind ja noch mitten drin. Kurzfristig helfen könnte aber das Schliessen aller virtuellen Fenster und ein Blick aus einem richtigen – meins schaut derzeit auf den perfekten Rasen (betreten verboten!) einer
In Zeiten von messerscharfen Analysen
Der Bus holpert über antikes Pflaster und neuzeitliche Schlaglöcher; die römische Nachmittagssonne scheint golden auf Ruinen und Wahlplakate: «Prima gli italiani!» – «Italiener zuerst!» Verdächtig blonde Italofamilien lächeln da von oben herab. Tatsächlich hat sich gerade herausgestellt, dass es Gettyimages von Tschechinnen sind, die hier nun ungefragt arisch-nationalistische Italianità propagieren. Die absurden Auswüchse des rechten
In Zeiten von weiblichem Schreiben
In San Lorenzo, dem römischen Univiertel mit kommunistischem Fussballklubfanklub, findet ein alternatives Buchfestival statt. Live-Musik, Wein, und Jauchzer: der Verlag L’orma präsentiert neue Übersetzungen von Irmgard Keun. Ich dränge meine Begleitung, ein junger römischer Künstler und bekennender Feminist, eine zu kaufen. Er ziert sich. «Aber geht es um eine Frau? Du kannst dich natürlich identifizieren
In Zeiten von tropischen Anti-Gentrifizierungs-massnahmen
Rio de Janeiro! Lädt ein. Zum Literaturfestival in die Favela. Moralische CO2-Bedenken kommen gegen die liberal-hedonistische innere Stimme nicht an: Es ist für die Kunst! Kultureller Austausch! Und das ist Arbeit, und Arbeit darf alles und überall! Überlegungen zu Sicherheit werden vom aktuellen Lonely Planet weggefegt: Rios Favelas sind spätestens seit der Olympiade befriedet und
In Zeiten von Elfenbeintürmen
So schnell kann es gehen! Im einen Moment noch «prekäre Wohnsituation»: Baufällig bröckelnd, ohne Heizung, dafür mit auslaufendem Ölofen und ab und an tropfender Decke. Dazu die ständige Ungewissheit, ob einem die Bude nicht mitten in der Nacht zugunsten eines sympathischen Renditebaus abgerissen wird (die Bäume im Garten wurden vorsorglich schon mal gefällt). Und im
– Me too.
Tja. Eigentlich hatte ich schon eine Kolumne für diesen Monat parat. Und eigentlich wollte ich gerade raus an die Sonne – nur noch ganz kurz auf Facebook. Zuoberst in der Timeline lief ein Video (natürlich stumm, mit Untertiteln) und so nebenbei sah ich mir das an, während ich im Chat einen Text für die kommende
In Zeiten von Aggressions-bewältigung
Das Ding am Freischaffen ist ja, dass man sich selber dazu zwingen muss. Besonders im Sommer, wenn ich stattdessen den ganzen Tag am Rhein braten könnte, ist es ab und zu nötig, mir sogenannte Anreize zu schaffen. Ich locke mich z.B. ins Kafe an der Ecke, stelle die Beine in die Sonne und das Macbook
In Zeiten von Ungerechtigkeit
Grossartig ist die Ferienzeit im heissen, armen Süden! Palaver, Peroni, Pomodori – und all das zu einem Spottpreis. Die Früchte werden hier schliesslich von Sklaven geerntet, die freiwillig auf Booten herpilgern, damit wir armen Schweizer Künstler uns auch einmal freuen und mit beiden Händen zulangen dürfen. Ein solcher selbstloser Marocchino – vom Hautton her das
In Zeiten von Sommerferien
Wir haben neue Mitbewohner. Der eine hat gerade seinen naturwissenschaftlichen Bachelor gemacht und arbeitet nun im Labor; die andere kommt direkt aus dem Sprachaufenthalt in Malta und überlegt erstmal, wo sie als nächstes hinmöchte. Als wir uns kennenlernten, rollten beide bewundernd die Augen und seufzten: «Ihr seid ja alle so kreativ!» Und weiter: «Ihr habt
In Zeiten von Skandalautor-innenleben
Die Buchtour ist abgespielt. Ich zünde eine Wunderkerze an und schaue zu, bis sie abgebrannt ist. Heiliges Kanonenrohr, sage ich, was für eine Scheisse. Als ich noch auf Tour war mit den Preisboys, und in Hamburg mit Höthker unterwegs Junkies gucken, fragte er mich einmal: «Macht dir der ganze Zirkus eigentlich Lust auf mehr? Also
In Zeiten von Mitleid für bangladeschische Kinder
Alles kommt gut: Wenn sich 2030 die Welt gegen die Apokalypse verschanzt wie auf Helms Klamm, kommen am Horizont die UN angaloppiert. Sie preschen heran auf 17 schnaubenden Schimmeln, von denen jeder eine eigene globale Schlacht zu bezwingen hat: Kampf der Armut, dem Hunger, den Fischstäbchen, dem Patriarchat, dem Kopfrechnen, überhaupt allen schlimmen Dingen, Kampf
In Zeiten von Frühlingsgefühlen
Es wird wärmer, die Bäume schütteln ihre Pollen und am Sonntag brennt das grosse Himmelsscheit. Es weckt in jungen Kanaris das Verlangen, ihre eigene Mutter zu begatten, und im jungen städtischen Mann jenes, sich eine Wiese zu suchen, um darauf zu rennen. Am liebsten mit vielen anderen Männern zusammen hinter einem Ball her. Auch in
In Zeiten von Traumurlaub
Der Winter schmilzt langsam zum Frühling und die Weltreisenden kehren zurück. Noch ganz aufgekratzt, back in der Zivilisation zu sein, zeigen sie den Daheimgebliebenen, was wir verpasst haben: Tiefblaues Meer, bewaldete Felsen, einsame Strände mit verwehten Palmen, See voller Quallen, Robinson-Glamping auf privater Insel inklusive Koch und Haushälterin. Ich vergehe vor Neid und langweile mich
In Zeiten von Hoffnung
Nachdem die Festtage unverhofft friedlich vergangen sind, umarme ich meine Schwester am Zürcher Hauptbahnhof, bevor sie zurück in ihre Stadt fährt und ich zurück in meine. Wir stehen vor dem leuchtenden Kiosk, wickeln Glanzfolie von frischen Zigarettenpäckchen, wir haben noch ein paar Minuten vor dem letzten Zug. Sie sagt: Ich habe einen Essay gelesen, der
In Zeiten von Geschenkideen
Weihnachten naht und Facebook hält treffsicher meine Wunschliste bereit: Alle Produkte von Clearblue, eine finnische Babybox, Sixpacks am Strand, mindestens eine echte und ernsthafte Beziehung und – falls es unter dem Baum noch Platz hat: die Boobies meiner Träume. Und zwar in dieser Reihenfolge! Die finnische Kiste ist dabei wirklich bestechend: Eine weisse Zügel-Kartonschachtel, die
In Zeiten von Swissness
Künstlerfrühstück in der Schweizer Botschaft in Berlin. Draussen graut der Morgen, im Kaminsaal reiben sich die Geladenen die Augen. Lustig: Bis auf einen Quotenmann sitzen nur Frauen an der goldgeränderten Tafel. Ebenso weiblich sind die Botschafterin und ihre Delegation. Mir fällt die Diskussion ein, wie sich Frauen in hohen Positionen anziehen sollen – die Aufmachungen
In Zeiten von Lesereisen
Für einen Buchpreis nominiert zu sein, ist grossartig. Eine tiefgreifende Veränderung für das ganze Leben. Jeden Morgen wacht man auf und denkt: Ah! Ein neuer Tag als Nominierte. Aber es bedeutet vor allem, dass man seinen Nomations-Bonus wahrnehmen und abarbeiten muss: eine Lesung nämlich im dunkelsten Osten Deutschlands. (Nahe, ja sehr nahe von Bautzen.) In
In Zeiten von Rollenspielen
Ich liege am Strand in der Toskana und habe vor Faulheit ein schlechtes Gewissen. Mir fällt der Soziologe Goffman ein, der seinerseits einmal an einem schottischen Strand lag, Leute beobachtete und so seine Rollentheorie erfand. Diese besagt in etwa, dass alle Menschen ständig Rollen spielen, als wären sie Figuren in einem Theaterstück. Dazu tragen sie
In Zeiten von Debütantinnen
Man nennt mich jetzt Debütantin. «Unschuldig», schimpfen sie mich und «unverdorben». Wahnsinnig «erfrischend» finden sie dies, die selbsternannten alten Säcke des Literaturzirkus, neben die ich bei Veranstaltungsnachtessen gesetzt werde. Und die Hausfrauenautorinnen, die sich von dem Haufen Liebesromane-Geld SUVs und Gin Tonics kaufen, lächeln süsslich: «Wie nett von den Veranstaltern, dass sie auch so junge
BESETZT – Ein Volksstück
Vielleicht habt ihr’s gar nicht bemerkt: Die paar Rastas, Anarchos und Transparente mehr, die grad vor dem Clubraum rumhängen, verschmelzen ja harmonisch mit der Graffitiwand. Aber jetzt wisst ihr’s: Die Rote Fabrik ist besetzt. Eine Truppe aus Geflüchteten und Hausbesetzern hat die Kulturfestung eingenommen. Hineingestiefelt sind sie, direkt ins grosse Theaterfestival zum In-Thema Flucht. Ha,
In Zeiten von moralisch verfaulten Medienhäusern
Ein Journalist war mal einer, der was auf sich halten konnte. Heute ist er selbst bei den grössten Medienhäusern nicht davor gefeit, zur Volksverdummung beizutragen und fast ausschliesslich über Ekelhaftigkeiten zu schreiben. Eben das, was Klicks gibt und Likes und Kommentare; eben das, was die Leute wollen. Sein eingerahmtes Master-Diplom wird der junge Journalist spätestens
In Zeiten von existentia-
listischen Fragen
In letzter Zeit wird mir öfters gesagt, ich sei nicht normal. Oder genauer, was ich denke, sei nicht normal; das scheint mir dasselbe. Zum Beispiel im Philosophiekurs. Also an der Universität. Da beschäftigt uns gerade das grosse Zweifeln, ob wir eigentlich überhaupt etwas wissen können. Zum Beispiel, ob das, was gerade passiert, tatsächlich gerade wirklich
In Zeiten der Fasnacht
Die drei schönsten Tage. Endlich sind sie vorbei. Erst hab ich mir nicht viel dabei gedacht, als Zürcherin an die Basler Fasnacht. Dass eine Stadt mitten in der Nacht aufsteht, um drei Tage lang Radau zu machen, machte mich vor allem neugierig. Auch dass meine Jungfernschaft schon Wochen im Voraus gefeiert wurde – «Ihre erste
In Zeiten der Aufwertung
Ich schreibe diese Kolumne aus dem Exil. Meine Vertreibung geschah leise und gewaltlos, fast unbemerkt. Auch andere sind gegangen, achselzuckend die Agglo aufsuchen. Man weiss ja, dass man den Verbliebenen mit seiner ewigen Wohnungssucherei auf den Geist gegangen ist. Hätte halt mehr arbeiten müssen, dann wäre so eine nette Loft in der Europaallee auch zu