In letzter Zeit wird mir öfters gesagt, ich sei nicht normal. Oder genauer, was ich denke, sei nicht normal; das scheint mir dasselbe. Zum Beispiel im Philosophiekurs. Also an der Universität. Da beschäftigt uns gerade das grosse Zweifeln, ob wir eigentlich überhaupt etwas wissen können. Zum Beispiel, ob das, was gerade passiert, tatsächlich gerade wirklich passiert. Weil – das schrieb einst ein französischer Philosoph, der im Mantel am Ofen sass – es könnte ja sein, dass ich das alles nur träume. Dass ich jetzt im Zug sitze zum Beispiel und diese Zeilen schreibe. Draussen fährt eine dunstige Frühfrühlingsschweiz vorbei: Sandfarbene Kasernen mit sonntäglich ruhenden Militärjeeps, Steinbruch, kahler brauner Wald. Das tiptip-Geräusch der Tastatur wird echoartig verstärkt durch den, der mir gegenüber sitzt und auf seinen schwarzen Buchstaben genauso schnell klickert. Die Zapfen überladene Tanne, der nicht enden wollende, den Gleisen lang mitlaufende Kiesweg, die Schachbrett-Kolonie von hundert kopierten Agglo-Zwergenhäuschen – ein langweiliger Traum, aber warum nicht? Ich mein, am Haus, das gerade vorbeigefahren ist, irgendwo im Aargau, ist ein riesiger Lassie-Hundekopf aufgemalt. Das kann doch nicht wahr sein!

Der Philosophie-Tutor meinte, dass dieses alles in Frage stellende, sogenannte Traumargument des französischen Philosophen im Mantel am Ofen heutzutage ja nicht mehr gelte. Ich fragte ihn weshalb, ob es da Technologien gäbe, mit denen man sicher bestimmen könnte, ob man selber gerade träume oder nicht. Daraufhin rieb er sich unter der Nase und behauptete, er hätte gerade vergessen, was er sagen wollte. Als ich dann sagte, dass ich mich aber ganz oft frage, ob das jetzt wohl gerade wirklich passiert, weil doch alles irgendwie blöd und absurd ist, sah er mich prüfend an und sagte: Das ist nicht normal.

So wie ich es verstanden habe, tun er und der Professor und alle meine Mitstudenten, das Traumargument als schlicht doof ab. Unwahrscheinlich, sagen sie. Man könne doch zwischen Traum und Alltag unterscheiden. Dabei implizieren sie, dass man nur verrückte Sachen träumt, die im echten Leben nie passieren würden. Ich glaube, diese Leute wissen nicht, was sie träumen; sie können sich, sobald sie aufgewacht sind, nicht mehr erinnern. Aber wie der Philosoph im Mantel am Ofen schreibt, dass er schon geträumt habe, im Mantel am Ofen zu sitzen, erinnere auch ich mich an viel zu lange, schrecklich langweilige alltägliche Träume, wie solche, in denen ich aufstehen, mich anziehen, an den Ofen sitzen und eine Kolumne schreiben muss. Wie lästig, dass man nicht mal im Traum die elenden To do Listen vergessen kann!

Ich habe aber gehört, dass man, wenn man weiss, dass man träumt, den Traum selber lenken kann. Also scheiss ich auf die Kolumne und lehne mich zurück in die Zugfahrt, bei der vor dem Fenster gerade ein Mann mit Rucksack vorbeizieht. Er steht vor einem Robidogkasten, schaut sich links und rechts um, dann zieht eine Schnapsflasche nach der anderen aus dem Rucksack und entsorgt sie im Robidogbauch.

Das würde im realen Leben nie jemand tun!

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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