«Aber noch da…»
Der Derwisch der deutschen Literaturgeschichte:
Hadayatullah Hübsch (1946–2011)
Am 4. Januar 2021 jährt sich zum zehnten Mal der Todestag von Hadayatullah Hübsch. Am 8. Januar 2011 wäre der Schriftsteller 65 Jahre alt geworden. Anstelle der Geburtstagsfeier fand an jenem Samstag sein Begräbnis statt, um zehn Uhr morgens auf dem Südfriedhof in Frankfurt am Main. Hübsch, so teilte die Familie des praktizierenden Muslims kurz nach seinem Tode mit, habe sich am Morgen des 4. Januar 2011 nach der Verrichtung des Morgengebets Fadschr in seiner Wohnung hingelegt und sei friedlich entschlafen. – Erzählt man dies Menschen islamischen Glaubens, so äussern sie einen tiefen Respekt vor diesem Heimgang. Das Gedicht «Wetterbericht», geschrieben im März 2010, lässt den Schluss zu, dass Hadayatullah in einem Ausmass krank war, das er Aussenstehenden verheimlichte:
Wetterbericht
Die Sprache im Eimer,
Das System durcheinander,
Der Kopf spielt verrückt,
Ich bin krank,
In Innereien
Und Aussenreihen
Bis auf Blut & Niere,
Die Augen trocken,
Die Synapsen flirren,
Viren im Computerhirn,
Die Stirn in Falten
Wie eine vom Sturm ver-
Wirbelte Eisenbahn-
Kreuzung, ein Mischding
Aus Hulk & Walk the Line,
Ich bin krank,
Im Arm Ziepen & Zerren,
Im Ohr der Wurm von Yester-
Day und nachts weisse
Träume, die Mut machen
& Sorgen verkünden,
Inscha-Allah,
Ich bin krank,
Aber noch da,
Worte nähern sich,
Die Welt ein Fluss im Spiegel,
Ich spiele den Igel,
Wozu Reime?
Hübschs Tod kam überraschend; er riss ihn mitten aus einer vielfältigen schriftstellerischen Tätigkeit und aus dem religiösen Amt des deutschsprechenden Imams der Nuur-Moschee in Frankfurt am Main. Zum Islam konvertierte Hadayatullah, der als Paul-Gerhard Hübsch 1946 in Chemnitz geboren worden war, nach einer Marokko-Reise im Jahr 1970.
Hadayatullah Hübsch war zweifellos eine der schillerndsten Figuren in der weiten Landschaft der deutschsprachigen Literatur des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts – deshalb polarisierte er auch, verleitete zu Häme und oft gedankenloser Kritik:
Konsequenter Pazifist, also Kriegsdienstverweigerer, Mitglied der Kommune I in Berlin, psychedelischer Abenteurer, Explorer eines an US-amerikanischen Vorbildern geschulten neuen Slangs für das deutsche Langgedicht bzw. repräsentativer Vertreter der ersten deutschen Beat-Fraktion. «Sein Name wurde in einem Atemzug genannt mit Carl Weissner, Udo Breger, Jörg Fauser, Jürgen Ploog, Pociao, Günther Ohnemus, Alfred Miersch, Uli Becker, Christoph Derschau, Matthyas Jenny», erinnert sich der in Wien lebende Schweizer Autor Andreas Niedermann. Gegen die polizeiliche Schliessung des von Hadayatullah ins Leben gerufenen Heidi-Loves-You-Shops protestierten 1968, um nur wenige Namen zu nennen, Peter Bichsel, Rolf Dieter Brinkmann, Michael Krüger, Klaus Wagenbach und Wolf Wondratschek. Hübsch amtierte zudem als Leiter des Verlags «Der Islam» in Frankfurt am Main. Überhaupt agierte er als vielfältiger Herausgeber, darunter auch der Little Mags «Törn» und «Holunderground». Und, sehr wichtig, lange bevor Slam Poetry im, wie Brinkmann sagte, «D-Dur-Bluesland» Germany Fuss fassen konnte, galt dieser Autor als einzigartiger Poesie-Performer, als intensiver, ganzkörperlich arbeitender «Bühnen-Vulkan» («Kölner Express»), der früh schon Acts mit Freejazzern und anderen Musikern bestritten hatte.
Angesichts der Fülle seiner weit über 100 (sic!) Publikationen hätte Hübsch, um das zitierte Gedicht «Wetterbericht» aufzugreifen, auch schreiben können: «Ich bin tot, / Aber noch da». Vor allem in seinen Veröffentlichungen lebt dieser singuläre Mensch weiter. Viele davon erblickten das Licht der Welt in kleinen Auflagen, verstreut; sie sind inzwischen zu Preziosen und Memorabilien geworden. Manche davon kamen jedoch auch in renommierten Häusern heraus, so bereits 1969 sein erster Gedichtband «Mach, was du willst» bei Luchterhand oder, zuletzt, 2009 seine Cat-Stevens- bzw. Yusuf-Islam-Biografie «Peace Train» bei Palmyra.
Hübschs ungebrochene Beziehung zum Islam stempelte ihn zum Outlaw. Wie kein anderer arbeitete er an der Schnittstelle Beat-Literatur und Islam, auf einem brachliegenden Feld, das dem Mainstream nicht geheuer ist.
Hadayatullah Hübsch war ein Brückenbauer. «Liebe für alle – Hass für keinen!», lautet die Maxime der Ahmadiyya, der islamischen Strömung, der er angehörte, die er hochhielt und die er repräsentierte. Hübsch hat diese Maxime gelebt. Beharrlich plädierte er in allen Zusammenhängen dafür, die Wirkungen der Liebe zu erkennen und zu fördern. Ihm, der in Gesprächen, Artikeln und Leserbriefen die Auseinandersetzung selbst mit der extremen Rechten und den zahllosen anti-islamischen Scharfmachern unserer Zeit nicht scheute, konnte man das abnehmen, voll und ganz.
Die vorliegende Ausgabe ist keine Hagiographie, sondern vielmehr ein lebendiger Abdruck der Energie, die der Komplex «Hadayatullah Hübsch» bis heute freisetzt.
Der Kanon der deutschsprachigen Literaturgeschichte ist im Wandel begriffen. Hadayatullah Hübschs Stimme sollte dabei nicht überhört werden. Um anzudeuten, in welcher Linie sein Werk auch gelesen werden könnte, schliesse ich dieses Editorial mit einer Strophe des Spätromantikers Joseph von Eichendorff, die Hübsch selbst seinem fulminanten autobiografischen Bericht «Keine Zeit für Trips» (1991) vorangestellt hat:
Wer einmal tief und durstig hat getrunken,
den zieht zu sich hinab die Wunderquelle,
dass er melodisch mitzieht selbst als Welle,
auf der die Welt sich bricht in tausend Funken.