Für eine Performance im Februar stellte ich Bekannten die Frage, wann sie sich zuletzt politisch depressiv gefühlt haben. Mein Mitbewohner beschrieb eine christliche Gebetsstunde, die im österreichischen Parlament stattgefunden hatte, und endete mit dem Satz: «Ich schäme mich für die Politik in meinem geliebten Heimatland.» Er sprach von Österreich, und ähnlich geht es mir mit der Schweiz.

Lauren Berlant, ein:e amerikanische Vertreter:in der Affekttheorie, beschreibt diese Reaktion als «Nationale Sentimentalität» – die Diskrepanz zwischen dem Gefühl des Vertrauten, einer Zugehörigkeit zu dem, was man als «Heimat» beschreibt; und der Realität des daran hängenden Nationalstaates. Diese Ambivalenz, die bei mir daraus entsteht, dass mir von klein auf eingebläut wurde, die Schweiz sei eben ein ganz besonderes und schlicht das beste Land, und der Aussensicht aus dem EU-Land Österreich, in dem ich gerade lebe (Schweiz gleich reich und rechts, sagt man hier), führt dazu, dass ich mich mit der Schweizer Politik wenig beschäftige.

So schaue ich schon lange keine Schweizer Nachrichten mehr. Letztens versuchte ich es wieder einmal mit der Tagesschau. Ich musste aber bald ausschalten: Mit sorgenvollem Gesicht wurde verkündet, dass die Flüchtlingsheime überfüllt seien – weil wegen der Pandemie keine Abschiebungen möglich wären.

Ein Taschentuch auf den Fernseher kleben, über Sebastian Kurzs Gesicht.

Auch dafür gibt es in der Affekttheorie einen Begriff: Keine Nachrichten mehr zu schauen, gilt als ein Symptom «Politischer Depression». Als Antwort darauf schlug ich in der Planungsphase der Performance vor, ein Taschentuch auf den Fernseher zu kleben, über Sebastian Kurzs Gesicht, um sich in Ruhe informieren zu können. Der berechtigte Einwand aus dem Kollektiv darauf war, dass man ihn dann leider immer noch hört.

Affekttheorie untersucht u.a. die Wechselwirkung von Gefühlen und Politik: Einerseits haben politische Entscheidungen und Gesetze Einfluss auf das individuelle Gefühlsleben; andererseits wird mit Emotionen Politik gemacht, oft mit Angst, aber auch mit Stolz oder dem Appell an die Liebe zum Vaterland. Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Bargetz spricht von zwei Modi der politischen Depression: Apathie und Ohnmacht sowie Wut und Unruhe.

Zum Thema der politischen Depression und dem darin enthaltenen Potenzial eines «emotionalen Aufstands», begannen wir vom Kollektiv Saft 2019 eine Performance zu planen. Wir wollten dabei versuchen, Gefühle in «systemerhaltend» und «systemstörend» einzuteilen. Nationale Sentimentalität etwa wirkt lähmend. Ähnlich verhält es sich mit der erwähnten Art von Scham: Dass ich mich für die Schweiz schäme, verweist auf eine Identifikation mit dem «geliebten Heimatland». Diese Scham führt zu Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit. Dagegen wollten wir Unruhe, Schamlosigkeit und Verwandtschaft stellen.
Damals war noch nicht klar, wie offensichtlich die Verstrickung von vermeintlich privaten Emotionen und politischen Entscheidungen bald zutage treten würde. Und auch nicht, welche Form die emotionalen Proteste gegen diese Entscheidungen annehmen würden.

Unsere Performance «Burning Tissues» sollte eigentlich im Oktober 2020 stattfinden als interaktives «Zentrum für Therapeutische Agitation». Als angebliche Therapeutinnen wollte unser Theaterkollektiv das Publikum aus ihren individuellen Ohnmachtsgefühlen befreien und in einen Zustand kollektiver Unruhe und Wut versetzen. Angelehnt war das Ganze an das Sozialistische Patientenkollektiv, das in den 1970ern um den Heidelberger Assistenzarzt Wolfgang Huber entstand und die These vertrat, dass psychische Krankheiten nicht im Individuum verortet, sondern Auswirkungen des kapitalistischen Systems sind. Daher sollten psychisch Kranke nicht zurück ins System integriert werden, sondern sich gemeinsam radikalisieren und das System stören. Wohlbemerkt richteten sich unsere Fantasien eher auf das Schreddern der türkis-blauen öster-reichischen Koalition als auf das bewaffnete Stürmen des amerikanischen Kapitols.

Vielleicht meinte es die österreichische Regierung auch ironisch, als sie einen «Wochenend-Lockdown» vorschlug. Klarer kann man eigentlich nicht sagen, dass nur Arbeit und Umsatzerzeugung wichtig sind.

Als im letzten Sommer klar wurde, dass Theater erstmal nicht stattfinden kann, wurde die Premiere auf Januar verschoben, dann auf Dezember vorverlegt und schliesslich nach hinten auf Februar. Die Zuschauer:innenzahl wurde von 30 auf fünf reduziert, dann auf eine; dann auf so viele Leute, wie die Ladenfläche betreten dürfen, die wir mieten wollten, da das öffentliche Leben auf Kaufen beschränkt wurde; und schliesslich auf 0, respektive Live-Stream. Das führte dazu, dass unser Therapiezentrum erst einer Magistratsabteilung und dann einer interaktiven Tele-shopping-Sendung weichen musste. Ein Interview, das wir zu diesen Wirrungen gaben, wurde von der PR-Leitung des Theaters mit dem Titel «Wir lieben Arbeit» versehen. Sie meine das ironisch, versicherte sie uns.

Vielleicht meinte es die österreichische Regierung auch ironisch, als sie einen «Wochenend-Lockdown» vorschlug: Montag bis Donnerstag sind Gastro und Geschäfte geöffnet, Freitag bis Sonntag gilt Ausgangssperre. Klarer kann man eigentlich nicht sagen, dass nur Arbeit und Umsatzerzeugung wichtig sind. Obwohl man das hierzulande mindestens seit dem 12-Stunden-Arbeitstag-Werbevideo der Wirtschaftskammer weiss: «Zehn Stunden warn schon immer möglich, jetzt sind halt zwölf erlaubt – das will doch jeder, das ist doch klar.» Das poppige Lied wurde nach kurzer Zeit von Youtube entfernt, da die Reaktionen darauf weniger positiv waren als erwartet: «sprengts euch weg 12h ich hackl nie wieder in österreich».

Ich schäme mich auch für die Politik in Österreich. Eigentlich schäme ich mich gerade für die Politik, wo ich nur hinschaue. Darum würde ich auch lieber wegschauen. Stattdessen fragten wir in der Performance die Zuschauer:innen nach ihren Momenten der Politischen Depression und bauten die Antworten, die wir live per SMS bekamen, in die Sendung ein.
Auf die Frage, wann sie sich zuletzt ohnmächtig gefühlt hätten, antwortete fast ein Drittel des Publikums: «Beim Abschieben der Kinder letzte Woche» oder «Als ich die Pressekonferenz geschaut habe, wo der Innenminister erklärt, warum die Kinder abgeschoben wurden». In der Woche vor der Premiere wurde eine Familie mit einer zwölfjährigen, in Wien geborenen Tochter abgeschoben. Die Antworten «gestern» und «heute» waren auch häufig vertreten. Viele schrieben, sich einsam zu fühlen.

«Wie geht’s dir?» entwickelte sich von einer harmlosen Floskel zu einem Panorama menschlicher Abgründe.

Ich habe letztes Jahr einige Leute kennengelernt. Im Supermarkt zum Beispiel wurde mir von einer Frau verschwörerisch zugeflüstert, dass der Spar in der Neulerchenfelderstrasse noch Klopapier hätte. In der Trafik erzählte der Verkäufer vom Homeschooling. Vor allem aber intensivierten sich lose alltägliche Kontakte: mit Nachbar:innen, Dozent:innen, Bekannten von Bekannten. Das lag vor allem daran, dass sich die Frage «wie geht’s dir?» von einer harmlosen Floskel zu einem Panorama menschlicher Abgründe entwickelte: Jede:r wollte plötzlich mit allen teilen, wie er:sie gerade unter der Pandemie und den Beschränkungen litt.

Heute vor einem Jahr hatte ich einiges vor. Im Oktober sollte ich nach Leipzig ziehen, um meinen Master zu beginnen, davor wäre die Premiere von «Burning Tissues» gewesen, die damals noch «Zentrum für Therapeutische Agitation» hiess, und im November die Premiere von «WOLGA». (Eine Woche vor dieser Premiere kam in Österreich der zweite Lockdown. Davor hatten drei Leute in der Produktion Corona, wir waren mehrmals in Quarantäne, zwischendurch wurde neben dem Theater, während wir probten, ein Terroranschlag verübt. Mittlerweile sind die Aufführungen auf Februar 2022 verschoben.)

Ich wäre von Leipzig nach Wien gependelt. Stellte ich mir so vor. Jetzt sitze ich zuhause in Wien, umgeben von Umzugskartons und lese vom baldigen vierten Lockdown. Und fühle mich ohnmächtig. Meine Lieblingsantwort in der Performance war eine auf die Frage, welche Superkraft die Zuschauenden am liebsten hätten: «Ich würde gerne Watschen (Ohrfeigen) verteilen können, ohne dass die Person merkt, dass ich es bin, der:die die Watschn austeilt.» Da fallen mir einige ein.

Sophie Steinbeck, *1994 in Lenzburg, studiert Dramaturgie in Leipzig, davor Sprachkunst in Wien. Arbeitet als Autorin und Dramaturgin in den Theaterkollektiven «saft» und «Rohe Eier 3000».

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