Es geht um Sex, Geld und natürlich um Macht. Pierin Vincenz, Ex-Präsident der Raiffeisen, war die letzten Wochen, neben Djokovic und Odermatt vielleicht, medial der Mann der Stunde. Nun ist der Prozess, der gegen Vincenz und sechs weitere Mitangeklagte, Ende Januar (welch schöne Ironie: im Theatersaal des Zürcher Volkshauses) begann, tatsächlich eine grosse Kiste. Schliesslich geht es um unrechtmässige Gewinne von rund 25 Millionen Franken, Betrug, Urkundenfälschung, Bestechung und Schattenbeteiligungen – die Anklageschrift umfasst 364 Seiten.
«Bodenständig, nahbar, gutes Image, einer ohne Boni-Exzesse – das war Pierin Vincenz» hiess es in der Tagesschau von SRF, selbstredend mit Betonung des «war». Die Fallhöhen für Typen wie Vincenz sind bekanntlich gross – und erhöhen sich exorbitant, wenn Promiskuität ins Spiel kommt.
Dass Vincenz, solider Bündner, der die Raiffeisenbank zur drittgrössten Schweizer Bank hinaufhievte, und der sich engagiert für Bergbahnen in seiner Heimat Surselva einsetzte, nun vor allem wegen seiner zahlreichen Besuche in Nacht- und Stripclubs (auf Spesen und in der Höhe von mehreren hunderttausend Franken), einer Liebschaft zu einer Tänzerin und Handgreiflichkeiten im Park Hyatt Schlagzeilen macht, braucht nicht zu erstaunen. So funktionieren Boulevardmedien längst. Nur boulevardisieren sich die Schweizer-Medien in der Tendenz zunehmend und breitflächig. «Köpfe rollen bei Raiffeisen» – «So denkt das Heimatdorf über Pierin Vincenz» – «Vincenz auf Tour de Suisse durchs Rotlichtmilieu» sind nämlich keine Blick-Headlines, sondern stammen von SRF. Schliesslich geht es je länger je mehr um Klicks.
Natürlich hat es einen beachtlichen Unterhaltungswert, wenn Lorenz Erni, der schon Sepp Blatter und Roman Polanski verteidigte, die Besuche in Striplokalen und Nachtclubs als «Gesamtpaket zwecks Geschäfts- und Kontaktpflege» verteidigt und in Zusammenhang mit der Anklageschrift von einem «Hang zur Erbsenzählerei» spricht. Nur stellt sich einmal mehr die Frage, weshalb es für die grosse Empörung und den medialen Aufruhr zuerst ein paar Frauen und Prostituierte braucht. Schwere Vorwürfe gegen Vincenz gab es nämlich bereits 2005 – die sind inzwischen vermutlich bereits verjährt.
Man fragt sich ebenso, wer sich eigentlich noch die Mühe macht, den Spielraum in Zusammenhang mit komplexen Schattenbeteiligungen, Aktiengeschäften und Holdingstrukturen zu erklären, und wo die Recherchen darüber sind, welche Geschäftsstrukturen und welche Finanz- und Steuerpolitik solche Formen von Schattenwirtschaft zulassen, darüber hinwegsehen oder gar begünstigen. Schliesslich geht es im Endeffekt nicht um die Untreue von Stocker und Vincenz gegenüber ihren (Ehe-)frauen, sondern um die Untreue gegenüber ihren jeweiligen Unternehmen.
Gefordert werden von der Staatsanwaltschaft 6 Jahre Freiheitsstrafe für Vincenz und Stocker und Rückzahlung von insgesamt 25 Millionen. Mit «brisanten Zahlungen» bei Egoist, Red Lips und Pussycat kommt man nicht so weit. Auch nicht mit einer von Raiffeisen bezahlte Privatreise nach Dubai. Kurzum, liebe Deutschschweizer- Medien: Erzählt mal etwas Neues!