In seiner Kunst, seinen Collagen und Gedichten hat mein Vater sich immer wieder mit Heldenfiguren beschäftigt. Ob er wusste, dass er als Muslim selbst ein Held für viele Gläubige war? Er konnte auf eine Weise über Allah sprechen, die die Menschen berührte, die sie aufrüttelte, die ihnen ungeahnte Horizonte eröffnete und eine Vision in ihnen erweckte, die das Gute lebendig werden liess. Doch was die Herzen wirklich erreichte, war, dass er lebte, was er predigte, denn seine Worte waren von tiefschürfenden Erfahrungen durchzogen.
Vielleicht, weil er alle Höhen und Tiefen des Lebens am eigenen Leib erfahren hatte, gab er niemanden auf. Er verurteilte niemanden, er fühlte durchdringend mit und war für andere da, durch Gebete, durch Nachdenken und durch wahre Fürsorge. Erst nach seinem Tod habe ich erkannt, dass ich nur einen kleinen Teil dessen mitbekommen hatte, wie er als Menschendiener zeit seines Lebens gewirkt hatte. Tausende Muslime kamen aus ganz Deutschland zu seinem Totengebet angereist; uns erreichte eine Flut an Kondolenzbriefen. Und es waren nicht wenige, die weinend davon erzählten, wie er ihr Leben verändert hätte. Nicht nur durch seine Reden, seine mystische Lyrik und seine Islam-Bücher, sondern weil er persönlich für sie da war und an sie geglaubt hatte. Weil er ihnen authentisch vermitteln konnte, dass immer Grund zur Hoffnung besteht, da Allah lebendig ist und Gebete beantwortet.
Er war damit ein Grenzgänger zwischen den Kulturen und zugleich eine Brücke zwischen Theologie und Sufismus, zwischen Orient und Okzident, zwischen Alt und Jung, zwischen Praxis und Theorie, zwischen Humor und Tiefgang, und vor allem: zwischen Vernunft und Spiritualität. Er galt als grosser Gelehrter, der jede theologische Frage beantworten konnte, dabei aber niemals den Bezug zur Realität verlor. Er war kein Dogmatiker, sondern jemand, der verstanden hatte, dass es zwar der Muschel bedarf, um zur Perle zu werden, die Form einer Religion jedoch immer den Sinn hat, den Menschen von seinem Ego zu erlösen und ihn frei wie einen Vogel in der Liebe Allahs aufgehen zu lassen. Ob als Hippie oder Muslim: Es ging ihm darum, die Grenzen des Ichs zu sprengen, sich von Zwängen der Leidenschaften zu emanzipieren und von den mentalen Repressionen der Gesellschaft zu befreien, kurzum das Bewusstsein zu erweitern und «peace of mind» zu erlangen.
Er selbst hatte erfahren, wie der Weg des Propheten Muhammads ihn innerlich geheilt hatte. Das Licht, das von der Lehre des Propheten ausging, war für ihn die Sonne seines spirituellen Lebens – es widerspiegelt sich im Messias der Zeit, der wie ein Mond den Propheten reflektiert und dessen Gemeinde er beigetreten war: die Ahmadiyya Muslim Jamaat, eine Reformbewegung innerhalb des Islams mit dem weltweit verbreiteten Motto «Liebe für alle, Hass für keinen», das sich in seinem Schaffen manifestierte und zur Leitlinie werden sollte. Dieser Islam hat nichts gemein mit dem Missbrauch der Religion durch Fanatiker und Extremisten, deren Auslegung mein Vater als Imam immer wieder als machtgetrieben und menschenverachtend entlarvte.
Im Islam, den er kannte, ging es um das Sichverlieren in der Göttlichkeit, das Erlangen der Liebe Allahs, die Entwerdung, den Ich-Tod, das Verbrennen aller körperlichen Begierden im Feuer der Sehnsucht zum Schöpfer. Das war es, was er selbst erlebt hatte: das Leben hier mit all seinen Möglichkeiten der Zerstreuung im Weltlichen, den fleischlichen Befriedigungen und Machtspielen, die der Mensch aufgeben kann, wenn er etwas Besseres bekommt. Erst wenn die Seele so feinfühlig ist, dass sie empfänglich wird für geistige und spirituelle Erfahrungen, wenn sie Genuss findet im Gebet, dann erlangt sie die wahre Zufriedenheit eines Gläubigen, eines Muslims, der den Pfad der Gottergebenen geht.
Auf diesem Pfad waren die Propheten seine Vorbilder, wenn er tränenüberströmt in der Niederwerfung betete, wenn er für andere Menschen da war, wenn er bei der Wahrheit blieb und sich für Gerechtigkeit und Solidarität einsetzte, trotz aller Hindernisse. Damit wurde er für viele Muslime nicht nur in Deutschland zu einem Stern, der Orientierung gab und ihnen wie ein Leuchtturm den Weg wies zu Dem, Der ihn geleitet hatte: zu Allah.

Khola Maryam Hübsch lebt in Frankfurt am Main und ist Publizistin, Journalistin, Bloggerin, Spoken Word Artistin und Aktivistin. Sie gehört, wie schon ihr Vater Hadayatullah Hübsch, zu den prominenten Mitgliedern der islamischen Ahmadiyya-Bewegung. Zuletzt erschien ihr Buch «Rebellion der Sehnsucht – Warum ich mir meinen Glauben nicht nehmen lasse» (Herder, 2018).

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