Auf den ersten Blick ist Thalwil eine geruhsame Gemeinde am Zürichsee. Doch wie so häufig trügt der Schein. Schon immer umwabert Thalwil der Nebel des Unheimlichen. Ob Hexenverbrennung im Jahre 1597 oder 400 Jahre später das spurlose Verschwinden des Pfarrers samt Freundin beim Böötlen – in Thalwil passieren mysteriöse Dinge. 2008 verschwindet ein Musikproduzent auf ominöse Weise auf seiner Schiffspassage Richtung Bürkliplatz. Er wurde nie gefunden.
Noch unheimlicher sind aber die aktuellen Fälle aus dem heutigen Thalwil: Ein rachesüchtiger Killerhecht, der Mörder vom Katzenbrunnen, ein verschwundenes Haus, Voodoo im Paradiesli, Twin-Peaks-Flashbacks am Waldweiher, ein mysteriöser Bus, ein Kegelbahngeist, verdächtig günstiges Hackfleisch und Johnny Depp featuring Hunter S. Thompson…
In Thalwil geht ein seltsames Übel um. Die Kinder schlafen in der Schule plötzlich ein. Von einer Minute auf die andere legen sie den Kopf auf den Schreibtisch und sind komplett abwesend. Benommen wachen sie nach ungefähr einer Stunde wieder auf und erinnern sich an nichts. …
«Der Bus gehört einer Frau, sie ist alt und grauenhaft. Wie eine Hexe.»
«Szary sagt, es ist ein Mann. Ein Armer, der keine Wohnung hat, und darum im Bus wohnt.»
«Nein, ich weiss es von meinem Bruder, er hat mir erzählt, immer bei Vollmond fährt sie genau in unsere Strasse. Um Mitternacht rollt sie ganz langsam heran, kurbelt ihre Fenster runter und sendet mit einer Antenne aus dem Innern des Busses Strahlen zu unseren Häusern. Die beeinflussen unser Unterbewusstsein und wenn wir nicht aufpassen, werden dann die Horrorträume, die wir haben, wahr. Es ist gut, bei Vollmond das Fenster zu schliessen.»
(aus: Der Bus von Eva Wischnitzky)
Vermutlich hat auch Harry Frisch, seines Zeichens Sonder-ermittler der Kripo Zürich, einige Strahlen zu viel abbekommen. Oder Kafi Schnaps. Das ist wie immer Ermessenssache. Doch die Morde am Waldweiher machen nicht nur ihm zu schaffen:
Es dauerte nicht lange und die alte Geschichte wurde wieder hervorgekramt: Vor 150 Jahren sei es hier schon einmal zu mysteriösen Todesfällen von zwanzig jungen Frauen gekommen. Damals war man sich sicher, dass ein Fluch über dem Wald lag und die Mädchen einer Art Geistwesen – halb Mensch, halb wildes Tier – zum Opfer gefallen waren. Der Glaube an diese Geschichte hielt sich bis heute hartnäckig, was Harry ziemlich absurd fand.
…Harry verbrachte mehr Nächte in seinem Jeep als in seinem Bett, um die Waldhütte zu observieren. Eines nachts war es dann wieder so weit. In der Dämmerung schlüpfte eine dunkle Gestalt in die Hütte, die urplötzlich von einer überirdischen Lichtaura umhüllt war. Sirenenähnliche Stimmen zogen Harry magisch an. Als er durch den Schlitz des Vorhangs durchs Fenster spähte, traute er kaum seinen Augen. Eine Gestalt, die mehr einem Wolf als einem Menschen glich, obwohl sie auch etwas von einem Hirsch hatte, wenn man das Geweih dazu nahm, machte sich an den Zwillingen zu schaffen, die sich unter dem Untier wanden und stöhnten. Harry griff nach seiner Waffe und stürmte die Hütte. Sie war leer. Harry hämmerte auf seine Stirn, wurde er langsam verrückt? (aus: Harrys letzter Fall von Susann Klossek)
Derselbe Waldweiher war schon immer Schauplatz eigenartiger Geschehnisse. Mitunter verschwinden da nicht nur Menschen, sondern ganze Gebäude:
Er konnte nicht glauben, was er sah, noch weniger, was er nicht sah. Und es lag nicht an der Dunkelheit. Der Mond stand als volle, runde Scheibe über dem Weiher. Die Hochspannungsleitung zog schwarze Linien in den Nachthimmel. Der Kiesweg lag als helles Band zwischen Wasser und Wiese. Truman wusste genau, wie es hier aussehen musste. Er hatte den Ort auf Bildern so oft betrachtet. Sie hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Es gab eine Ansicht von der Strasse, aus dem Auto aufgenommen. Ein zweites Bild zeigte das Haus von der anderen Seite, hinter einem grossen Baum. Hier musste es sein, hier musste es stehen. … Truman wachte auf. Wo war er? Was hatte ihn geweckt? Der Himmel war schwarz. Wo war der Mond? Erde rieselte ihm in die Augen. Er blinzelte. Ein Stein bohrte sich in seine Hüfte. Hatte er sich im Schlaf eingegraben? Er wischte sich den Dreck aus dem Gesicht. Das Haus war weg. (aus: Das Weiherhaus von Lorenz Langenegger)
Und: Wussten Sie, dass in der alten Thalwiler Kegelbahn ein Geist herumspukt?
«Ende der Fünfzigerjahre gab es hier einen Anbau, unten waren zwei Kegelbahnen und drei kleine Säli. Eines war das Barocksäli. Ich weiss nicht, wie die anderen hiessen. Aber das Barocksäli war edel eingerichtet. So richtig mit Pomp. Die Bauarbeiten waren schon fast zu Ende, nur an der neuen Kegelbahn wurde noch gearbeitet.» … Bei der Schlussmontage lief allerdings etwas schief. Der Mechaniker war noch am Justieren, da spielte jemand eine Kugel, die Kegel fielen um und die Maschine begann zu arbeiten. Jemand hatte vergessen, den Strom abzustellen. Der arme Mann wurde …. (aus: Der Geist in der Kegelbahn von Helmi Sigg)
Man mag sich gar nicht vorstellen, was aus dem Mann wurde. Aber glücklicherweise zieht auch in Thalwil jedes Jahr der Sommer ins Land. In der sonnenbeschienenen Kleinstadt-Idylle kann sich doch nichts Schreckliches ereignen, oder?
Der See liegt ruhig da. Das Floss schaukelt minim, nicht der Rede wert. Mein Boot wartet geduldig, um mit mir später eine Runde zu drehen. Nicht eine einzige Ente sehe ich. Auch keine Fische. Etwas ist faul. …
…Ein Fischer hat gesehen, wie am Tag zuvor ein Rentner mit einer Styropornudel losgeschwommen und mit einem Ruck untergegangen ist. Und nicht mehr aufgetaucht. …
… Am Abend ist es Tatsache: ein Rentner, ein Fischer und ein Seetaucher sind weiterhin vermisst. … Am nächsten Tag strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel kräftig auf Thalwil herunter. Die Temperaturen steigen, das Wasser heizt sich schon auf. Protzige Autos füllen das Trottoir an der Seestrasse, putzige Familien steigen aus und strömen ins Ludi …
… Seit Samstagnachmittag ist zudem der sechsjährige Paul K. verschwunden. Er wurde zuletzt auf dem Floss vor dem Seebad Ludretikon gesehen. …
… Und du denkst, es sind bloss ein paar submerse Makrophyten, die du während dem Schwimmen an deinen Beinen spürst. Ich aber sage dir: Es könnte auch der Esox lucius sein!… (aus: The Place to Be von Irma Aregger)
Und während die einen im See Vermissten suchen, müssen sich die anderen mit späten Geständnissen befassen:
«Mehrere Male habe ich bereits versucht, diese Zeilen aufzusetzen. Es fiel und es fällt mir auch jetzt schwer, die richtigen Worte zu finden. Es ist nicht einfach zuzugeben, dass man ein Mörder ist. Ein heimtückischer Verbrecher, der für seine Tat nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Umso mehr lastet die Tat auf mir, so schwer, dass ich sie jetzt, am Ende meines Lebens, niederschreiben muss. Es war kein Verbrechen im Affekt, ich habe diese Schändlichkeit bis ins letzte Detail geplant. Und ich bin damit davongekommen. (aus: Voodoo im Paradiesli von Helmi Sigg)
Auf diesen Schreck hilft nur noch ein Picknick mit Grilliertem, doch warum ist das Hackfleisch beim Metzger heute so verdammt günstig?
«Guten Tag, was darf’s denn sein?» Dankbar geht sie nach hinten und stellt sich an die Spüle. Die Schwester sieht beim Bedienen in der Fleischtheke beim Geschnetzelten etwas glänzen. Diskret schiebt sie es mit dem Finger beim Herausheben der danebenliegenden Wanne unter die geschnittenen Fleischstücke. Der Kunde möchte Haxen und verabschiedet sich dankbar. Die Schwester findet den Ohrring und ein Stück vom Ohr unter dem Schweinsgeschnetzelten. Sie sagt nichts, bringt den Fund nach hinten und legt ihn neben Ausbein- und Abhäutemesser. Tiefes Einatmen, der Sog Richtung Schlund mit geschlossenen Lippen und eine Ansammlung trockener Tränen in den Augen. Sie richtet ihr Haarband, das über die Ohren gebunden ist und denkt nicht an den Schmerz… (aus: Die blaue Stunde von Eva Wischnitzky)
Und wieder geht ein irrer Tag in Thalwil seinem Ende entgegen:
Völlig ausgelaugt von den Vorkommnissen dieser ominösen Nacht mit Johnny Depp schleppte ich mich die Schwandelstrasse hoch bis aufs Plateau der Sonnenbergstrasse. … Im Treppenhaus strömte mir ein etwas strenger Geruch entgegen. Erste Assoziation: Mein Ex. Aber als ich das Wohnzimmer betrat, sassen dort ein Pavian und ein Ozelot. «Guten Tag, wir sind Pavi und Ozzi Knecht», sagte die elegante Raubkatze, deren Pelzmantel schon leicht verwittert wirkte. Der Affe hob das Ärmchen zum Grusse:«Vegetarier aller Länder, vereinigt Euch.» (aus: Frühstück mit Hunter von Susann Klossek)
Textcollage von Susann Klossek