Mein Gesprächspartner hat Maschinenbau studiert und 1955 mit Diplom an der ETH abgeschlossen. Er war danach in der Industrie im Bereich Kernkraft und später in der Bundesverwaltung tätig, wo er sich ebenfalls mit Atomenergie beschäftigte. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung sehen und hat die Fragen schriftlich beantwortet.

DL: Was geht Ihnen in diesen Tagen durch den Kopf, als sie von der Drohung Russlands hörten, nukleare Waffen einzusetzen?

Ich beantworte gerne Fragen zu Entwicklung und Betrieb der Nutzung von Atomkernenergie für die Stromerzeugung in der Schweiz, möchte dabei aber keine Erwähnung oder Vergleiche mit militärischer Nutzung dieser Energie. Diese führen immer wieder dazu, dass die beiden Nutzungsarten als quasi gleichwertig und eng vermascht betrachtet werden, woraus sich ein Hauptargument der Kernenergiegegner*innen entwickelt hat. In gleicher Weise müsste ja auch die gesamte Schwerindustrie abgelehnt werden, bei deren Entwicklung kriegerische Anwendungen ebenfalls eine Rolle spielten.

DL: Sie haben fast das ganze berufliche Leben mit der friedlichen Nutzung der Atomenergie verbracht. Was hast sie daran fasziniert?

An der schweizerischen Landesausstellung 1939 galt das Schlagwort «Die weisse Kohle». Damit wurde die neu aufgekommene Möglichkeit bezeichnet, Strom mittels Wasserkraftwerken – insbesondere auch unter Einsatz künstlicher Stauseen – zu produzieren und so den Strombedarf der Schweiz eigenständig zu decken.

Ende der fünfziger Jahre waren dann aber Grenzen dieser Eigenständigkeit abzusehen. Gründe waren einerseits das unerwartet starke wirtschaftliche Wachstum des Landes, andrerseits aber auch die Opposition gegen einzelne Stauseeprojekte (zum Beispiel im Urserental). Als Alternativen standen zunächst thermische Kraftwerke, die mit Kohle oder Öl betrieben würden, zur Diskussion. Sie stiessen aber wegen der damit verbundenen Luftverschmutzung auf starke Ablehnung. Es war dann ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundesrat (Willi Spühler),
der die Möglichkeit der neu aufkommenden Kernkraftwerke favorisierte.

Die schweizerische Maschinenindustrie hat zur Entwicklung
thermischer Kraftwerke weltweit beachtliche Beiträge geleistet. Dazu gehören insbesondere die grossen Dampfturbinen von Brown Boveri und Escher Wyss sowie die grossen Dampferzeuger und mittelgrosse Dieselkraftwerke von Sulzer. Der Schritt zum Ersatz der fossilen Brennstoffe durch nukleare Spaltstoffe in Kernkraftwerken (KKW bzw. AKW) lag somit nahe.

DL: Was waren die wichtigsten Stationen?

März 1955: Gründung der Reaktor AG mit Partnern aus der schweizerischen Industrie, Finanz- und Elektrobranche (Initianten Paul Scherrer und Walter Boveri). Ziel war die Entwicklung einer Reaktorlinie mit Natururan als Brennstoff.

  1. Oktober 1960: Inbetriebsetzung des von der Reaktor AG erstellten Forschungsreaktors Diorit.
  2. Januar 1968: Einspeisung des ersten nuklear erzeugten Stromes in das öffentliche Netz der Schweiz. Der Strom kam vom Versuchsreaktor Lucens. Er wurde von der Arbeitsgemeinschaft Lucens gebaut. Das war ein Zusammenschluss schweizerischer Industriebetriebe ohne BBC, welche an einer Entwicklung in Deutschland, nicht aber in der Schweiz interessiert war.

KKW Beznau 1: Netzanschluss Juli 1969
KKW Mühleberg: Netzanschluss Juli 1971
KKW Beznau 2: Netzanschluss Oktober 1971
KKW Gösgen: Netzanschluss Februar 1979
KKW Leibstadt: Netzanschluss Mai 1984

DL: Es gab ja verschiedene Phasen. Eine davon die Pionierzeit mit der Genfer Konferenz und kleinen Versuchsreaktoren. Wie war die Stimmung in jener Zeit in Bezug auf die Nutzung der Atomenergie?

Initiant der Genfer Konferenz 1955 war der amerikanische Präsident Eisenhower, welcher das Interesse an der Atomkernenergie auf deren friedliche Nutzung lenken und dabei eine internationale Kontrolle über deren weltweite Verwendung erreichen wollte. Die Ende der fünfziger Jahre in Bau gegangenen KKW wiesen maximale Leistungen von 100 bis 200 MWe (Megawatt elektrisch) auf. Grössen die lange als Richtwerte für die schweizerischen Eigenentwicklungen dienten.

DL: Der Bundesrat hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ja auch beschlossen, eigene Atomwaffen herzustellen.

Ende 1945 wurde vom Chef des eidg. Militärdepartementes die Studienkommission für Atomenergie (SKA) gegründet. Zweck waren Studien über Möglichkeiten der Anwendung der Atomkernenergie, zunächst insbesondere militärischer Art. Einen Beschluss des Gesamtbundesrates, eigene Atomwaffen herzustellen, gibt es nicht. Nachdem diese Frage lange offen gehalten wurde, verzichtete der Bundesrat im November 1969 durch Unterschreiben des Atomsperrvertrages für die Schweiz endgültig darauf.

DL: Welche Rolle spielte der Unfall von Lucens? Welcher Schaden ist entstanden?

Die Havarie des Versuchsatomkraftwerkes Lucens (VAKL) im Januar 1969 war Folge eines Stillstandschadens in der Anlage. Als Ursache dieses Schadens kann das Fehlen einer Entwicklungsvorrichtung für eine Wasserringdichtung betrachtet werden. Diese war nach dem 1977 erfolgten Entscheid über den Verzicht auf die Weiterentwicklung des Lucens-Reaktortypes abgebrochen worden, ohne ihren allfälligen Nutzen während der noch bis Ende 1969 vorgesehenen Erprobung der Gesamtanlage zu berücksichtigen.

Wichtige Erfahrungen aus Bau und Betrieb des Versuchsatomkraftwerkes Lucens waren unter anderem:

  • Entwicklung von nuklearspezifischen Komponenten wie z.B. die Dampferzeuger.
  • Erfahrung mit Werkstoffen wie Graphit, Zirkon, etc.
  • Verhalten und Bewährung spezieller Sicherheitsvorrichtungen für das zuverlässige Abstellen und das Zurückhalten freigesetzter Aktivstoffe in Extremfällen wie z.B. Bruchplatten und Felscontainment.
  • Besondere Bedeutung hatte die gemachte Erfahrung, dass schon bei der Festlegung des Konzeptes einer neuen Anlage die Sicherheit erste Priorität haben muss. Im Fall Lucens stand dagegen eher die Möglichkeit der Verwendung von Natururan im Zentrum.

Der durch die Havarie entstandene Schaden ist der Verlust der zusätzlichen einjährigen Betriebserfahrung, aber auch der beim Rückbau der kontaminierten Anlage nötige Mehraufwand. Strahlenschäden sind weder beim Personal noch in der Umwelt entstanden.

DL: Der Unfall wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das überrascht. Warum war das so?

Ich lebte 1969 nicht in der Schweiz, habe jedoch den Eindruck, dass die Havarie Lucens stark zur Unterstützung der Anti AKW-Bewegung beigetragen hat. Dies allerdings weitgehend durch falsches Verständnis und zum Teil bewusste Fehlinterpretation des Geschehenen. Falsches Verständnis führte zum Glauben, die Havarie hätte sich bei etwas anderem Ablauf zu einer nuklearen Katastrophe ausweiten können. Dazu nötiges Schadenpotential war jedoch gar nicht vorhanden. Unfallabläufe der eingetretenen Art waren im Sicherheitsbericht behandelt worden und die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen haben funktioniert. Fehlinterpretation ist die oft gehörte Behauptung, es sei die Havarie gewesen, welche zum Abbruch der Eigenentwicklung eines KKW in der Schweiz geführt habe. Gründe dafür waren in Wirklichkeit die unerwartet leichte Erhältlichkeit von angereichertem Uran und die Tendenz zu sehr grossen Leistungen des einzelnen KKW. Dies überstieg die geschäftlichen Interessen der Firma Sulzer, welche sich in der Folge auf Einzelkomponenten und Teilsysteme solcher KKW spezialisierte.

DL: Die Anti AKW-Bewegung entstand Mitte 70er Jahre. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Schwierig bei Diskussionen mit Atomgegner*innen waren oft dort mangelnde Fachkenntnisse und Vorurteile. Neben Meinungsverschiedenheiten gab es auch sachliche Übereinstimmungen. Dabei mussten wir darauf hinweisen, dass unsere Rolle als Aufsichtsbehörde die des professionellen Kritikers ist, der die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen überprüft und fordert, nicht aber für oder gegen die Nutzung der Atomkernenergie entscheidet.
Voraussetzung für die Mitglieder der Sicherheitskommission KSA waren gute Fachkenntnisse auf mindestens einem Gebiet der Nukleartechnik. Politische Einstellung wurde nicht nachgefragt und spielte im Allgemeinen keine Rolle. Ausnahmen ergaben sich in den späteren Jahren, als darauf geachtet wurde, dass mindestens ein bis zwei Mitglieder grundsätzlich gegen die Nutzung der Atomkernenergie waren. Fronten innerhalb der Kommission sind dabei nicht entstanden.

DL: Kaiseraugst wurde nicht gebaut, dafür Gösgen und Leibstadt. Beznau und Mühleberg existierten bereits…

Erste Gesuche für die KKW-Standorte Gösgen, Graben, Kaiseraugst, Leibstadt, Rüthi, und Verbois wurden zwischen 1965 und 1970 eingereicht. Alle diese Projekte waren ursprünglich für Flusswasserkühlung vorgesehen und mussten auf Kühltürme umgestellt werden. Zusätzliche Probleme ergaben sich für Leibstadt und Kaiseraugst wegen Standortverschiebungen und der Forderung für ursprünglich nicht vorgesehene Notstandsysteme. Der Standort Kaiseraugst war ursprünglich für ein Kohlekraftwerk vorgesehen mit dem Vorteil eines besonders günstigen Hafens für die Brennstofflieferung. Für ein KKW besonders nachteilig war aber das Erdbebenrisiko und die hohe Bevölkerungsdichte.

DL: Welche Bedeutung hatte für Sie der Reaktorunfall von Tschernobyl?

Noch weitgehender als in Fukushima fehlten in Tschernobyl wichtige bei uns übliche Sicherheitsmerkmale. Dadurch konnten sich gefährliche instabile Zustände einstellen. Zusätzlich lagen schwerwiegende Mängel in dem Bereich vor, der anschliessend weltweit als Sicherheitskultur bezeichnet wurde. Dazu gehören ausreichende Ausbildung des Betriebspersonals und organisatorisch klare Verhältnisse mit Priorität der nuklearen Sicherheit. Abgesehen von vielleicht entsprechend deutlicheren Formulierungen der Vorschriften waren bei uns keine Änderungen notwendig. Als Rechtfertigung unseres Vorgehens erwiesen sich die in der Schweiz vorbereiteten Notfallschutzmassnahmen, welche die zahlreichen bei russischen Kindern aufgetretenen Schilddrüsen-Krebserkrankungen vermieden hätten.

DL: Welche Perspektiven sehen Sie für die Atomenergie in der Schweiz?

Vor dem Fukushima-Unfall 2011 standen einige neue KKW-Projekte an mehreren Schweizer Standorten in Vorbereitung; Betriebsaufnahmen wären im Laufe der zwanziger Jahre möglich gewesen. Zwar wurde bald klar, dass die in den bestehenden Schweizer KKW vorhandenen oder nachgerüsteten Sicherheitsvorkehrungen Unfallabläufe wie in den japanischen Anlagen verhindert oder wesentlich gemildert hätten; überdies wurden in den neuen Projekten zusätzliche Sicherheitsstrukturen vorgesehen. Der Schock über das Geschehen im technisch hochentwickelten Land Japan sass tief. Über den von den politisch verantwortlichen Stellen verfügten Abbruch der Projektarbeiten in der Schweiz wurde entschieden, ohne dass sich die für Strombedarfsprognosen und Sicherheitsbeurteilungen zuständigen Fachstellen dazu hätten äussern können.

Ein heutiger Entscheid für einen KKW-Bau in der Schweiz käme zu spät für das Vermeiden der absehbaren Stromlücke in unserem Land. Die seinerzeit zu optimistischen Annahmen einerseits über den Ausbau zusätzlicher nachhaltiger Stromproduktion sowie Sparaktionen und andrerseits notwendigem Ersatz von Verbrennungsenergie durch Strom sowie Neubedarf von Strom durch Wirtschaftswachstum bedingen dringend den Bau von Gaskraftwerken mindestens für die saisonale Energiespeicherung. Zu untersuchen bleibt, wieweit dies durch Speicherung von importiertem oder selbst produziertem Gas möglich ist.

Zusätzlich sollten schon bald auch die Möglichkeiten späterer Realisierung von Kernkraftwerken aktueller und noch weiter fortgeschrittener Bauart (für Kern-Spaltung und -Fusion) vorbereitet und offengehalten werden. Wir wissen nicht, wann wir sie brauchen würden.

DL: Wie stehen Sie zur Frage des Endlagers – zum Beispiel im Weinland?

Um Hütepflichten künftiger Generationen zu vermeiden, müssen Endlager für nicht weiter verwendbare radioaktive Abfälle errichtet werden. Das Schadenspotential ist aus heutiger Sicht sehr viel geringer als dasjenige von Kernkraftwerken, möglicherweise aber etwas höher als das des ursprünglich verwendeten Urans, was durch geeignete Standortwahl und Gestaltung des Lagers kompensiert werden soll. Die technische Realisierbarkeit solcher Lager ist nachgewiesen worden. Die Opposition im Weinland richtet sich vorwiegend gegen die Sichtbarkeit grosser oberirdischer Bauwerke; wieweit annehmbare Standorte oder aber unterirdische Anordnung für diese gefunden werden können, ist mir nicht bekannt.

Dominik Landwehr ist Kultur- und Medienwissenschafter und lebt in Winterthur. Er beschäftigt sich mit Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts und hat mit einer Arbeit über die Geschichte der Enigma und der Entwicklung der Kryptografie promoviert. www.sternenjaeger.ch.

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