Zum allerersten Literaturfestival in Thun habe ich Erika Burkart eingeladen. Warum? Ganz genau weiss ich es nicht mehr, und ich finde nicht einmal mehr den Text, den ich damals über sie verfasst habe, es liegen zwei Computerabstürze und auch sonst so einiges dazwischen – aber ich möchte dieser Frage jetzt, fünfzehn Jahre später, nachgehen.

Nebst Prosa (von ausschliesslich Männern) sollte auf jeden Fall auch Lyrik vertreten sein an diesem Festival, an diese Überlegung erinnere ich mich. Und wenn Lyrik, dann von Erika Burkart, der Frau mit den weissen Haaren, die in einem richtigen Dichterinnenhaus lebte. Die Dichterin, die sich mit ihrem Lebensstil in Naturnähe und Einsamkeit so gut für Projektionen eignete; die Dichterin, die der Lyrik hierzulande ein Gesicht gegeben hatte: «Ein schmales, zur Seite geneigtes Gesicht mit grossen sehnsuchtsvollen Augen, umrahmt von hellen Locken.» So zu lesen in einem Nachruf in der NZZ. Mich erinnert das auf verquere Weise daran, dass immer über die Farben der Kostüme der Queen gesprochen wird, dabei trägt sie diese nur, um im Notfall von den Security-Männern in einer Menge rasch ausfindig gemacht werden zu können. Dies nur nebenbei; wichtiger ist mir heute, mich zu fragen, ob ich Erika Burkart auch deswegen eingeladen habe, weil ich glaubte, die Lyrik wäre durch eine Frau adäquater vertreten – ich weiss es nicht mehr, damals habe ich mich mit diesen Fragen noch nicht auseinandergesetzt.

Auf jeden Fall hatte ich mich sehr gefreut, diese Dichterin kennenzulernen. Dazu kam es aber nicht; am Tag der Lesung, es war Sonntag, erreichte mich der Anruf ihres Mannes, dass Erika Burkart nicht zur Lesung kommen könne, sie sei zum einen krank, zum anderen eingeschneit.

Deswegen – und weil Erika Burkart 2010 verstorben ist und 2022 hundert Jahre alt geworden wäre – habe ich mich nochmals hin- und mich mit ihrem Werk auseinandergesetzt. Als erstes ist mir flüchtig durch den Kopf gegangen, dass ein schnarrender deutscher Mann, der allen Ernstes am Ende seines Lebens noch einen Literaturkanon aufstellen wollte, dessen Name mir aber partout nicht einfallen will, über Erika Burkart gesagt hat, dass es in der Schweiz ja so eine Dichterin gebe, die aber nicht relevant und deren Name ihm entfallen sei.

Angesichts dessen, dass sich ihr Todestag bald zum zehnten Mal, der Geburtstag bald zum hundertsten Mal jährt, scheint es mir verdächtig still rund um diese Dichterin – oder aber es ist rund um andere Exponenten einfach noch zu laut.

Mit der Erfahrung, die ich als Veranstalterin gesammelt habe, weiss ich, dass die Planungen zu den Festivitäten zum hundertsten Geburtstag von Erika Burkart nun angegangen werden müssen, wenn wir diese Dichterin gebührend feiern wollen. Das wollen wir auf jeden Fall, und das hier ist ein Aufruf: Wer organisiert diese Festivitäten? Dieser Text darf fürs Finanzierungsgesuch unentgeltlich verwendet werden. Und noch ein hilfreicher Hinweis auf die Verhältnisse in der zeitgenössischen Presselandschaft: Der zehnte Todestag eignet sich dafür als medialer Auftakt.

Für diesen Text habe ich nun endlich auch Romane von Erika Burkart gelesen, mich bewusst für Prosa entschieden, zum einen, weil ich das bisher versäumt habe, zum anderen, weil Lyrikerinnen oft die wunderbarste Prosa schreiben, man denke an Ursula Krechel, Marion Poschmann oder Michelle Steinbeck.

Und mich dann gefragt, ob ich wieder über diese Prosa-Lyrik-Dichotomie gestolpert bin, diesmal weniger in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, sondern mehr auf Relevanz; ob ich wohl insgeheim gedacht habe, Prosa wäre massgeblicher, dringlicher. Ich hoffe es nicht, aber ich weiss heute, dass man sich diese Fragen stellen muss.

Fest steht: Vertieft man sich in diese lyrische Prosa, so verschwinden die Schlieren, die sich um diese «Mythenschöpferin», wie sie zuweilen genannt wird, schmiegen, unverzüglich, und es wird der Blick einer Zeitgenossin freigelegt, die scharf und klar die Verhältnisse analysierte. Eine Spracharbeiterin, die Heimatlieder gnadenlos sezierte und im besungenen immerwährenden Abendschein, der sich über die Dächer der Heimat legt, jene Poesie des Elends entlarvt, die zur bürgerlichen Erbauung gepflegt wird.

Erika Burkart war eine Autorin, eine Jahrhundertautorin, die sich mit ihrer Zeit auseinandersetzte; sie war keineswegs lediglich die zurückgezogene Idyllenmalerin, als die sie gerne dargestellt wird – was nicht heisst, dass ihr die Natur nicht etwas vom Wichtigsten gewesen wäre.

Aber sie war auch eine Autorin, die mit den Augen ihrer Zeit wahrgenommen wurde, und entsprechend fallen die beiden Biographien aus, die ich finden konnte. In der einen kann man nachlesen, dass Erika Burkart dank einem «gütigen Förderer und Wegbereiter» ihre ersten Gedichte publizieren konnte, und dass ihr «die Gabe lyrischer Erinnerungsfähigkeit im Sinne der Grundbegriffe von Emil Staiger in hohem Mass eigen» sei. Es werden im folgenden viele Männer herbeigezogen, um die lyrische Qualität von Erika Burkarts Gedichten zu beglaubigen, und man kann nachlesen, dass ihr Wilhelm Lehmann (den man auch nur kennt, wenn man sich lange genug mit Naturlyrik auseinandergesetzt hat) persönlich attestiert habe, dass sie mit ihrer Lyrik auf dem rechten Weg sei.

In der zweiten Biographie, die drei Jahre jünger ist als die erste und aus dem Jahr 1979 stammt, kann man ebenfalls allerhand über die Dichterin Erika Burkart erfahren. Im Kapitel zum Familienleben werden ihrem Vater zwei Seiten gewidmet, («er verübte manche tollen Streiche und befriedigte seine Jagdlust an den Fischen des nahen Rheins») und der Mutter acht Zeilen, die so klingen: «Der Vater hatte ein vielbeachtetes Buch über das Seelenleben des Menschen geschrieben. Als Mitbegründer des Sanatoriums (…), in dessen Nähe seine Tochter lebte» – sie verstehen, dass ich weder die eine noch die andere Biographie fertig gelesen habe.

Aus heutiger Sicht soll man solche Biographien auch historisch lesen und grosszügig sein. Aber dass es bis heute nur wenige wissenschaftliche Abhandlungen zu Erika Burkart gibt und keine Biographie neueren Datums, die das Schaffen der Dichterin auf Augenhöhe würdigt, das kann man weder historisch lesen noch grosszügig übergehen.

Ein Thema für eine wissenschaftliche Arbeit könnte aber tatsächlich Erika Burkarts Vater sein (oder vielmehr seine Rezeption): Während er in Biographien als «freiheitsdurstiger, durch und durch ungewöhnlicher Mann» beschrieben wird, beschreibt ihn seine Tochter als Alkoholiker, «als grossen Jäger, dem es schlicht eine Beleidigung wäre, zum Musmahl von Frau und Tochter eingeladen zu werden.»

Und damit sind wir endlich beim Kern angelangt, der Literatur von Erika Burkart. Es gibt unzählige Aspekte, über die man schreiben kann, wenn man über Erika Burkart nachdenkt, und ich habe nur einige wenige herausgenommen, darunter die Pädagogik. Dies, weil ich den Beruf der Vikarin, den auch Erika Burkart nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin jahrelang ausgeübt hat, bestens kenne und deswegen weiss, dass sie ihrer Zeit um einiges voraus war.

Der poetische Blick, den Burkart den Kindern abliest – und ihnen beibringt – ist unverwechselbar und schimmert auch in ihren unkonventionellen pädagogischen Methoden durch. Und wenn sie das Aufsatzgeheimnis, dem Beichtgeheimnis nicht unähnlich, beschwört, oder in Schüler Emils Runenhandschrift, die sie nicht ohne Betroffenheit zur Kenntnis nimmt, Käfer, Strohhäcksel und Wurzelknollen mit Ausläufern erkennt, einer Handschrift also, die gezeichnet ist davon, dass dieser Knabe vor der Schule zwei Stunden arbeitet, ausserdem Bäume fällen kann, Vieh putzen und Tansen schleppen, dann kommt auch in derlei soziologischen Betrachtungen ihre poetische Sprachkraft zum Tragen.

Es ist diese Grosszügigkeit, die sie ihren Schützlingen entgegenbringt, die auch ihren weit gefassten Blick bedingt, und die sie zu Sätzen befähigt, in denen ich eine ungeheuerliche Aktualität erkenne: «Kinder verkörpern ein unausmessbares Potential an Hoffnung, das wahrnimmt, wer sich noch selbst in den Hoffnungsplan einbezogen fühlt.» Man weiss sogleich, wovon Erika Burkart spricht, wenn sie schreibt: «Die Kinder werden alles vergessen, was ich lehrte. Alle Kinder werden alles vergessen. Nicht vergessen werden sie, wie ich manchmal lachte, wenn ich hätte schelten sollen. Müssen die Schwachen schlottern, ist das Klima schlecht.»

Überhaupt hat die Schule Erika Burkart geprägt, zuweilen legen kurze Sätze ein ganzes Soziogramm der Gesellschaft aus: «ein Gehäuse, darin man wächst, soeben noch baumelten die Beine über dem Boden – und schon fühlt man sich eingeklemmt.» Und selten liest man Texte von derart olfaktorischer Wucht, eine ganze Gesellschaft dünstet Gerüche aus, im Schulhaus riecht es nach Altersheim, Strafanstalt und Kirche.

Im Blick des Kindes, das als Erwachsene in dem Schulhaus unterrichten wird, in dem es selber zur Schule gegangen ist, hat sich über die Zeit ein unermessliches botanisches Wissen angesammelt: «Am Fuss der innen vermutlich hohlen Scheinzypresse im Gras auftauchend, kreuzte die Ameisenstrasse, die schon in meiner Kindheit hier durchgeführt hatte, den Kiesweg, hielt, von Halmen getarnt, auf den Sandhaufen zu, führte in Gegenverkehr zur Zypresse.»

Überhaupt, die Zeit. Die Dichterin hat sich 25 Jahre Zeit gelassen, eben diesen Schulweg zu beschreiben, 8 Velo-, 25 Gehminuten. Sie versuchte, «sich das fünf Jahre lang begangene Wegstück zu erhalten, auf dem der Vikarin die Spuren des Kindes entgegenkamen. Sämtliche Versuche misslangen. Fünfundzwanzig Jahre würde dieses Gedicht auf sich warten lassen.» Auch davon schneide ich eine Scheibe für mich ab.
An Rilkes Grab schreibt Erika Burkart über die Zeit:

«Wenn ich, vom Schicksal ganz verlassen,
An eure Tür klopfe, meine Freunde,
Verdunkelt sich mein Blick von alleine,
Und auch das Klopfen im Herzen ist nicht beruhigend…»

Ich erinnere die geneigte LeserInnenschaft: Dies ist ein Aufruf. Eine Dichterin, die ein so umfangreiches Werk hinterlassen hat, in dem sich Beobachtungen aus nächster Nähe mit dem Weltgeschehen ein Stelldichein geben, in dem das Velo, das Fahrzeug der kleinen Leute, die Unanständigkeit der Börsenmakler aufzeigt, und eine Dichterin, die den grossen Schillerpreis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Gottfried-Keller-Preis, den Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis, den Johann-Peter-Hebel-Preis, den Ida-Dehmel-Literaturpreis, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und den Droste-Preis, um nur eine Auswahl zu erwähnen, erhalten hat – eine solche Dichterin darf nicht unbesungen bleiben. Und es wäre des Weiteren an der Zeit, einen Erika-Burkart-Preis auszuloben.

Ein Jubiläum zu veranstalten, bedeutet viel Arbeit, das weiss ich in der Zwischenzeit. Aber raffen Sie sich auf, nehmen Sie diese Aufgabe in Angriff. Lassen wir Erika Burkart nicht hundert Jahre im Berg.

Tabea Steiner ist Autorin, Literaturveranstalterin, Jurymitglied in verschiedenen Literaturgremien, derzeit der Schweizer Literaturpreise. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Vikariaten.

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