Wenn ich an Karl Marx denke, bringe ich ihn vor allem in Verbindung mit Revolutionen, roten Fahnen und dem Sturz der Bourgeoisie. Aber Trixa Arnold und Ilja Komarov erweitern meine Wahrnehmung von der Koryphäe des linken Gedankengutes: Sie inszenieren gerade Marx‘ «Kapital» als Musical. Die beiden Köpfe hinter dieser Idee erzählen, wie das zustande kam und wie das Stück aussehen könnte.
Joerg Hurschler: Ihr hattet heute den ersten Probetag. Wie lief es?
Trixa Arnold: Wir sind ein sehr heterogenes Ensemble, welches zuerst zusammenkommen muss. Wir sind viele: 10 Leute. Darum haben wir vor allem Kaffee getrunken, eine Suppe gegessen, über Kostüme geredet, gesungen und darüber gesprochen, wie wir das Stück entwickeln.
Ilja Komarov: Wir haben noch keinen fertigen Plan. Bis jetzt haben wir die Lieder geschrieben. Den ganzen Rest erarbeiten wir gemeinsam bei den Proben. Dafür haben wir den Regisseur Michel Schröder dazu geholt, mit welchem wir auf eine lange, vielseitige Zusammenarbeit zurückblicken können. Seine kompromisslose, instinktive Art wird uns perfekt ergänzen. Ausserdem ermöglicht uns diese Kollaboration, dass wir neben dem Bühnenspiel auch für die Musik zuständig sein können, und Trixa zusätzlich noch für die Dramaturgie.
Trixa Arnold: Das mit dem Musical meinen wir nämlich durchaus ernst. Es ist nicht so, dass wir uns lustig darüber machen. Das würde eher platt werden. Das ganze Ensemble hat einen Hang zum Singen und Tanzen. Gleichzeitig wollen wir die Unterhaltungsmaschinerie dekonstruieren: Das Musical ist die Kunstform, welche immer unter marktwirtschaftlichen Bedingungen überleben musste. Das scheint uns als beste Voraussetzung für eine Bühnenadaption des Monumentalwerks von Karl Marx.
Das Kapital erleuchtet alles.
Um was geht es im «Kapital»?
Ilja Komarov: Es ist die Kritik und die Analyse des kapitalistischen Systems. Das Buch zeigt auf, wie dessen Mechanismen in der Gesellschaft funktionieren: Wie wird Kapital akkumuliert, Mehrwert generiert, wo sind seine Mechanismen versteckt, woher schöpft das Kapital seine Macht? Und klar, Karl Marx sagt auch, dass der Kapitalismus ein Klassensystem ist, dass es den Proletarier ausbeutet, weil der Mehrwert dort gemacht wird, wo man nicht alles auszahlt. Wenn Kapital wachsen will, muss man es irgendwo abschöpfen.
Was mich nach der Lektüre dieser 2000 Seiten am meisten beeindruckt hat: Dass man die Strukturen der Gesellschaft aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet. Karl Marx hatte ein grosses Wissen darüber, was es heisst, Mensch zu sein. Beim Lesen entwickelt man ein Gefühl dafür, wie die Dinge zueinander stehen. Das Buch erleuchtet alles.
Trixa Arnold: Für mich ist ein Kernstück des Buches der Warenfetisch, welcher Marx beschreibt. Normalerweise ist ein Fetisch etwas, was Macht über uns hat, und über dessen Macht wir Bescheid wissen. Zum Beispiel ein Heiligenbild oder ein Fussfetisch. Ein Fetisch im Sinne von Marx ist aber etwas, das Macht über uns hat, ohne das wir uns dessen bewusst sind. Die Waren, welche wir selber herstellen, steuern uns. Viele Mechanismen laufen hinter unserem Rücken ab und so, dass wir sie nicht wahrhaben können oder wollen.
Ilja Komarov: Zum Beispiel Facebook. Wieso ist Facebook heutzutage eine der reichsten Firmen? Wir Konsumenten füttern die Plattform mit Informationen, Facebook verkauft diese und generiert damit Geld. Wir denken, wir verbringen damit unsere Freizeit, mit Posten, Liken, Kommentieren, wir konsumieren bloss. Aber eigentlich arbeiten wir gratis. Die kapitalistischen Vorgänge sind subtiler geworden, und gleichzeitig greifen sie immer tiefer in unser Privatleben ein.
Trixa Arnold: Ich bin in der 80er Jahren grossgeworden. Damals dachten wir, es kommt eine bessere Zeit. Es gab ein Sozialsystem, wir hatten Hoffnung. Aber alles hat einen Wandel durchgemacht. Ich finde, es hat ein Schritt zurück stattgefunden. Und trotzdem fühlen wir uns heutzutage frei und haben das Gefühl, dass wir in einer freien Welt leben. Aber wir alle sind den kapitalistischen Mechanismen unterworfen und das in verschiedenen Rollen, welche an Zwänge geknüpft ist, die wir krampfhaft zu erfüllen versuchen. Zum Beispiel die jeweilige Rolle in den sozialen Medien oder die Rolle als Konsument. Auch wir konsumieren gerne, ob es nun Ferien sind oder der Apfel aus dem Delikatessenladen. In unserem Musical werden wir bei unserer Rolle als linke, systemkritische Künstler ansetzen: Wir profitieren vom markwirtschaftlichen System, werden subventioniert mit Geld, welches von Menschen generiert wird, die wir nicht kennen, die vielleicht irgendwo am Rande der Gesellschaft ausgebeutet werden. Unter diesen Voraussetzungen dürften wir uns eigentlich gar keine kritische Haltung anmassen – schon gar nicht in Form forcierter Unterhaltung. Aber genau darum geht es. Marx durchdringt vieles. Er deckt Wiedersprüche und Reibungen auf, die in unserer Zeit vorhanden sind. Obwohl er auch auf die Nerven geht, penetrant ist, pathetisch. Aber er bietet eine gute Denkhilfe und hilft, die Welt zu verstehen.
Ilja Komarov: Die Welt ist kompliziert und das Kapital ist ein kompliziertes Buch. Ich glaube, etwas Kompliziertes lässt sich eben gut mit etwas Kompliziertem erklären.
Karl Marx hatte ein grosses Wissen darüber, was es heisst, Mensch zu sein.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen aus diesem Buch ein Stück zu machen?
Trixa Arnold: Beim Biertrinken.
Ilja Komarov: Das war vor etwa zweieinhalb Jahren. Als wir das damalige Stück abgespielt haben, sass ich mit dem Regisseur Michel Schröder beisammen und er fragte mich, was für Ideen ich noch hätte. Ich sagte aus dem Bauch heraus: «Das Kapital» – ein Musical. Es war ein Geistesblitz. Ich hatte dieses Buch noch im Hinterkopf; ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen und habe Ökonomie studiert. Das Kapital war da Pflichtlektüre. Obwohl es mich damals überhaupt nicht interessiert hat, ist es mir geblieben.
Wie habt ihr euch auf die heute beginnende Probezeit vorbereitet?
Ilja Komarov: Wir haben das Buch gelesen, Textfragmente herausgefischt und Librettos geschrieben. Das ist die Basis, mit welcher wir in die sechswöchige Probephase starten.
Trixa Arnold: Es ist interessant, was passiert, wenn man Marx’ schwere Sprache singt. Die Texte mit Emotionen gefüllt, bekommen einen ganz anderen Sinn.
Ilja Komarov: Sie werden zugänglicher.
Trixa Arnold: Ich glaube, wir spielen mit einem grossem Risiko. Die Gefahr, dass es scheitert, besteht. Aber die Gratwanderung macht es erst interessant. Es ist eine immense Masse an Informationen, welche wir verarbeiten. Wir müssen aufpassen, dass es nicht verwässert, weil «Das Kapital» alle Bereiche des Lebens abdeckt. In dieser Masse muss man erst das finden, was einen selber betrifft. Wir möchten Bilder finden, welche die Übersättigungsmaschine, in welcher wir drin leben, zeigt.
Aber nochmals: Warum ein Musical?
Ilja Komarov: Was willst du sonst damit machen? Ein Drama? Das geht nicht. Das Musical hat ein universales Format und so wird das sperrige Buch für alle zugänglich und breit konsumierbar. Wir wollen ja auch Kapital daraus schlagen! (Ilja und Trixa lachen.)
Die Premiere von «Karl Marx. Das Kapital als Musical» findet am 25. Oktober im Fabriktheater statt und wird bis Anfang November aufgeführt.