Das Suchfenster im Bibliotheks- oder Archivkatalog öffnet uns Türen und Tore zu neuen Welten. Worüber wir beim Eintippen von Suchbegriffen aber oft nicht nachdenken, ist, dass dieses Fenster konzipiert ist, gebaut wurde und unterhalten wird. Es hat unterschiedliche Linsen, die uns Bestimmtes sehr deutlich sehen lassen, andere Dinge jedoch nur unscharf und umrisshaft – zum Beispiel Texte von marginalisierten Gruppen. Um die einen Sachen zu finden, reicht es ein Wort einzugeben, für andere brauchen wir eine Vielzahl von Suchbegriffen, bis wir die gesuchte Information finden. Manches ist gar nicht aufzufinden. Jede Suchabfrage, jede Bemühung, sich Informationen zu beschaffen, ist geprägt durch Handlungen und Entscheidungen von Bibliothekar:innen, Informationswissenschaftler:innen, Entwickler:innen, die die Rahmenbedingungen für unsere Suche gestalten. Sie beschreiben, benennen und ordnen, und dabei spielen ihre Haltungen, Meinungen und kulturellen Situierungen eine Rolle. Beiläufig prägen sie Entscheidungen, die politisch sind.
Die Bibliothekarin der City University New York Emily Drabinski zeigt, dass bereits die Frage der Übernahme der Schlagwortkategorien der Library of Congress, mit denen die meisten Bibliotheken im Nordamerikanischen Raum arbeiten, politisch ist: Werden globale Kategorien wie «Illegal aliens» übernommen, selbst wenn sie eine entwürdigende Bedeutung haben? Soll die Kategorie lokal umbenannt oder bei der Library of Congress eine Umbenennung des Schlagworts beantragt werden?
Basierend auf der Ausstellung «Reading the Library» (2021) im Sitterwerk St. Gallen nimmt diese Ausgabe der Fabrikzeitung den Bibliothekskatalog als Fenster zur Welt in den Blick. Wie können wir das Gemachtsein dieser Fenster sichtbar machen – und das Machen derselben kritisch begleiten? «Reading the Library» ist eingebettet in ein mehrjähriges Projekt, das die Frage, wie Bibliotheken stärker aus der Perspektive der Nutzer:innen, der Suchenden gedacht werden können, in den Blick nimmt. In Workshops, Ausstellungen und einem Journal wird ein Raum geschaffen, diese Frage zu diskutieren und konkrete Experimente zu erarbeiten. Als zentrales Element der Ausstellung haben Lucie Kolb und Eva Weinmayr ein Studienprogramm entwickelt, das den Bibliothekskatalog aus einer intersektionalen Perspektive befragt. Mit diesem Syllabus wird in Form einer Installation im Sitterwerk und der Website syllabus.radicalcatalogue.net ein Ort geschaffen, an dem «der radikale Katalog» verhandelt werden kann. Es ist ein Raum, in dem Bedenken und Anliegen gemeinsam herausgearbeitet werden und ein Problembewusstsein entwickelt werden kann. In acht «Lektionen» werden Praktiken des Organisierens und Zugänglichmachens von Wissen in Bibliotheks-katalogen befragt und im Gespräch mit Bibliothekar:innen, Aktivist:innen, Künstler:innen, Designer:innen und Programmierer:innen Möglichkeiten intersektionaler Interventionen und Experimente diskutiert. Für die vorliegende Ausgabe soll dieser Syllabus aktiviert und gleichzeitig weitergedacht werden.
Mit der deutschen Übersetzung des Artikels «Teaching the Radical Catalog» (2008) von Emily Drabinski und einem Gespräch mit der Informationswissenschaftlerin Nora Schmidt nehmen die ersten beiden Lektionen eine geopolitische Verortung westlicher Bibliothekssysteme vor. Sie beschreiben, inwiefern Informationsabfrage kein neutraler, technischer Akt, sondern durch soziale und politische Faktoren geprägt ist, deren koloniales Erbe es für eine de-koloniale Praxis erst aufzuarbeiten gilt.
In einem Gespräch mit Künstler:innen, Aktivist:innen, Designer:innen und Sammler:innen, die verschiedene alternative lokale Bibliotheken und Archive initiiert haben, konzentriert sich die dritte Lektion auf die Möglichkeiten und Potentiale von Dezentralisierung. Auch online haben Künstler:innen seit einigen Jahren digitale Archive und Bibliotheken, sogenannte Schatten-biblioheken initiiert. Shusha Niederberger befragt solche Projekte auf ihr Verhältnis zur öffentlichen Bibliothek, auf Prinzipien des zivilen Ungehorsams und jener der radikalen Sorge.
«Warum sind die Autoren der Bücher, die ich lese, so männlich, so weiss, so eurozentrisch?» fragt die vierte Lektion, und zitiert damit ein Projekt des Kollektivs Feminist Search Tools. In einem Gespräch geben sie Einblick in ihre experimentellen Tools, mit denen sie Mechanismen von Bibliothekskatalogen offenlegen und die Frage stellen, wie Intersektionalität in der Bibliothekssuche berücksichtigt werden kann. Diese Frage hat sich auch eine Gruppe von Frauen um die Bibliothek Wyborada gestellt, die auf Einladung der Kunstbibliothek Sitterwerk Kriterien und Charakteristika einer feministischen Bibliothek skizziert haben.
Die Soziologin Susan Leigh Star schreibt in «The Ethnography of Infrastructure», dass Infrastruktur erst dann sichtbar wird, wenn sie kaputt ist. In Prozessen der Wartung, Pflege und Instandhaltung wird alles daran gesetzt, sie im Hintergrund zu halten. Das macht es schwierig, sie zu kritisieren. Die Lektionen vier bis sechs machen deutlich, dass dasselbe auch für die Infrastruktur des Bibliothekskatalogs gilt. Mit Zitaten aus Gesprächen mit verschiedenen Kollektiven (Infrastructural Manoeuvres, The Rewrite und Constant), möchten wir auf Experimente und Ansätze verweisen, die an der Infrastruktur des Bibliothekskatalogs kratzen. Diese Kollektive arbeiten daran, die technologischen Grundlagen, die Vorgaben der Benennung und Klassifizierung sowie die Autorität und das Privileg derjenigen, die katalogisieren, freizulegen. Sie entwickeln Werkzeuge, um den Katalog durchlässiger zu machen, damit die Nutzenden Einwände erheben, ihn umschreiben, verändern und mitbestimmen können.
Nicht zuletzt bietet der «Handapparat» einen Ausblick auf viele weitere Initiativen, Ansätze und Überlegungen, die sich mit Prozessen der De-Universalisierung, De-Kolonialisierung und De-Patriarchalisierung von Wissensordnungen beschäftigen.
Editorial (EN)
The search window, whether in the library or archive catalogue, opens doors and gates to new worlds. However, often, when we type in search terms it escapes our attention that this window is designed, built and maintained. It has certain biases and filters that tend to show us some things with greater frequency than others, e.g. texts from marginalized groups.
To find certain things, it might be enough to type one word, for others we need a multitude of search terms until we find the information we are looking for. Some things cannot be found at all. Every search query, every effort to obtain information is shaped by the actions and decisions of librarians, information scientists and developers, who create the framework for our search. They describe, name and order, and their attitudes, opinions and cultural situations play a role. They casually shape decisions that are political.
Emily Drabinski, librarian at City University of New York, shows that even adopting the Library of Congress keyword categories employed by most libraries in North America triggers political decisions. Do you simply adopt a global category like “Illegal Aliens” despite its degrading meaning, do you set out to redefine the category locally, or do you appeal to the Library of Congress to change the contentious descriptor?
Based on the exhibition “Reading the Library” (2021) at Sitterwerk St. Gallen, this issue of Fabrikzeitung focuses on the library catalogue as a window to the world. It asks how we can make the constructedness of the windows visible, and how we can critically look beyond the construction. “Reading the Library” is part of a long-term project exploring how libraries can be thought of from the perspective of the user, e.g. the searcher. In workshops, exhibitions and a journal, we discuss these questions and conduct concrete experiments. As a central element of the exhibition, Lucie Kolb and Eva Weinmayr have developed a study programme that questions the library catalogue from an intersectional perspective. Its syllabus creates a space for discourse and negotiation, both via a spatial installation at Kunstbibliothek and Werkstoffarchiv Sitterwerk and at syllabus.radicalcatalogue.net. The syllabus takes a form that can create awareness and allow people to collaboratively work out possible concerns and issues. In eight lessons, it examines practices of organizing and rendering knowledge searchable and findable in library catalogues, and deliberates with librarians, activists, artists, designers, and programmers about possible intersectional interventions and experiments. With this issue of Fabrikzeitung we hope to put the syllabus into practice and explore further its dimensions.
With the German translation of Emily Drabinski’s article “Teaching the Radical Catalog” (2008) and a conversation with information scientist Nora Schmidt, the first two lessons take on the geopolitical situatedness of Western library systems. They describe how information retrieval is never a neutral, technical act, but is shaped by social and political factors, the colonial heritage of which must first be addressed for any de-colonial practice to take place. In conversation with artists, activists, designers, and collectors who have initiated a range of independent local libraries and archives, the third lesson focuses on the possibilities and potentials of decentralization. Similarly, in the last decade, artists have been initiating digital archives and online shadow libraries. Shusha Niederberger surveys selected projects and their relationship to the concept of the public library, implicit principles of civil disobedience, and radical care.
The question “Why are the authors of the books I read so male, so white, so Eurocentric?” is at the centre of the fourth lesson, in which the Feminist Search Tools group share insights from their work both prototyping digital search tools aiming to reveal (hidden) library search mechanisms and addressing how intersectionality could be taken into account in library searches.
Similarly, at the invitation of Sitterwerk, members and affiliates of Wyborada women’s library in St. Gallen came up with a list of characteristics and criteria for what makes a feminist library.
The subsequent lessons draw on sociologist Susan Leigh Star, who claims in “The Ethnography of Infrastructure” that infrastructures only become visible when they are broken. Through maintenance, care and upkeep, everything is done to keep these structures in the background, making it difficult to criticize them.
Lessons four to six point out that these infrastructural politics also apply to the library catalogue. Quoting from conversations with various collectives (Infrastructural Manoeuvres, The Rewrite, and Constant), we want to point to experiments and approaches that scratch at the library catalogue’s infrastructure. These collectives work towards exposing the technological foundations, the defaults of naming and classification, and the authority and privilege of those who catalogue. They develop tools to make the catalogue more porous, for the user to raise objections, to rewrite, modify, and have a say.
Last but not least, the collection of resources, references, and affinities offers an outlook on many other initiatives, approaches and reflections that deal with the de-universalization, de-colonization and de-patriarchalization of knowledge organization and practices.