Die Regisseurin Anina Jendreyko hat in enger Zusammenarbeit mit ezidischen Frauen und intensiver Recherche vor Ort ein Theaterstück über die Selbstermächtigung der ezidischen Frauen geschrieben. «Shengal – die Kraft der Frauen» wird Ende April/Anfang Mai in der Roten Fabrik aufgeführt. Ich treffe sie zu einem Gespräch über Zoom.

Im August 2014 geschieht etwas, das zwar nahe an der europäischen Grenze, aber dennoch weit von unseren Köpfen und unserem Alltag entfernt passiert: Der IS (Islamischer Staat) überfällt den Shengal mit dem Ziel, die ezidische Bevölkerung auszulöschen. Angehörige der kurdischen Befreiungsbewegung errichten einen humanitären Korridor, mit dem etwa 200’000 Männern, Frauen und Kindern die Flucht gelingt. Dennoch werden beim Überfall tausende Männer erschossen und unzählige Frauen vergewaltigt, verschleppt und als Sexsklavinnen verkauft – viele davon gelten noch heute als vermisst. Nach der Befreiung vom IS 2017 beginnt der Wiederaufbau und die bisher stark patriarchalen Strukturen der Glaubensgemeinschaft befinden sich seither im Umbruch.

Lea Schlenker: Was war für dich der Anlass, dich mit dieser Thematik zu befassen?

Anina Jendreyko: Ich kenne die kurdischen Gebiete in der Türkei, in Syrien, im Irak und auch im Iran seit Beginn der 90er Jahre. Auch mit der politischen Situation vor Ort befasse ich mich schon sehr lange und spreche die Sprache. 2014 habe ich dann mitbekommen, dass der sogenannte Islamische Staat den Shengal überfällt. Hätte die kurdische Befreiungsbewegung damals keinen humanitären Korridor errichtet, wäre eine grauenvolle Situation entstanden. Der IS zog damals in den Shengal mit dem Ziel, die ezidische Bevölkerung zu vernichten. Dieser humanitäre Korridor war ein historisches Ereignis. Es war das erste Mal, dass die ezidische Bevölkerung Unterstützung von aussen erhielt. Seit der Gründung des Islams werden sie als Glaubens-gemeinschaft verfolgt, 74 schriftlich festgehaltene Vernichtungsversuche gab es an ihnen, heute leben nur noch knapp 1 Millionen Ezid*innen. Ich bin kurz nach der Befreiung von Mosul in den Shengal gereist und was ich dort mitbekommen habe, die innergesellschaftliche Umwälzung, die der humanitäre Korridor ausgelöst hat, wie die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben, das hat mich sehr beeindruckt. Ich fand, das muss in die Welt herausgetragen werden und habe somit damit angefangen, an dem Theaterstück zu arbeiten.

Wie hast du es geschafft, eine solche Thematik aufzugreifen, ohne die betroffenen Frauen automatisch in eine Opferrolle zu zwängen?

Die Frauen selber haben es geschafft, sich aus dieser Rolle zu befreien, in dem sie damit begonnen haben, sich zur Wehr zu setzen, sich zu organisieren und eine andere Perspektive zu vertreten als die eines Opfers. Bei Reisen in den Shengal erlebe ich das immer sehr stark. Alle, die bisher mit mir in den Shengal gereist sind – ich selbst war bisher insgesamt viermal dort – kommen sehr gestärkt wieder zurück. Sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen: das setzte Energien frei. Ich war mir zu Beginn nicht ganz sicher, ob es möglich ist, damit theatralisch um-zugehen und einen so jungen Genozid überhaupt auf die Bühne zu bringen. Wir haben zu Beginn erst einige Testdurchläufe durchgeführt, um zu sehen, ob es funktioniert, ob die Ereignisse und die Kraft der Menschen dort nach hier übersetzt werden können. Wir haben dann in Basel und in Deutschland gespielt und die Rückmeldung erhalten, dass das, was dort passiert ist, unbedingt erzählt werden muss und dass das Publikum den Abend gestärkt verlässt.

Woran könnte das liegen?

Das liegt daran, dass dieser Mut und diese Initiativkraft übertragen wird. Man kann nicht einfach darauf warten, dass sich die Bedingungen ändern. Das war dann auch meine Motivation dahinter. Ich wollte zeigen, wie damals die Frauen ihre Geschichte selbst in die Hand genommen haben. Der humanitäre Korridor war ein historisches Ereignis, das Energien freigesetzt hat, die sich auf die Männer und die Frauen übertragen hat. In der kurdischen Befreiungsbewegung steht die Befreiung der Frau im Zentrum. Das spiegelt sich in allen Formen der Organisation wider, sowohl in den zivilgesellschaftlichen Strukturen als auch in der Selbstverteidigung.

Denkst du, dass Kunst eine Möglichkeit ist, um Traumata zu verarbeiten?

Ob Kunst dabei helfen kann, Traumata zu verarbeiten, das kann ich so generell nicht beantworten, das wäre auch vermessen. Aber Kunst kann sich mit traumatischen Ereignissen auseinandersetzen und bei deren Verarbeitung unterstützend wirken. Selbst Kunst zu machen, kann sehr lebensbestärkend wirken, weil es beim Individuum einen schöpferischen, kreativen Prozess auslösen kann. Mit unserem Stück setzen wir uns mit einem traumatischen Ereignis auseinander und diejenigen, die aus einem ähnlichen politischen Kontext kommen, erfahren durch das Stück eine Anerkennung ihrer Geschichte, ein Sichtbarmachen. Das finde ich einen sehr wichtigen Aspekt. Zudem war bei den bisherigen Vorstellungen das Bedürfnis nach einem Austausch über das Gesehene immer sehr gross und es kam nach jeder Aufführung zu angeregten Publikumsgesprächen. Wenn während eines Theaters Menschen in eine Beziehung zueinander treten und sich über das Gesehene austauschen, unterhalten, obwohl sie sich nicht kennen, dann hat sich die Arbeit sehr gelohnt.

Wie du erwähnt hast, werden noch Frauen vermisst. Wie gehen die Menschen im Shengal damit konkret um?

Über achttausend Frauen wurden entführt und als Sexsklavinnen verkauft. Viele wurden durch die kämpfenden kurdischen Fraueneinheiten aus den Armen der Schergen befreit und auch durch ein gross angelegtes verborgendes Netz von Rückkauf. Der sogenannte IS finanziert sich z.T. darüber. Von ungefähr 2’500 Frauen fehlt jede Spur. Im Shengal selbst gibt es den «TAJE» – der Frauendachverband – unter dessen Dach sich viele verschiedene Frauenstrukturen organisieren. Eine davon ist mit der Auffindung der Frauen beschäftigt, die noch immer versklavt sind. Die Versklavung wurde also nicht tabuisiert, sondern schafft ein Bewusstsein dafür, dass Krieg immer auch über den Körper der Frau ausgetragen wird.

Wo liegen weitere Probleme?

Die Südkurdische Regierung (KDP) und der Irak lassen die Menschen, die in den Flüchtlingslagern um Dohuk leben, nicht zurück in den Shengal. In den Camps leben nach wie vor an die 300’000 Menschen ohne jegliche Perspektive. Es ist nicht im Interesse der regionalen Kräfte, dass sich im Shengal eine basisdemokratische Gesellschaftsstruktur, ähnlich der Gesellschaftsform in Rojava (Nordsyrien), entwickelt. Was durch den humanitären Korridor verhindert werden konnte, soll jetzt über, die sich ständig wiederholenden Angriffe der Türkei per Drohnen und per Flugzeug fortgesetzt werden. Das ist tragisch und findet weit ab von der Weltöffentlichkeit statt. Wenn es den Shengal nicht mehr gibt, dann wird es in zwei oder drei Generationen auch kein Ezidentum mehr geben. Das Ezidentum ist eine der ältesten Glaubensgemeinschaften auf unserer Welt – sehr stark mit der Natur verbunden, zutiefst friedliebend und im Ursprung matriarchalisch.

Was wünscht du dir denn für die Zukunft? Wie sollen die Diskussionen weitergehen?

Dass die Ignoranz gegenüber den Ereignissen in der Region durchbrochen wird. Dass das Recht auf Existenz der ezidischen Gemeinschaft im Shengal anerkannt wird und dass wir uns nicht blenden lassen, sondern Zivilcourage, Mut und Handlung entwickeln. Wir müssen uns für eine Welt einsetzen, in der die Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht das Geld und die Wirtschaft. Dass wir uns von dem Mut und der Hoffnung der Menschen im Shengal anstecken lassen.

«Shengal – Die Kraft der Frauen» wird am 30. April um 20 Uhr im Fabriktheater aufgeführt. Weitere Vorstellungen finden vom 3. – 5. Mai statt.
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