So wie das Rauchen in Restaurants, Konzerthallen oder am Arbeitsplatz früher selbstverständlich war, so war und ist es üblich, beim Strassenbau mit der ganz grossen Kelle anzurichten. Das wusste auch die Standard Telephon und Radio AG STR, die Anfang 1970er Jahre ihren Firmensitz in der Roten Fabrik hatte. 1974 verlegte sie diesen an einen anderen Standort, da sie befürchtete, dass die Fabrik den Ein- und Ausfahrten für den vieldiskutierten Seetunnel würde weichen müssen. Die Stadt hatte die Liegenschaft 1972 gekauft und schmiedete wiederum Pläne, die Seestrasse bei der Roten Fabrik auf vier oder gar sechs Spuren zu erweitern und einen Park am See zu erstellen. Dies hätte ebenfalls den Abriss der Roten Fabrik zur Folge gehabt. Gegen die Erweiterung der Seestrasse und gegen den Abriss kämpfte die SP Kreis 2. Sie reichte bereits 1974 eine Volksinitiative für ein Kultur- und Freizeitzentrum ein, welche 1977 von der Stimmbevölkerung der Stadt Zürich angenommen wurde. 1980 wurde der Betrieb des Kulturzentrums Rote Fabrik aufgenommen.
Der Kampf der Zivilbevölkerung gegen Strassenprojekte war allerdings nicht immer so erfolgreich. Der Nationalstrassenbau war besonders zäh, da sogenannte übergeordnete Interessen im Spiel waren und der Geldsegen aus Bundesbern von lokalen und kantonalen Behörden gerne angenommen wurde. Für die Stadt Zürich sah die nationale Autobahnplanung in den 1950er Jahren vor die Autobahnen aus dem Westen, Süden und Osten des Landes über dem Sihlraum auf Höhe der Badanstalt Oberer Letten auf Brücken zu verknüpfen, mit dem sogenannten Y. Das Y fand bereits 1955 Eingang in den nationalen Generalverkehrsplan. Es war eine massive Bedrohung für das Leben in der Stadt. Die Autobahnbrücke wäre entlang der Limmat im Kreis 5 zum Oberen Letten zu stehen gekommen, wäre dort mit dem Milchbucktunnel über der Limmat verknüpft worden. Ebenso wäre vom Hauptbahnhof her die Brücke angeschlossen worden, die als Verlängerung der später realisierten Sihlhochstrasse vor der Kaserne durch über den Hauptbahnhof hinweg zum Oberen Letten geführt hätte. Später wurde die Brücke über den Hauptbahnhof doch als zu massiver Eingriff verstanden und ein Tunnel in der Sihl geplant. Unter dem Hauptbahnhof befindet sich bis heute ein vorsorglich gebautes Stück Tunnel. Er soll bald als Velounterführung eröffnet werden.
Die Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau ZAS (1959-1989), ein Verein von Architektinnen, Planerinnen, Bauingenieurinnen, die sich immer wieder für oder gegen städtische Projekte einsetzten, engagierte sich gegen das Y. 1974 und 1977 wurde über zwei Volksinitiativen gegen den Bau des Y abgestimmt (Für ein Zürich ohne Expressstrassen Y). Beide wurden von der Stimmbe-völkerung abgelehnt. Allerdings äusserte sich die Bevölkerung der Stadt Zürich für die Initiativen. Schliesslich wurden Teile des Y realisiert: Die Autobahn von Chur wurde als Schneise durch den Entlisberg in Wollishofen geschlagen und über die Allmend Brunau auf die Sihlhochstrasse hoch bis zum Sihlhölzli (1974) geführt. Der Milchbucktunnel von Schwamendingen zum oberen Letten, inklusive Autobahnschneise durch Schwamendingen (1980), die das Quartier trennte und seither mit Lärm und Luftverschmutzung belastete, wurde 1985 eröffnet. Bis zur Vollendung des Y sollte die sogenannte Westtangente quer durch die Stadt ab 1970 den Autoverkehr übernehmen. Dafür wurde die Rosengartenstrasse auf vier Spuren erweitert, die 1350 Meter lange Hardbrücke über den Kreis 5 und die Bahngeleise gebaut, West- und Seebahnstrasse quer durch das ganze Sihlfeld je zweispurig pro Richtung von und zum Sihlhölzli geführt. Ebenfalls als Entlastung oder als Ersatz des Y wurden Teile eines Autobahnrings um die Stadt erstellt, die Nord-umfahrung mit Gubristtunnel (1985) und die Südumfahrung mit Üetlibergtunnel (2009). Der Gubristtunnel bewirkte keine Entlastung des städtischen Verkehrs, da die Entwicklung des Limmattals und des Glattals mit Arbeitsplatz- und Wohngebieten sowie Shopping-zentren und Fachmärkten schnell und heftig voranschritt. Die Strecke wird bis 2025 auf sechs Spuren ausgebaut. Zur Eröffnung der Südumfahrung und des Uetlibergtunnels wurden sogenannte flankierende Massnahmen verlangt, um den überregionalen Verkehr tatsächlich ausserhalb der Stadt zu halten. Die Weststrasse wurde zu einer Quartierstrasse mit Tempo 30 umgebaut, die Seebahnstrasse wird in beide Richtungen befahren. Die Lebensqualität im Quartier hat enorm profitiert, ebenso die Hausbesitzenden. Die Gentrifizierung war frappant. Damit war die Geschichte aber noch nicht zu Ende. 2009 hatte zwar selbst die bürgerliche NZZ (20.04.2009) ein Einsehen: «Während sich der Verkehr von drei Autobahnen seit 40 Jahren in die Stadt ergiesst und die Umfahrung (Üetlibergtunnel, Anm. d. A.) erst jetzt bereitsteht, ist nüchtern festzustellen, dass Zürich Opfer einer gigantischen Fehlplanung geworden ist.» Allerdings applaudierte sie gleichzeitig dem neu vorgeschlagenen Stadttunnel. Dieser sollte von der Allmend Brunau nach Dübendorf führen und dort an die Autobahnanschlüsse geknüpft werden. Eine Verzweigung im Zürichberg drin sollte zum Tiefenbrunnen führen, genannt Adlisbergtunnel, so dass die Goldküste, die bis heute keinen Meter Autobahn hat, besser autoerschlossen wäre. Der Stadtunnel ist im Verkehrsrichtplan des Kantons Zürich mit Datum Oktober 2019 immer noch eingetragen, ausserdem auch ein Tunnel vom Burgwies (unterhalb der Psychiatischen Universitäts Klinik, ehemals «Burghölzli») nach Waltikon (Gemeinde Zumikon, höchstes Durchschnittseinkommen im Kanton Zürich). Auch eine Ersatzvariante Seetunnel ist noch als gestrichelte Kurve im See zu finden. Der Regierungsrat bat 2017 den Bundesrat, das Y aus dem Nationalstrassennetz zu streichen und dafür den Stadttunnel von der Brunau nach Dübendorf (mit Halbanschluss am Sihlquai) einzutragen Es gab verschiedene Versuche, die Rosengartenstrasse zu entlasten. Die Idee dazu war der Waidhaldentunnel, der den Bucheggplatz mit Zürich West verknüpft hätte und als eine Art Miniumfahrung funktionieren hätte sollen. Der bisher letzte Versuch war die Planung eines vierspurigen Tunnels vom Milchbuck zur Hardbrücke mit Anschluss am Bucheggplatz. Dafür wäre die Rosengartenstrasse mit Tempo 30 lebensfreundlicher gestaltet und mit einer Tramlinie versehen worden. Ein Tunnelportal beim Wipkingerplatz, mehrere abzureissende Häuser, eine lange währende Baustelle und Gentrifizierung der Quartiere waren Schwachstellen des Projekts. In der Abstimmung vom 9. Februar 2020 lehnten die Stimmberechtigten des Kantons Zürich das 1,1-Milliarden-Projekt ab. Zu teuer, zu wenig Nutzen, zu viel neuer Verkehr waren Argumente gegen das Projekt. Implizit war es aber wohl das Wissen, dass dieses Projekt nichts mit der zukünftigen Mobilität in Städten zu tun hat. Der Widerstand gegen diese wahnartigen Fehlplanungen formierte sich in Gruppen wie «Allianz alli gäge d’Brugg – Weder Trugg no Bunnel», «Luft und Lärm», «Kur- und Verkehrsverein Wipkingen», «IG Westtangente». In den 1980er-Jahren und bis heute spielt der Verkehrsclub der Schweiz VCS eine sehr wichtige, engagierte und ideenreiche Rolle gegen den Ausbau der Strassen und Parkplätze, für den öffentlichen Verkehr (z.B. Durchgangsbahnhof im HB) und den öffentlichen Raum (z.B. autofreies Limmatquai). Die Denkweise, dass der Autoverkehr durch die Stadt muss, die Stadt nicht an Qualität und Standortgunst einbüsse, ihre Wirtschaft gar zum Erliegen kommen könnte, ist jedoch bis heute in vielen Köpfen verblieben, obwohl das Gegenteil längst bewiesen wurde. 2008 ging ein Video der «Sprengung der Hardbrücke» viral. Aktivistinnen rund um das Stadtlabor hatten ein wirklichkeitsnahes Modell gebaut und gesprengt. In vielen Städten wurden in den vergangenen Jahren tatsächlich Expressstrassen rückgebaut. Bekanntestes Beispiel ist Cheonggyecheon in Seoul, die 2003 abgerissen und in einen Park verwandelt wurde. Auch in Nordamerika gibt es viele Bespiele, wo die Expressstrassen, oft Viadukte entlang der Meeres- oder Seefront, abgebaut wurden, wie der Harbor Drive Freeway in Portland, der Central Freeway und Embarcadero Freeway in San Francisco oder der West Side Highway in New York City.
In der Architektur-Zeitschrift Hochparterre 5/2002 schreibt Benedikt Loderer einen Artikel aus der Zukunft unter dem Titel «Nach siebzig Jahren Zickzack-Planung: Reisst die Autobahn ab!» Er griff dabei die Idee auf, dass sobald die Umfahrung erstellt ist, die Stadtautobahnen zu Alleen und Boulevards rückgebaut oder für andere Nutzungen zur Verfügung gestellt werden. Die möglichen städtebaulichen Entwicklungen wurden als Vorher-/Nachher-Gemälde in der Zeitschrift dargestellt. Bernerstrasse mit 4 statt 9-11 Spuren, der Escher-Wyss Platz ohne Hardbrücke und die Pfingstweidstrassse ungefähr so, wie sie 2011 realisiert wurde, nämlich als Boulevard. Loderers Szenario beschrieb ein Volksfest, welches am 7. Mai 2017 stattfinden würde. Am darauffolgenden Tag würde die Hardbrücke abgerissen und der Rückbau 2020 beendet worden sein. Inzwischen befinden wir uns in ebendiesem Jahr 2020 – und der Optimismus von Loderer ist leider nicht Realität geworden.
Aber immerhin, die Pläne aus den 1970er Jahren, die Rote Fabrik einer Verbreiterung der Seestrasse auf vier und mit Abzweigern auf sechs Spuren zu opfern, wurden dank Widerstand nie realisiert. Eine Verbreiterung hätte mindestens eine Verdoppelung des Platzbedarfs für die Strasse Richtung See bedeutet. Je nach Höchstgeschwindigkeit (60 oder 80km/h) und Einrichtung von Trottoir und Velospur wäre eine Breite von mehr als zwanzig Metern Strassenraum beansprucht worden. Womöglich wären auch noch zahlreiche Parkplätze für die Besucher*innen der Seeanlage erstellt worden. Die Seeanlage wäre immer kleiner geworden und der von der Strasse ausgehende Lärm hätte die Qualität der geplanten Seeanlage stark vermindert. Wären die Pläne des grossen Seetunnels vom Tiefenbrunnen nach Wollishofen mit Anschluss auf dem Gelände der Roten Fabrik Realität geworden, hätte nicht einmal ein Park entstehen können. Das Seeufer wäre nachhaltig verschandelt geworden.
Wenn die Strassenwerke am See gebaut worden wären, wäre in der Aktionshalle, in der Taifun- und Drohnendisco, im Ziegel oder in den Ateliers nie so viel geraucht worden. An den Konzerten vernebelte der viele Rauch die Sicht auf die Bands, aber das Feeling war einfach grossartig. Jede Woche ein paar Konzerte. Theater. Ausstellungen, am See hängen, Leute kennenlernen. Mit dem Velo nach Hause schweben. Lieb- und Freundschaften entstanden und vergingen, aber die Fabrik blieb. Bis heute. Einige Karrieren in Kulturinsitutionen, in der Politik, in der Kreatviwirtschaft hätten nicht stattgefunden, hätten sie nicht in der Roten Fabrik begonnen. Die Alternativkultur war bald nicht mehr alternativ, dafür inspirierte sie das Alltagsleben, die Populärkultur und die Ökonomie. Hätte es sie nicht gegeben, wäre der Kultursektor elitär und exklusiv geblieben. Hätte es die Rote Fabrik nicht gegeben, hätte Zürich den Anschluss an die Entwicklungen in anderen Städten verpasst, wäre die graue Finanz- und Versicherungsstadt geblieben, die sie war, und nie zur kulturreichen, aufgeschlossenen und lebenswerten Stadt geworden. So hängen Rauchen, Lochen und Reichtum zusammen. Und schliesslich sind nur noch ein paar Probleme zu lösen: Bezahlbare Mieten, Klimawandel, …

Philipp Klaus ist Wirtschafts- und Sozialgeograph im INURA Zürich Institut. Er forscht, lehrt und publiziert zu Fragen der Stadtentwicklung. inura.ch
Der vorliegende Text ist ein angepasster Auszug aus der Publikation zur Geschichte der Roten Fabrik, die Ende November im Limmat Verlag erscheinen wird: IG Rote Fabrik (Hg.), «Bewegung tut gut – Rote Fabrik», ISBN 978-3-03926-008-9
Der vorliegende Text ist ein angepasster Auszug aus der Publikation zur Geschichte der Roten Fabrik, die Ende November im Limmat Verlag erscheinen wird: IG Rote Fabrik (Hg.), «Bewegung tut gut – Rote Fabrik», ISBN 978-3-03926-008-9

Ein Kommentar auf “Die Durchlöcherung der Stadt

  1. Anna sagt:

    Könnte ich sprayen und hätte ich den Mut dazu, würde ich aussen an die Hardbrücke Mani Matters Text schreiben: Nei säget söue mir… und so weiter, so lange es Platz gat.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert