Es war Sonntag, und nachdem die Dorfgemeinschaft das Blut des Erlösers getrunken hatte – das übrigens wie der zuckersüsse Traubensaft schmeckte, den man Kindern an Geburtstagen einschenkte –, entschied sich eine Handvoll älterer Herren, in die Beiz einzukehren, die den Namen «Zum Staubigen Esel» trug. Warum die Beiz diesen Namen trug, wusste niemand zu sagen, auch nicht die Pächterin. Man trank nun, während die Frauen zuhause kochten, einige Biere, die man auf Pappdeckel stellte. Diese Pappdeckel erinnerten ein wenig an die Hostien, die man sich kurz zuvor noch auf die Zunge gelegt hatte. Manch einem war es nach etlichen Bieren schon eingefallen, jenen Pappdeckel zu verköstigen, um dann seinen Verdacht bestätigt zu sehen, dass der Leib des Erlösers wie ein Bieruntersetzer schmeckte.
Das Schreien klang so tierisch, dass es einem kalte Schauer über den Rücken jagte
So sass man in dieser Beiz und sprach über bestimmte Eigenschaften des Lebens, als von draussen ein Läuten wie von einer Glocke zu hören war, das bald von einem herz- und kopfzerreissenden Schreien übertönt wurde. Das Schreien klang so tierisch, dass es einem kalte Schauer über den Rücken jagte, wenn man sich vorstellte, es stamme von einem Menschen; doch klang es so menschlich, dass einem unheimlich zumute wurde, stellte man sich vor, es dringe aus einem Tier. Man ging nach draussen auf das Trottoir, und was die älteren Herren da sahen, war dies: Ein Schaf lief die Strasse hinab, die Augen weit und weiss, aus seiner Seite hingen violette Gedärme und ein Lamm, das nicht mehr lebte. Einer der Männer, sein Name war Treichel, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Ein anderer, der gegenüber des Staubigen Esels wohnte, ging los, um sein Sturmgewehr zu holen, das er seit seiner Entlassung aus der Armee in seinem Kleiderschrank aufbewahrte. Treichel ging zurück in die Beiz und riss ein Tischtuch herunter, nicht schnell genug: Die Gläser kippten um, einige fielen vom Tisch und zerbrachen. Als er nach draussen kam, hatten die anderen das Schaf bereits eingekreist, sodass er sich ihm nähern und die Decke über es werfen konnte. Da kam jener mit dem Sturmgewehr zurück, lud es mit fahrigen Händen, hiess dann die andern zurücktreten, entsicherte, und erschoss das Tier.
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Nachdem der Schuss verhallt war, klopfte man Treichel auf die Schulter, denn es war sein Schaf gewesen. Als nun seine Frau herangestürmt kam, ahnte Treichel, dass dies nicht das einzige tote Schaf war. Seine Frau hatte die andern acht auf der Wiese gefunden, sie waren, bis auf eine Wunde am Hals, unversehrt geblieben. Welch grausame Kreatur tötete, ohne Hunger zu leiden, nur so, aus der reinen Freude am Töten? Es gab in diesem Land schon lange keinen Wolf mehr und auch keinen Bären. Konnte es ein Mensch gewesen sein? Treichel sah sich die Kehlen der toten Schafe an, sie waren durchbissen worden, nicht durchschnitten. Ein Mensch hatte nicht die Zähne, einem Schaf die Kehle zu durchbeissen. Er dachte, es könnte ein Hund gewesen sein, doch Hunde waren doch eher dazu da, die Schafe vor ihren wilden Verwandten, den Wölfen, zu beschützen, und nicht, sie zu töten. Es müsste schon ein Hund gewesen sein, in dem die Tollwut den uralten wölfischen Instinkt nach warmem Blut geweckt hatte. So ging Treichel zum Tierarzt und fragte ihn, wann er zuletzt einen Fall von Tollwut behandelt hätte. Er selbst, so antwortete dieser, habe noch nie einen Fall von Tollwut behandelt, sie gelte seit einem Jahrzehnt als ausgerottet. Treichel schilderte dem Tierarzt die tödlichen Verletzungen, die seinen Tieren zugefügt worden waren, doch während er noch sprach, erschienen ihm diese Schilderungen sinnlos; hoffte er wirklich, dass der Tierarzt wusste, welche Kreatur seine Tiere getötet hatte? Der Tierarzt sagte ihm, er könne eines der Tiere einschicken in die Hauptstadt des Landes, an das zuständige Amt, wo man den Kadaver auf Tollwut überprüfen könne.
Treichel schichtete die neun Kadaver zu einem Berg auf, kippte Benzin darüber und zündete ihn an. Er fühlte sich, als vollziehe er ein Ritual, das vor tausenden Jahren an ebendieser Stelle vollzogen wurde, um einem Gott oder Geist ein Opfer zu bringen. Zum ersten Mal in seinem Leben kam ihm der Gedanke, dass der Himmel, in dessen Blau nun schwarzer Rauch zog, leer sein könnte.
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Am nächsten Tag kam der Gemeindepolizist auf Treichels Hof. Er hatte den schwarzen Rauch von Treichels Opferfest von seinem Balkon aus gesehen, als er gerade seine Füsse im Fussbad hatte und mit dem Hornhautschaber zugange war. Auf das eigenhändige Verbrennen von Kadavern stand eine hohe Geldbusse, es bestand die Gefahr, dass sich Seuchen über die Luft verbreiteten. Treichel nahm die Belehrung regungslos zur Kenntnis, natürlich hatte er das gewusst, doch hatte er seine toten Tiere nicht in den seelenlosen Schlund eines Metallcontainers werfen wollen. Er hatte vor dem brennenden Berg gesessen, sich die Nase mit einem Taschentuch zugehalten und zugeschaut, wie die Wolle stinkend versengte, das Fleisch schmolz, Knochen und Asche zurückblieben. Im ganzen Dorf sah man die schwarze Säule aufsteigen und statt der Pflaumen, die überall reif an den Bäumen hingen, roch man süssen Rauch, das hiess: Man wusste nicht zu sagen, ob der Rauch tatsächlich süss roch oder sich sein Geruch mit dem der Pflaumen vermischte.
Der Gemeindepolizist stand auf, es tue ihm sehr leid, das mit den Schafen
Der Gemeindepolizist, der bloss einige Jahre älter als Treichel war und den er aus Schulzeiten kannte, schlug die Augen nieder und sagte, es tue ihm leid, er könne nicht anders, aber er müsse ihn büssen, leider. Täte er es nicht, würden schon bald im ganzen Dorf Rauchsäulen aufsteigen, weil die Bauern sich die Abgabegebühr der Kadaversammelstelle natürlich sparten, wenn sie konnten. Treichel stand auf, streckte ihm die Hand hin und sagte, er solle ihm eine Rechnung schicken. Der Gemeindepolizist stand auf, es tue ihm sehr leid, das mit den Schafen, und er werde das ihm mögliche tun, um herauszufinden, wer das gewesen sei. Wie er das machen wolle, fragte Treichel, und der Gemeindepolizist antwortete, laufe nicht das Fräulein Piplica jeden Morgen, noch bevor sie arbeiten gehe, eine Runde durchs Dorf?, vielleicht habe sie etwas gesehen.
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Das Fräulein Piplica wohnte in einem Wohnblock ohne Balkone, dessen Fassade gekörnter Rauhgips war. Der Bauer Bertschi hatte vor fünfundzwanzig Jahren sein Land zu Bauland umzonen lassen und verkauft, und ein Architekt, der zuvor nie im Dorf gewesen war, entwarf diese Wohnblöcke, worin das Fräulein Piplica, dreiundreissig, ledig, gebürtige Bosnierin, nun lebte. Als sie, nachdem es geläutet hatte, zur Türe ging und durch das Loch spähend einen Mann in Uniform sah, erschrak sie sehr, denn sie wusste nicht, ob sie eine der Regeln, derer es soviele gab in diesem Land und wovon die wenigsten aufgeschrieben waren, gebrochen hatte. Sie öffnete die Tür, der Gemeindepolizist stellte sich vor.
«Ich sein Polizei, ich mache Untersuchung, wegen Schafe tot. Verstehen?»
Sie nickte, um dann in einem hübschen Deutsch österreichischer Färbung zu fragen:
«Wie kann ich Ihnen helfen?»
Da erzählte der Gemeindepolizist dem Fräulein Piplica in ungelenkem Hochdeutsch – sie hatte die Frage, ob sie Mundart verstehe, verneint –, was passiert war, doch das Fräulein wusste nicht, wieso er ihr das alles erzählte, denn sie hatte mit Schafen gewöhnlich nichts zu tun. Der Gemeindepolizist bemerkte ihre gefaltete Stirn und beeilte sich, zum Punkt zu kommen: Ob sie gestern morgen, wie an jedem Morgen, durch das Dorf gelaufen sei und ob ihr etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Sie habe gestern Morgen, sagte sie, nachdem sie aus dem Fenster geschaut und den Nebel gesehen hatte, darauf verzichtet, nach draussen zu gehen. Es tue ihr leid, ihm nicht helfen zu können, versicherte sie ihm, schloss die Tür und fragte sich, wieso er wusste, was sie jeden Morgen tat.
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Als der Gemeindepolizist die Treppe, die aus falschem Marmor bestand und dieselben Muster aufwies wie jene Wurstrollen, die der Metzger Huber den Kleinsten hinstreckte, herunterkam, stand da in der Türe Frau Ritler, eine aus dem Süden Zugezogene, und begann, in einer unverständlichen Sprache auf ihn einzureden. Offenbar hatte sie das Gespräch mit dem Fräulein Piplica belauscht und wusste nun irgendetwas dazu zu sagen. Er bat sie, langsamer zu sprechen und dachte gleichzeitig, dass diese Frau, die schon vor über zehn Jahren aus dem Wallis zugezogen war, es versäumt hatte, die Sprache ihrer neuen Heimat zu lernen. Sie plapperte drauflos, als befände sie sich in denselbem Tal, aus dem sie stammte.
Jenes Tier habe sich nicht trottend bewegt wie ein Hund oder Wolf, sondern federnd wie eine Katze
Er bat sie, langsamer zu sprechen, was sie tat: Sie sei gestern Vormittag im Wald spazieren gewesen, sie gehe gerne im Nebel spazieren, es tauchten aus dem Nebel bisweilen ungeahnte Bäume oder Menschen auf. Wie sie auf dem Waldweg unterwegs gewesen sei, habe sie plötzlich vor sich ein schwarzes Tier erkennen können, es sei kurz auf dem Weg stehengeblieben, habe den Kopf ihr zugewandt, sei dann, geschmeidig wie eine Katze, ins Unterholz gesprungen. Wie eine Katze, fragte der Gemeindepolizist, und die Frau bejahte. Könne es denn kein Hund gewesen sein, der durch die Wälder streunte. Das Tier habe einen langen Schwanz gehabt, wandte sie ein, und der Gemeindepolizist erwiderte, auch Hunde hätten zuweilen lange Schwänze. Nein, sagte die Frau, jenes Tier habe sich nicht trottend bewegt wie ein Hund oder Wolf, sondern federnd wie eine Katze. Wie gross diese Katze denn gewesen sei, fragte er, und die Frau hielt sich die Hand an die Hüften und sagte: «So gross.»
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Der Gemeindepolizist ging ins Hurterholz, das war jener Wald, in dem Frau Ritler das schwarze Tier gesehen hatte. Er ging auf dem Weg, der sich als Schneise durch den Wald zog und achtete aufmerksam auf Geräusche, doch er hörte nichts, dies war ein gewöhnlicher Wald, der gewöhnlich klang – es knackten keine Äste unter den Pfoten riesiger schwarzer Katzen. Dieser Wald, so dachte der Polizist, ist schön ordentlich, der Förster leistet gute Arbeit, doch selbst in einem solch aufgeräumten Wald war es schwierig, das zu finden, was die Frau beschrieben hatte. Er nahm auf einem abgesägten Wurzelstock Platz und betrachtete den Waldboden. Nahe bei seinem Fuss lagen dunkle Federn, deren Rückseiten silbern schimmerten, er hob eine der Federn auf und drehte sie vor seinem Gesicht, legte sie auf seine Handfläche, um herauszufinden, ob der Wind stark genug war, sie zu erfassen und davonzutragen. Doch der Wind rauschte nicht einmal in den Kronen, er war zu schwach, die Feder zu erfassen. Er legte sie zurück auf den Boden, und da entdeckte er ein seltsames Fasergebilde von der Grösse eines Eis, aus dem kleine Knochen staken. Er hatte so etwas noch nie gesehen und wusste nicht, was es war. Dieses fremde Gebilde war ihm unheimlich und mutete wie der Auswurf eines kranken Raubtieres an, dessen Verdauung nicht gewöhnt war an die Tiere dieser Wälder.
Es war anzunehmen, dass dieses Wesen den Unterschied zwischen Schafen und Menschen nicht kannte
Frau Ritler hatte also recht gehabt, die Kreatur, die sie gesehen hatte, gab es wirklich. Sie strich tagsüber scheu durch die Wälder, die das Dorf umgaben, nachts aber traute sie sich hinunter, und es war anzunehmen, dass dieses Wesen den Unterschied zwischen Schafen und Menschen nicht kannte.
Roman, der Sohn des Bauers Treichel, hatte keinen weiten Heimweg, doch fand er immer wieder neue Umwege nachhause. Unterhalb der Schule gab es einen Bach, zu dem er und seine Freunde nach der Schule oft gingen, um die verholzten Stengel der Waldreben zu rauchen, die dort wuchsen. So passierte es, dass der Bub manchmal zu spät zum Mittagessen erschien, wofür ihn seine Eltern zwar schalten, sich aber insgeheim freuten, wenn er am Tisch seine Erlebnisse berichtete. Diesmal erzählte er, dass sie mittels eines Seiles und eines jungen Baumes eine Falle gebaut hätten. Treichel wollte von seinem Sohn wissen, was er, wenn er einen Hasen in der Falle fände, dann mit diesem tun würde. Roman antwortete, er würde ihn aus der Falle befreien und freilassen. Sollte er allerdings verletzt sein, nähme er ihn nachhause, um ihn gesund zu pflegen, erst dann liesse er ihn frei. Eine Falle baue man, knurrte Treichel, wenn man Hunger leide, eine Falle baue man nicht zum Spass. Sein Sohn fragte ihn, ob denn nur jene Jäger mit Magenknurren auf die Jagd gingen, Treichel überhörte diesen Einwand und befahl ihm, die Falle abzubauen. Er habe nur helfen wollen, sagte Roman, und der Vater sagte, er habe nicht gewusst, dass er Hilfe nötig habe.
Daraufhin war es längere Zeit still am Tisch, seine Zwillingsschwestern, die um einiges jünger waren, schauten ihn mit grossen Augen an, als erwarteten sie, dass er etwas sagte.
«Unsere Schafe verrecken und dich kümmerts nicht», sagte der Sohn leise, ohne seinen Vater anzuschauen, und verliess den Tisch. Treichel nahm den Rost vom Holzbrett und wischte die Brosamen in seinen Milchkaffee.
«Der Bub geht mir nicht mehr ins Schultheater. Könnte lieber mal im Stall helfen nach der Schule.»
Treichel sagte es so laut, dass der Bub es hörte. Abends ging er gleich auf sein Zimmer. Auf das Klopfen seiner Mutter, die zum Abendessen rief, reagierte er nicht. «Kannst ihn nicht zwingen», sagte Treichel.
Die Kühe bleiben heut drin.
Am nächsten Morgen ging Roman wortlos in den Stall, zog die Matten unter den Kühen mit dem Schaber ab und spritzte den Mittelgang mit dem Schlauch sauber. Treichel beachtete ihn erst nicht, erst als sein Sohn begann, die Schwänze der Kühe loszubinden, sagte er zu ihm: «Die Kühe bleiben heut drin. Es hat geregnet.»
Treichel fragte ihn, wieso er glaube, solch eine Falle würde etwas ändern an dem, was geschehen war. Was geschehen ist, ist geschehen, das wisse er, gab der Sohn zu Antwort, doch war das Geschehene kein Unfall, die durchbissenen Kehlen würden das beweisen. Er habe diese Falle gebaut, um den Mörder der Schafe zu fassen. «Was glaubst du denn, mit dieser Falle zu fangen?», fragte Treichel. Es sei, so sagte Roman, vor Jahren einmal ein Schwarzer Panther aus einem Zoo in der Nähe Huttenschwils ausgebrochen. Das habe ihm seine Lehrerin, Frau Ritler, erzählt. Der Panther habe sich, trotzdem es Winter gewesen war und er im Schnee gut sichtbar, mehr als ein halbes Jahr versteckt gehalten, bis ihn ein Förster in seiner Hütte fand und mit einer Hacke totschlug. Das Fleisch landete in einem Eintopf, das Fell gerbte er und machte Einlagen daraus für seine Schuhe. Treichel sagte, er solle nicht alles glauben, was man ihm erzähle, besonders wenn es ihm eine Zugezogene erzähle.
Der Bub band die Schwänze wieder an die Schnur, damit sie nicht in den Dreck fielen. «Bald ist das obligatorische Schiessen», sagte Treichel, «du bist alt genug, ich bringe es dir bei.»
*
Am Rande des Waldes hatte Treichel einen ganzjährigen Stacheldrahtzaun gezogen, der seine Apfel-, Pflaumen- und Nussbäume vor dem Verbiss durch das Wild schützen sollte. An diesem ging nun der Gemeindepolizist entlang, während es aus weissem Himmel nieselte. Er ging langsam und behielt den Zaun so sehr im Blick, dass er nicht sah, wohin er trat und auf einem Pilz ausrutschte.
Bereit, die Schafe totzubeissen
Zwischen zwei Pfosten lagen etwa zehn Stachelpaare, von denen er jedes ganz genau untersuchte, und da er wusste, wonach er suchte, fand er es auch: Ein Büschel schwarzer Haare, die in den Stahlstacheln hängengeblieben waren, als deren Träger mit geiferndem Maul durchschlüpfte, bereit, die Schafe Treichels totzubeissen. Und hatte nicht Frau Ritler ein schwarzes Tier gesehen im Nebel?
Dieses Haarbüschel musste von jenem schwarzen Tier stammen, das sie im Hurterholz gesehen hatte. Doch um was für ein Tier handelte es sich genau? Es handelte sich erstens um ein Tier, das fremd war, das bewies das seltsame Gebilde aus unverdauten Teilen, das er im Wald gefunden hatte; zweitens handelte es sich um eine Katze, denn Frau Ritler hatte den Gang des Tieres als federnd beschrieben; und drittens war diese Katze nicht gerade klein, denn eine Hauskatze wäre, ohne Haare zu verlieren, unter dem Zaun durchgeschlüpft.
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Es gab zwei Zirkusse, die alle Jahre das Dorf besuchten, und der Gemeindepolizist hatte mit seinen Töchtern, als diese jünger waren, beide besucht. Der eine Zirkus kam ganz ohne Tiere aus, es schwangen sich Artisten in hautengen, glitzernden Kostümen von Trapez zu Trapez, es gab Clowns, die übereinander stolperten und einen Magier. Im anderen Zirkus gab es Elefanten, die den Handstand machten, es gab Pferde, die im Kreis liefen, und es gab grosse Raubkatzen, die nicht viel mehr taten, als dem Dompteur zu gehorchen, was allerdings schon als aussergewöhnliche Leistung beklatscht wurde. Jener Zirkus gab gerade Vorstellungen in einem Dorf, das er nach kurzer Fahrt auf der Autobahn erreichen würde. Diese Autobahn durchzog das Land von Nordost bis Südwest, es dauerte bloss wenige Stunden, es zu durchfahren, und er mochte diese Übersichtlichkeit. Es gab keine weiten Ebenen, in denen das Auge sich verlor, was unweigerlich auch, so dachte er, zum Verlust des Verstandes führen musste. Es klarte auf und er sah rechterhand, in der Ferne, die Berge. Diese mochten anderen Menschen dieses Landes schwer auf der Brust liegen, ihm waren sie die steinerne Wand eines Wohnzimmers. Er verstand nicht, wie man so unstet wie die Zirkusleute leben konnte, man brauchte doch ein Zuhause, einen Ort, an dem man sich blind und taub zurechtfand. Er fand es gut, dass auch die anderen Huttenschwiler den Zirkusleuten mit Argwohn begegneten, denn das hiess, dass sie so dachten wie er, und bedeutete das nicht Heimat: Ein Ort, an dem alle so dachten wie man selbst?
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Das Zelt war auf einem Kiesplatz am Rande des Ortes aufgestellt worden, der Gemeindepolizist fuhr knirschend auf den Platz und stieg aus, es war niemand zu sehen. Er klopfte an den grössten Wohnwagen, doch niemand öffnete, er hörte Rufe aus dem Zelt, also ging er hinein. In der Manege war ein Dresseur mit einem Hengst zugange, der aus dem Steigen heraus den Dresseur anzugreifen versuchte. Der Dresseur allerdings flüchtete nicht auf die Ränge, er wich gerade soviel zurück, dass die Hufe ihn nicht trafen. Er hatte allein eine Gerte, mit der er sich wehren konnte. Gebannt folgte der Polizist dem Geschehen: Nun versuchte jemand, das Tier von den Rängen aus am Kopfgeschirr zu packen, was schliesslich gelang. Der Dresseur war immer ruhiger geworden und gab jenem auf den Rängen Anweisung, wo genau er den Hengst halten solle. Nachdem sich das Tier etwas beruhigt hatte, wurden an seinem Kopfgeschirr links und rechts Seile befestigt. Nun begann der Dresseur, den Hengst allein durch Kommandos, ohne Einsatz der Gerte, im Kreis zurückzutreiben. Immer wieder unterbrach der Dressuer die Übung und hielt seinen Handrücken unter das Maul des Hengestes. Schliesslich leckte er seine Hand, was wohl bedeutete, dass er wieder folgsam war.
Der Polizist verliess das Zelt und ging draussen zwischen den Gehegen umher. In einem vergitterten Wagen schliefen tatsächlich einige Löwen, in einem andern zwei Tiger, doch einen Schwarzen Panther gab es keinen. Das konnte bedeuten, dass er entlaufen war, es konnte aber auch bedeuten, dass der Zirkus nie einen besessen hatte. Und wenn er entlaufen war, hätte er bereits viele andere Orte durchquert, bevor er nach Huttenschwil gelangt wäre, und dass die Einwohner all jener Orte nichts bemerkt hatten, erschien ihm unwahrscheinlich. Wenn das Tier allerdings bloss nachts in der Wäldern unterwegs gewesen war: Wie sollte ihn dann jemand entdeckt haben? Ausserdem gab es Dutzende von Zirkussen, es musste nicht unbedingt dieser sein, aus dem der Panther entflohen war.
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Wenn das nächste Mal aber nicht ein Schaf, sondern ein Kind Opfer würde
Auf der Autobahn überlegte der Polizist, was zu tun war. Wenn er nichts unternähme und weitere Schafe gerissen würden, dann würde man ihn zu Recht beschuldigen, nichts getan zu haben. Wenn das nächste Mal aber nicht ein Schaf, sondern ein Kind Opfer würde, dann machte er sich der Fahrlässigkeit schuldig, wofür er angeklagt werden konnte. Es war in jedem Fall besser, etwas zu unternehmen, auch wenn er nicht ganz sicher war, ob es den Panther tatsächlich gab.
Zurück in seinem Büro machte er sich umgehend an die Gestaltung eines Zettels, den er im Dorf aufhängen wollte. Er setzte eine Belohnung von einigen hundert Franken für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Tieres führten. Er achtete darauf, ein Bild zu wählen, das den Panther als grosse Katze zeigte und nicht als das gefährliche Raubtier, das er war. Den Zettel hängte er an Strassenlaternen, Transformatorkästen und an die schwarzen Bretter der beiden Läden im Dorf, an denen sonst Kaninchen verschenkt wurden oder Putzfrauen um Arbeit warben.
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Als die Ammännin Schnyder einen solchen Zettel sah, riss sie ihn ab, rief im Büro des Polizisten an und fragte diesen, was ihm eigentlich einfalle, ohne Rücksprache mit ihr solche Gerüchte zu verbreiten. Der Polizist erzählte ihr von den Beweisen, die er hatte, auch berief er sich auf eine Zeugin, deren Name er nicht nannte und schloss mit der Redewendung, dass Vorsicht doch immer besser sei als Nachsicht. Wieso er aber ausgerechnet noch ein Bild des Panthers habe auf die Zettel drucken müssen, das beunruhige die Menschen doch nur, und ausserdem wirke das so, als sei an der Existenz des Panthers und seinem Aufenthalt in Huttenschwil kein Zweifel. Ausdrücklich heisse es im darüberliegenden Text, so der Gemeindepolizist, dass an der Existenz des Panthers Zweifel bestehen. Da stehe, warf die Ammännin ein, dass das Tier gesucht werde, was bedeute, dass es existiere. Das sehe er anders, sagte der Polizist, das heisse vielmehr, man suche nach dem Tier; ob man es finde, sei eine andere Frage. Wer suche denn schon nach etwas, wovon er nicht wisse, ob es existiere, sagte die Ammännin. Ausserdem stehe da doch, das Tier halte sich mutmasslich im Hurterholz auf, was nichts anderes heisse, als dass es sich auch im Bühlholz oder jedem anderen Wald aufhalten könne. Wieder wehrte der Polizist ab, jedem unbefangenen Dorfbewohner sei sofort klar, dass die Existenz des Panthers erst bewiesen werden müsse. Mit kaltem Gruss verabschiedete sich die Ammännin und hängte auf.
Da habe er in dem Schatten einen Panther erkannt
Am nächsten Tag erhielt der Gemeindepolizist unzählige Anrufe von Leuten, die den Panther gesehen haben wollten. Am glaubwürdigsten hatte ein Zeitungsdrucker seine Begegnung mit dem Tier geschildert: Seine Frau bleibe meist noch wach, um auf ihn zu warten, in jener Nacht aber sei sie eingeschlafen und habe vergessen, den Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen, sodass er nicht hineinkonnte. Er stand draussen auf der Strasse und klingelte wieder und wieder, doch seine Frau wachte nicht auf. Die Strassenlampen waren bereits erloschen, fern sah er das Licht der Stadt über den Hügel in den Himmel strahlen. Da hörte er ein leises Klopfen, es klang, als lasse jemand einen weichen Gummiball aus geringer Höhe und in kurzen Intervallen auf den Asphalt fallen. Als er sich dem näherkommenden Geräusch zuwandte, sah er einen Schatten sich bewegen. Er bewegte sich auf ihn zu, und da habe er in dem Schatten einen Panther erkannt. Er habe einen Schritt beiseite getan, und das Tier sei mit trommelnden Pfoten an ihm vorbeigeschossen. Der Gemeindepolizist fragte, ob es kein Hund gewesen sein könne, doch der Zeitungsdrucker verneinte: Dieses Wesen habe sich mit solcher Geschmeidigkeit durch die Nacht bewegt, habe sich so in der Nacht ausgekannt, wie nur Katzen es vermögen.
Andere Anrufer hatten bloss aus der Ferne einen Blick auf irgendein schwarzes Tier mit langem Schwanz erhascht, das die Strasse kreuzte und in den Wald flüchtete. Dieser Mann aber hatte das Tier aus nächster Nähe gesehen, und obwohl Dunkelheit herrschte, war er sich sicher, dass es sich um einen Schwarzen Panther handelte. Sein Bericht hatte den Gemeindepolizisten so überzeugt, dass er es angemessen fand, den Jagdinspektor des Kantons über die Situation in Huttenschwil zu informieren.
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Der Schützenmeister nahm Treichels Sturmgewehr und kontrollierte, ob das Magazin entnommen, der Verschluss offen und die Waffe entsichert war, dann liess er ihn hinein. Am Munitionsstand kaufte Treichel dreissig Probeschuss, und der Munitionsmeister lachte und sagte, ob er denn das Schiessen verlernt habe, doch Treichel lachte nicht und machte sich daran, das Gewehr zu zerlegen und zu reinigen. Dann legte er sich in den Schiessstand und schoss einen Probeschuss, korrigierte den Verzug, schoss noch einmal und rief dann nach hinten, er sei bereit. Nachdem er geschossen hatte, ging er zum Munitionsmeister, der das Stichblatt entgegennahm und anmerkte, dass Treichel auch nicht mehr wie früher schiesse, er habe ja alle dreissig Probeschuss gebraucht. Treichel zuckte mit den Schultern und ging hinaus.
Vor dem Schützenhaus standen mehrere Männer herum, die schon geschossen hatten, und auch sein Sohn, den man nicht ins Schützenhaus gelassen hatte, wartete hier. Es wurde über die Zettel gesprochen, die der Gemeindepolizist aufgehängt hatte, man sagte, dieses Vieh solle nur kommen, man könne sich wehren. Man mutmasste, wie das Fleisch dieses Tieres wohl schmecke. Man machte aus, um welche Uhrzeit man sich später zum fakultativen Schiessen treffen wolle, dann ging man auseinander.
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Abends traf man sich im Wald bei einer Hütte, in welcher der Förster sein Arbeitsgerät aufbewahrte. Schon ihre Väter hatten sich nach dem obligatorischen Schiessen abends zum fakultativen getroffen, und weil sie es eine schöne Tradition fanden und weil sie gerne schossen, machten sie es wie ihre Väter. Im Nebellicht eines Autos wuchteten der Metzger Huber und ein Helfer eine Schweinehälfte auf einen Wurzelstock und stützten sie mit Steinen und Ästen ab. Das halbe Schwein lag so, dass man den Hügel hinauf schiessen musste, wodurch jene Schüsse, die das Fleischstück verfehlten, höchstens einen Stern und nicht einen nächtlichen Spaziergänger trafen. Unter dem Gelächter aller sprühte der Metzger eine Zielscheibe auf den Bauch des Schweines. Auch Treichels Sohn lachte und vergass kurz seine Aufregung, die daher kam, dass er nicht wusste, ob sein Vater ihn schiessen lassen würde. Er hatte noch nie geschossen und er hatte auch nicht das Bedürfnis, es zu tun, doch in dieser Runde war es unmöglich, zu sagen, er wolle nicht. Gibt mir mein Vater das Gewehr, so dachte er, dann nehme ich es, lasse mir alles zeigen und schiesse, so gut ich kann, und wenn ich perfekt schiesse, dann muss ich es vielleicht nie mehr wieder tun.
Er hatte besondere Munition geladen
Die ersten Schüsse machte derjenige, der vor ein paar Stunden noch Munitionsmeister beim obligatorischen Schiessen gewesen war; er hatte besondere Munition geladen, mit der jeder Schuss ein faustgrosses Stück Fleisch aus dem Schwein riss. Die anderen protestierten, er solle ihnen auch noch etwas übriglassen. Dann war Treichel an der Reihe, der aus dem Stehen fünf Schüsse abgab, wovon jeder die Zielscheibe auf dem Bauch des Schweines traf. Sein Sohn beobachte ihn während des Schiessens sehr genau, und als Treichel fertig war, reichte er ihm das Gewehr, ohne ihn anzuschauen, so, als gebe er es ihm zum Reinigen. Deswegen machte er auch keine Anstalten, das Gewehr anzulegen, bis sein Vater ihn dazu aufforderte. Der Bub begann zu stottern, dass er nicht wisse, wie man schiesse, sein Vater wies ihn Schritt um Schritt an, bis er bereit war, den Abzug zu drücken. Das Schwein leuchtete weiss im Schweinwerferlicht, und es war schwer, die Zielscheibe im Visier zu behalten, er zitterte. Als er den Abzug drückte, der Schuss sich aber noch nicht löste, schnellte hinter dem Schwein ein Schatten vorbei, und instinktiv verzog er den Lauf hin zum Schatten, wodurch er das Schwein verfehlte. Man klopfte ihm auf die Schulter und sagte, sein Vater sei ein guter Schütze, der ihm alles beibringen könne.
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Roman Treichel junior hatte eine dicke, qualmende Waldrebe im Mund, als er seinem Freund Silvan vom nächtlichen Schiessen erzählte. Natürlich, so versicherte er ihm, sei er gegen Waffen, gegen Krieg auch, er würde sich als Pazifisten bezeichnen, doch es sei kein schlechtes Gefühl gewesen, dieses Sturmgewehr in Händen zu halten und zu schiessen, es habe auch niemandem geschadet, das Schwein sei bereits tot gewesen. Silvan schaute ihn argwöhnisch an, sein Blick sagte etwa: Hast du vergessen, dass wir nicht wie unsere Väter werden wollten?
Sie hatten vor einiger Zeit darüber gesprochen, wie sie es anstellten, bei der Rekrutierung, die sie in einigen Jahren durchlaufen mussten, ausgemustert zu werden. Die Methoden hierzu verbreiteten sich unter unwilligen jungen Männern wie Wandersagen: Einen, der bei der Übernachtung im Rekrutierungszentrum schlafwandelte, schickte man am nächsten Tag nachhause. Dann gab es auch die Selbstmörder, das hiess: Jene, die sich im psychischen Ankreuztest eine schlimme Kindheit erfanden und dazu Selbstmordgedanken. So hatte es Silvans grosser Bruder gemacht, den man dann aber nicht wegen labiler Psyche, sondern Untergewicht ausgemustert hatte. Die grösste Verehrung genoss jener, der während zweier Tage so getan hatte, als sässe er auf einem unsichtbaren Motorrad, beide Hände also in der Luft, am unsichtbaren Lenker, mit dem Mund Motorengeräusche nachahmend. Als man ihm dann die Untauglichkeit bescheinigt hatte und er das Areal verliess, stieg er von seinem unsichtbaren Vehikel ab und ging nachhause.
Sie sassen stumm rauchend beieinander, sahen in den Bach, den sie gestaut und so aus seinem Bett gezwungen hatten, sodass ein kleiner Sumpf entstanden war. Am Rand, wo die Strömung schwach war, schwamm Froschlaich, in der Mitte schwebten lange Algenfäden in der Strömung. Ihnen beiden war die Vorstellung unerträglich, in diesem Dorf ihr ganzes Leben zu bleiben. Ihre Lehrerin, Frau Ritler, hatte ihnen vom grossen, dunklen Kontinent erzählt, und sie waren gierig nach diesem Erdteil und wünschten sich fort. Für sie war das Plätschern des Baches in Wirklichkeit das Rauschen des Kongos, die Waldreben waren Lianen in einem Urwald, durch den sie sich mit Macheten den Weg schlugen, das Zirpen der Grashüpfer hörten sie als irres Sirren von Zikaden.