Der Name Lucens steht für eine grosse Havarie in der Geschichte der Atomkraft: Das Unglück ereignete sich am 21. Januar 1969, hat aber in der Schweiz kaum Spuren hinterlassen. Mittendrin war damals der Winterthurer Sulzer-Ingenieur Otto Lüscher. Dominik Landwehr hat den heute 93jährigen besucht.
Am 21. Januar 1969 ereignete sich im Schweizer Versuchsatomkraftwerk Lucens ein folgenreicher Zwischenfall. Im Innern des Reaktors schmolz einer der Brennstäbe, der Reaktor wurde weitgehend zerstört und rund 1’100 Liter radioaktives Schwerwasser traten aus. Geringe Mengen radioaktiver Gase gelangten in die Umwelt. Der Traum eines eigenen Reaktors war zwar schon zwei Jahre vorher begraben worden, aber der Versuchsbetrieb musste nun nach nur einem statt zwei Jahren abgebrochen werden. Der Unfall im schweizerischen Lucens figuriert auf der internationalen Skala von Nuklear-Ereignissen mit einem Wert von 4–5 bei einem Maximalwert von 7. Er ist vergleichbar mit dem Unglück von Harrisburg vom 28. März 1979. Dort kam es zum gefürchteten Melt-Down, einer partiellen Kernschmelze, wobei radioaktive Gase in die Umgebung entwichen.
Mittendrin in der unglücklichen Geschichte des Schweizer Versuchsreaktors der Ingenieur Otto Lüscher. Der 1928 geborene Winterthurer arbeitete 1954 bis 1988 für Sulzer und war Konstruktionschef in der Abteilung Kernenergie. Ein kleines Souvenir erinnert an diese Zeit: Auf dem Esszimmertisch liegt ein dekorativer Untersetzer aus Leichtmetall mit etwa 15 Zentimeter Durchmesser. «Das war ein Abstandshalter für Brennstäbe, absolute Präzisionsarbeit unserer Schweisser. Er fand sich auch beim Versuchsreaktor in Lucens.»
Um das Drama um den zerstörten Versuchsreaktor von Lucens besser verstehen zu können, müssen wir ans Ende des Zweiten Weltkrieges zurückgehen. Der Schock über die Abwürfe der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 veränderten die Welt für immer und läutete das Atomzeitalter ein. Die schreckliche Waffe weckte auch in der Schweiz Begehrlichkeiten und den Wunsch, eigene Atombomben zu besitzen. Nur wenige Monate nach Kriegsende ruft der Bundesrat die Studienkommission für Atomenergie SKA ins Leben und im Februar 1946 beauftragt Bundesrat Karl Kobelt diese Kommission mit der Entwicklung einer Schweizer Atombombe. Der Beitritt zum Atomsperrvertrag beendete diese Diskussionen Ende der 60er Jahre. Richtig konkret wurde es mit der Schweizer Atombombe nie. «Die Schweizer Atombombe war bis zum Ende des Kalten Kriegs nichts anderes als ein Papiertiger, der nur in den Köpfen einiger weniger Militärs existierte», sagt der Historiker Michael Fischer, Autor des Buches «Atomfieber».
Die friedliche Nutzung der Atomenergie versprach nach dem Krieg die Lösung der Energieprobleme in einer schnell wachsenden Wirtschaft mit einem grossen Energiehunger. Es dauerte aber mehr als zehn Jahre, bis konkrete Projekte vorlagen. Ende der 1950er Jahre wurden dem Bundesrat drei Projekte für eine finanzielle Unterstützung unterbreitet: Das erste Projekt schlug den Bau eines Atomreaktors unter der ETH Zürich vor. Das zweite Projekt kam aus der Westschweiz und sah den Bau eines Versuchsreaktors in Lucens vor. Ein drittes Gesuch kam von den vier grössten Elektrizitätsgesellschaften, sie beabsichtigten ein schlüsselfertiges Atomkraftwerk in den USA zu kaufen. Gefördert wurde schliesslich die Entwicklung des Versuchsatomkraftwerkes in Lucens. Er war nach einigen Modifikationen als Schwerwasser-Reaktor ausgelegt und konnte damit nichtangereichertes Natururan als Brennstoff verwenden. Dies vereinfachte die Beschaffung, denn für die Urananreicherung verfügten die damaligen Atommächte über ein gut gehütetes Monopol. Neben der USA und der Sowjetunion verfügten auch England und Frankreich über Atomwaffen, China kam 1964 dazu.
Überraschend aus heutiger Sicht: Die friedliche Nutzung der Kernkraft zur Energieproduktion war damals in der Schweiz nicht kontrovers und wurde von allen Parteien unterstützt. Die Anti-Atomkraftbewegung entstand erst in den 70er Jahren.
Mitte der 50er Jahre kam auch Otto Lüscher unerwartet zur Kernkraft. Er arbeitete damals im Bereich Apparatebau von Sulzer. Eines Tages wurden die Ingenieure seiner Abteilung ins Büro gerufen. Man teilte ihnen mit, dass Sulzer diese Gruppe auflösen würde und die Ingenieure eine neue Arbeit suchen mussten. Das war für den jungen Lüscher kein Problem und er bewarb sich für eine Stelle bei Hoffman-La Roche. Noch während des Vorstellungsgesprächs in Basel klingelte beim dortigen Personalchef das Telefon: Lüscher würde bei Sulzer gebraucht. Zurück in Winterthur erfuhr Lüscher, dass er ab sofort für die Sparte Kernkraft arbeiten würde. «Aber ich habe doch keine Ahnung von diesem Thema», meinte er. Kein Problem, entgegnete man ihm, man würde ihn ausbilden und so geschah es dann auch. Die kleine Anekdote ist typisch für die Situation jener Zeit: Es gab in der Schweiz zwar Nuklearphysiker wie etwa den berühmten ETH-Professor Paul Scherrer (1890 – 1969). Aber Ingenieure, die diese Technologie kannten und beherrschten gab es noch nicht.
Lucens war als Versuchsatomkraftwerk mit einer kleinen Leistung geplant. Trotzdem war der Bau eine Mammutaufgabe. Niemand in der Schweiz hatte je etwas Ähnliches gebaut. Träger des Projekts war ein Konsortium namens Thermatom, in dem zahlreiche Schweizer Industriefirmen wie Sulzer, Escher-Wyss, Landis & Gyr, Sécheron zusammengeschlossen waren. Nicht dabei war die Badener BBC, die sich mit den Nordostschweizer Kraftwerken NOK und weiteren Elektrizitätswerken für den Kauf eines fertigen AKWs engagierte. Für ein solches Werk konnte die Badener BBC Turbinen liefern, an einer Eigenentwicklung waren sie hingegen nicht interessiert. Sulzer glaubte an die Zukunft der Atomenergie und wollte an vorderster Front dabei sein. Sie waren weltweit führend bei Entwicklung und Produktion von Hochdruck-Dampferzeugern für thermische Kraftwerke und bei der Produktion von Diesel-Generatoren. Die Führung der Thermatom lag denn auch bei Sulzer.
Otto Lüscher war für die Bereitstellung von Brennelementen verantwortlich. Als Sulzer für einen anderen, kleineren Versuchsreaktor namens Diorit in Würenlingen Brennstäbe beschaffen musste, fiel dies mit in seinen Verantwortungsbereich. Eine Firma aus dem französischen Grenoble hatte den Zuschlag erhalten. Er fuhr mit seinem Wagen zur Abnahme einer ersten Teillieferung und als er die handliche Kiste erblickte schlug er vor, sie gleich in seinen Wagen zu packen. Der zuständige Vertreter der Verkaufsfirma fand das keine gute Idee, willigte aber schliesslich ein und so fuhr Otto Lüscher mit seinem Wagen zum Grenzübergang Genf. Dort wiederholten sich die Diskussionen und man wollte ihn nicht über die Grenze lassen. Der Beamte wollte die Brennstäbe keinesfalls im Zollgebäude lagern und stellte sie in einem Wirtshaus in der Nähe ein. Am nächsten Tag fuhr Otto Lüscher wieder mit dem Wagen vor. Die Fragen waren offenbar mittlerweile geklärt, und so brachte er die kostbare Lieferung in die Schweiz.
Der Bau des Versuchsreaktors Lucens stand unter keinem guten Stern: Schon beim Bau der Kaverne gab es Probleme und es entstanden Risse im Felsen. Die Bauarbeiten verteuerten sich mehrmals und der Bund musste Nachtragskredite bewilligen. Aus den ursprünglich geplanten 64,5 Millionen Franken wurden schliesslich 112,3 Millionen Franken.
Am 7. Februar 1964 erlitt das Projekt einen weiteren Dämpfer: Die Nordostschweizer Kraftwerke NOK entscheiden sich definitiv für den Kauf eines fixfertigen Atomreaktors aus den USA. 1967 beschloss Sulzer, auf eine Eigenentwicklung zu verzichten. Man war nüchtern zum Schluss gekommen, dass die Schweiz weder personell noch finanziell in der Lage war, eine solche Aufgabe zu stemmen. Angereichertes Uran war nun plötzlich leicht erhältlich und es gab einen Trend zu wesentlich grösseren Anlagen. Die Schwerwasser-Reaktoren vom Typ Lucens waren nicht mehr attraktiv.
Die Versuchsanlage Lucens wollte man jedoch fertig bauen und für zwei Jahre betreiben, um daran die Probleme, die beim Bau und Betrieb eines AKW auftreten, zu studieren. Schliesslich funktionierten die von Escher-Wyss gelieferten Gebläse für die Umwälzung des Kühlgases CO2 nach anfänglich gutem Betrieb nicht richtig. Der Historiker Tobias Wildi, Autor der Studie «Der Traum vom eigenen Reaktor» schreibt: «Escher Wyss gelang es bis zuletzt nicht, die Gebläse befriedigend abzudichten.»
Das Versuchsatomkraftwerk Lucens lieferte am 28. Januar 1968 zum ersten Mal Strom, den ersten Schweizer Atomstrom überhaupt. Im Lauf des Jahres 1968 wurde der Betrieb für anstehende Revisionen unterbrochen. Während dieser Revisionen konnte Wasser eindringen und einige Brennstäbe begannen zu korrodieren. Das Ausmass der Korrosion wurde unterschätzt und so kam es dann zum fatalen Unglück am 21. Januar 1969. Das schreibt der Untersuchungsbericht, der erst zehn Jahre nach dem Unglück veröffentlicht wurde.
Otto Lüscher zeigt sich heute noch bestürzt, über die an sich banale Ursache der Havarie: «Unglaublich, dass man nicht mal diese einfache Technologie im Griff hatte». Die Geschichte von Lucens lehrt, dass die Beherrschung der Atomkraft eine Herkulesaufgabe ist und dass es eine lange Entwicklungsarbeit braucht. Die USA hatten einen riesigen Vorsprung und bauten bereits während des Krieges Kernreaktoren. Die Schweiz war erst spät in die Entwicklung eingestiegen und konnte den Rückstand nicht mehr wett machen.
Es gibt allerdings auch Stimmen, die das Ganze weniger dramatisch sehen: «Der Reaktor war auf zwei Jahre angelegt, er funktionierte während eines Jahres und erlaubte wertvolle Einsichten. Die Dimension der Havarie wird auch heute noch übertrieben dargestellt», sagt einer der direkt Beteiligten aus Winterthur, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will.
Am Ende des Abenteuers gab’s noch eine dicke Rechnung erinnert sich Lüscher: «Ich musste zwei Millionen Franken bei den 22 Mitgliedern des Thermatom-Konsortiums einsammeln und persönlich in Bern beim Chef der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik NGA abliefern. Dafür erhielt ich 500 Aktien der NGA im Wert von je einem Franken zurück.» Lucens war ein Trauma für die Schweizer Industriegeschichte. Der Kernenergie-Pionier Rudolf Sontheim nannte es 2003 «Das Marignano der Schweizer Industrie».
Sulzer fand nach dem Rückzug aus dem Lucens-Projekt neue Geschäftsfelder im Bereich der Komponenten für Atomkraftwerke: Reaktor-Druckbehälter, Reaktor-Containments, Containment-Druckentlastungs-Anlagen, Dampferzeuger, Brennelement-Gerüste, Ventile. Sulzer konnte in diesem Bereich erfolgreich in viele Länder liefern. Neu engagierte Sulzer sich in der Bestrahlungstechnik für Lebensmittel und Medizinalzubehör, hier fand auch Otto Lüscher weitere Aufgaben. «So gab es für den Winterthurer Konzern trotz allem noch ein Happy End», sagt ein ehemaliger Sulzer Kadermitarbeiter.