Das Irritierende – um nicht zu sagen Beschämende – für unsere Generation in ihren Dreissigern ist doch, dass die wirklich coolen und innovativen Typen mittlerweile 60 oder darüber sind und somit in die Generation unserer Eltern fallen. Ein nicht zu unterschätzender Grundkonflikt und ein relativ neues Phänomen für die Psychoanalyse. Ich denke da beispielsweise an «Herrn Müller», mit richtigem Namen Fredi Meier. Die Sendung CH-Magazin, die am 15. Juli 1980 live im Schweizer Fernsehen übertragen wurde und für einen landesweiten Skandal sorgte, sah ich erstmals als Teenie. Zugegebenermassen war ich sofort ein wenig verliebt in diesen Müller, in seine brillante Rhetorik und seine Frechheit. Und da der Müller im Fernsehen damals Mitte zwanzig war, gelang es mir, die Tatsache, dass der Mann gleich alt war wie mein Vater, knapp zwei Jahrzehnte lang auszublenden.
Ich traf Fredi Meier zum ersten Mal vor drei Jahren für Recherchen im Café Nordbrücke. Wir blieben für drei Stunden dort und rauchten viele Zigaretten. Seither sind wir Freunde. Herr Müller ist älter und rundlicher geworden. Sein Blick ist derselbe geblieben, etwas müder und trauriger vielleicht, manchmal. Ebenso seine Stimme, seine Sprache, sein Wortwitz. Herr Müller sagt noch immer «Schmier», er sagt druckreife Sätze und schweift gerne ab. Amore, Arte, Anarchia. Sein Denken ist wahrhaftig anarchisch und manchmal stossen einen seine radikalen Positionen vor den Kopf.
Herr und Frau Müller, so der Blick, waren […] äusserst adrett gekleidet, bedienten sich einer manierlichen Sprache, taten betont «erwachsen». Sie kopierten nicht nur Kleidung, sondern auch Mimik und Rhetorik ihres Gegenübers und dies mit einer ungeheuren Perfektion, die eine Blick-Leserin auf eine «gezielte Schulung» schliessen liess. Müllers liessen sich in der Sendung zwar auf ein Gespräch mit den Behörden ein, jedoch mit einer derartigen Begeisterung der Argumente der Gegner, dass die Sendung drohte, in Chaos auszubrechen. Was zunächst Irritation auslöste – zwei Junge, die sich nicht mit den «Krawallmachern», sondern mit den Bürgerlichen und Vertretern des Staates identifizieren – kippte dort in Empörung, wo Müllers die Ansichten ihrer Gegner ad absurdum führten. Sie forderten härtere Polizeieinsätze, grössere Gummigeschosse, den Einsatz von Napalm und die Polizei möge die Jungen an die Wand stellen oder gleich nach Moskau zu schicken. Man habe das Angebot des Schweizer Fernsehens, zwei VertreterInnen der Bewegung zur Diskussion zu schicken, zunächst ausschlagen wollen, erzählt Meier. Diese Haltung habe sich geändert, als man erfahren habe, dass es sich um eine Live-Sendung handelte. Klar war von Anfang an, dass man nicht wie erwartet mit Kritik, Forderungen, Gegenpositionen auftreten wollte. Diese Art Intervention sei in der Luft gelegen, danach fand man die Bezeichnung «Müllern» dafür.
Ich beneide Herr Müller für seine erlebte Jugend. Dafür, bei etwas Grossem dabei gewesen zu sein, um das Gefühl radikal anders zu sein. Immerhin etwas zu machen, zu bewirken, wenn auch nur flüchtig, und sei es, den Bürgerschreck zu mimen. Was ist denn heute noch eine Bürgerin, und was ein Bürgerschreck? Gute Frage, meint der Müller. Und für einen Moment wird sein Blick traurig. Eine Zigarette später blitzt das Jungenhafte wieder auf, bei Herr Müller. Er habe eine Idee… Fredi Meier hat viele Ideen, manchmal kommt ihm die Müdigkeit oder die Traurigkeit dazwischen, aber seine Ideen sind noch immer gewagter als die meisten anderen.