Bei der Veranstaltungsreihe «Film in Bewegung» geben Filmschaffende Einblick in ihre Arbeit in sozialen Bewegungen und gehen im Gespräch mit dem Publikum der Frage nach, ob sich Anspruch und Wirklichkeit von Gegenöffentlichkeit decken – damals, als die alternative Videobewegung entstand und heute, wo Filme jederzeit und überall gedreht und via Internet vertrieben werden können. Ein Abriss über die Anfänge der alternativen Videobewegung in den USA, Kanada und Europa.
1969 kommt ein erstes tragbares Videogerät auf den Markt, mit dem merkwürdigen Namen «Portapak». Dieses Gerät ermöglicht es, Ton und Bild auf ein Magnetband aufzuzeichnen und wiederzugeben. Kamera und Rekorder sind nach kurzer Einführung leicht zu bedienen. Die Arbeit an der Kamera kann von andern mitverfolgt und mitgestaltet werden. Video hat den Charakter eines Werkzeugs, das ohne überhöhten Kunstanspruch und ohne Aura des Kinofilms für soziales und politisches Engagement eingesetzt werden kann. Zum Beispiel im Kampf gegen Armut.
COMMUNITY ACTION
In den USA der 60er-Jahre revoltiert die afroamerikanische Bevölkerung in den Ghettos von Los Angeles, Washington und Chicago gegen Rassendiskriminierung und entwürdigende Lebensbedingungen. Die 68er-Bewegung solidarisiert sich mit den Unterdrückten durch gemeinsame Aktionen auf der Strasse und in den Wohnvierteln der Slums. Community self-organising ist das Zauberwort der Emanzipationsbewegung. Die Methode des selbstorganisierten Widerstands lernen die jungen Aktivistinnen und Aktivisten von Saul D. Alinsiki. Dieser Bürgerrechtler hatte schon in den 30er-Jahren in Chicago gezeigt, wie sich marginalisierte Gruppen durch community organising Gehör verschaffen können. Auch die jungen Leute, die mit Video experimentieren, erkennen sofort das Potenzial des neuen Mediums zum Empowerment. Sie praktizieren Video von unten: mit Menschen, die für bessere Wohnbedingungen kämpfen oder mit Kids auf der Strasse, die ohne Zukunft sind.
Am fruchtbarsten erweist sich der partizipative Videoansatz in Kanada. Auch Kanada kämpft mit Problemen der Armut. Vor allem in ländlichen Gegenden. «War on Poverty» – das US-amerikanische Konzept zur Armutsbekämpfung – inspiriert kanadische Regierungsstellen dazu, Hilfsprogramme für sozial Benachteiligte zu initiieren. Das National Film Board of Canada ruft das Projekt «Challenge for Change/Société nouvelle» ins Leben: Erst mit Film, dann mit Video soll das Verständnis für sozialen Wandel gefördert werden. Die ersten dieser Videos, zum Beispiel «St. Jacques», eine Dokumentation über Armut in Montreal, sind legendär, weil Armut noch selten so direkt und authentisch dargestellt wurde.
COMMUNITY VIDEO IN GROSSBRITANNIEN
Videointeressierte in Europa sind fasziniert von der Community-Methode. Sie sehen im Stadtteil und in der Stadtteilarbeit ein neues politisches Aktionsfeld. Im Stadtviertel lassen sich die Forderungen nach besseren Lebensverhältnissen und anderen Gesellschaftsformen konkret formulieren und umsetzen. Videogruppen dokumentieren Aktionen gegen die Zerstörung der urbanen Lebensqualität durch Stadtautobahnen und den Kampf für preisgünstigen und selbstbestimmten Wohnraum. Zwischen 1974 und 1979 entstehen in Grossbritannien mehr als hundert Community Video Gruppen. Community bedeutet für sie einerseits Nachbarschaft, Stadtteil, ist also ein geografischer Begriff. Andererseits steht community für Interessengruppe, zum Beispiel ImmigrantInnen aus der Karibik oder eine subkulturelle Szene wie die Punks. Wie in Nordamerika nehmen auch die britischen Videoschaffenden Bezug zum Fernsehen. Sie sehen Video als subversives Mittel, um Fernsehkultur zu unterwandern und sich deren Aura für eigene Zwecke zu bedienen. Andy Porter vom West London Media Workshop sagt: «Fernsehen existiert nun einmal. Es gehört zum Alltag unserer Gesellschaft. Community/Alternative Video benützt damit ein Medium, das zum Leben fast aller gehört.»
OPERATIVES VIDEO
Ausgehend von Hamburg und Berlin entstehen auch in verschiedenen deutschen Städten Videogruppen. Sie lassen sich ebenfalls von den kanadischen und US-amerikanischen community video-Experimenten inspirieren. In Österreich entstehen Videoinitiativen in Graz und Wien, und in der deutschen Schweiz etablieren sich Videogenossenschaften in Basel, Bern und Zürich. Sie wollen Medien für alle zugänglich machen und Gegenöffentlichkeit herstellen. Man arbeitet mit Gruppen zusammen, die aufgrund ihrer sozialen Situation kaum Zugang zu Medien haben.
Mehrere deutsche Videogruppen beziehen sich in ihrer Arbeit auf den Begriff des «Operativen Video». Die Bezeichnung «operativ» wurde aus den Texten des russischen Schriftstellers Sergej Tretjakov übernommen. Tretjakov gehörte zu einer Gruppe sowjetischer Kulturschaffender der 20er Jahre, die direkt in die revolutionären Geschehnisse eingriffen, um sie voranzutreiben. Er schreibt: «Operative Beziehung nenne ich die Teilnahme am Leben des Stoffes selbst. Grob gesagt: eine wichtige Sache auszudenken – ist belletristischer Novellismus; eine wichtige Sache zu finden – ist Reportage; eine wichtige Sache aufzubauen ist Operativismus.»
Die Zusammenarbeit der «Medienwerkstatt Freiburg im Breisgau» mit AKW-Gegnern in Baden-Württemberg zeigt exemplarisch auf, was mit operativer Videoarbeit gemeint ist. Nach zwölf Jahren erfolgreichen Widerstands gegen ein geplantes AKW in der Region Wyhl will die Landesregierung das Kernkraftwerk doch noch bauen. Dagegen wird bundesweit mobilisiert. Als visuellen Beitrag zur Bewegung stellt die Medienwerkstatt das Video «S’Wespenäscht – die Chronik von Wyhl» her. Auf der Suche nach Material stösst die Medienwerkstatt auf Leute, die mit Kameras und Fotoapparaten die Geschichte festhielten: «Zum Beispiel Ernst Kaufmann, Normal-8-Filmer und Umweltschützer, er sieht, denkt und filmt. Genau in dieser Reihenfolge. Seiner Wahrnehmung entspringen sinnliche Bilder. Die Tochter ist da zu sehen, der Stacheldraht auf dem besetzten Platz, der Autokonvoi nach Fessenheim, das Freundschaftshaus auf dem besetzten Platz in Wyhl, sein R4. Kein Druck der öffentlich rechtlichen Anstalten, keine filmische Ästhetiktheorie vernebelt sein Gehirn. Nur sein subjektives Empfinden zählt.»
ZÜRI BRÄNNT
Das alternative Videoschaffen erhält anfangs der 80er-Jahre frische Impulse von der wilden Jugendbewegung in der Schweiz. Der Austausch von Informationen, Solidaritätsbotschaften und Erfahrungsberichten über die Jugendunruhen in Zürich, Bern und Basel von 1980 und 1981 erfolgt schnell und wirkungsvoll. Die Bewegung schafft sich ihren eigenen medialen Ausdruck. Video erweist sich als geeignetes Mittel, um das Lebensgefühl der Bewegung darzustellen und anderen Gruppen zu vermitteln. Alle wichtigen Anlässe, Demos, Ereignisse und Happenings werden von Videogruppen festgehalten. Das bekannteste filmische Dokument der 80er-Bewegung ist «Züri brännt». Wie entscheidend dabei die politische Unabhängigkeit der Videogruppen und ihre transnationale Vernetzung ist, schildert der Filmhistoriker Wilhelm Roth folgendermassen: «Während die Filmemacher des Mai 68 wegen des teuren 16-mm Materials oft innerhalb von Institutionen produzierten (Filmhochschulen, Gewerkschaften), sind die Dokumentaristen der «neuen» Jugendbewegung dank der billigen Medien Super-8 und Video weitgehend unabhängig. Dank der Schnelligkeit von Video können sie zum ersten Mal auch wirklich in die Vorgänge eingreifen, nicht nur am Ort, sondern überregional. Dadurch entsteht Solidarität, Bewusstsein von Gemeinsamkeit und Stärke: Kontakte werden geknüpft von Zürich nach Freiburg i.Br., von Freiburg nach Berlin, von Berlin nach Amsterdam usw. Natürlich tragen dazu auch die konventionellen Medien bei, Zeitungen (die alternative Tageszeitung – taz), Flugblätter, Broschüren. Aber ohne die Infrastruktur der Medienwerkstätten, Jugendzentren, Kneipen und Kinos in besetzten Häusern (in Berlin 1981 etwa ein halbes Dutzend), wäre der Zusammenhalt der «Szene» viel lockerer, gefährdeter, bedrohter von den Ordnungsmächten.»
Das unabhängige Videoschaffen wird während einer ganzen Dekade vom spontanen Lebensgefühl der «Bewegten» geprägt, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der Alternativkultur in der BRD und in Österreich. Anfangs 90er-Jahre erlahmt die Bewegung. Die praktische Umsetzung von Gegenöffentlichkeit, Selbsttätigkeit und Partizipation erweist sich als schwierig. Die Videoinfrastruktur laufend dem technologischen Wandel anzupassen, absorbiert Zeit, Geld und Energie. Aus alternativen Videoschaffenden werden nun professionelle Autorinnen und Autoren von engagierten Dokumentar- und Spielfilmen. Nur wenigen Videokollektiven gelingt es, die Anliegen der alternativen Videobewegung bis heute in der einen oder anderen Form weiterzuverfolgen. Dass erneut eine Welle partizipativer Film/Videoarbeit auf uns zukommen würde, konnte damals kaum jemand voraussehen. Eine neue Generation hat nun das Erbe der alternativen Videobewegung der 70er- und 80er-Jahre angetreten und entwickelt es munter weiter – in Zürich zum Beispiel im Sampler «Wem gehört die Stadt?».
Heinz Nigg erforscht ausserdem die Geschichte der alternativen Videobewegung. Ziel ist eine Oral History derselben in der Schweiz, London und in der Bundesrepublik Deutschland mittels Videointerviews. Teile dieser Oral History sind bereits im Internet einsehbar:
Video Stories. Eine Oral History über unabhängiges Videoschaffen in der Schweiz der 80er Jahre.
Community Video. An oral history heritage project on the early period of Community Video in London.
Das Standardwerk von Heinz Nigg über die 80er-Bewegung in der Schweiz ist als e-book erhältlich.