Die massive Überlastung von Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben ist wie die Klimakatastrophe letztlich in der Logik der kapitalistischen Produktionsweise begründet. Diese Gesellschaftsform basiert auf Wachstum, Konkurrenz und der Übernutzung von allem, was scheinbar kostenlos zur Verfügung steht – unentlohnte Arbeit und ökologische Kreisläufe eingeschlossen. Eine emanzipatorische politische Antwort muss diese Dynamik zur Kenntnis nehmen und sich ihr entgegenstellen.
Im «Netzwerk Care Revolution» stellen wir uns seit dessen Gründung im Jahr 2014 gegen Profitorientierung, Konkurrenz und Wachstumszwang und engagieren uns für grundlegend verbesserte Rahmenbedingungen für Care-Beschäftigte, familiär Sorgearbeitende sowie für Menschen, die einen hohen Sorgebedarf haben.
Veränderungen sind dringend erforderlich. Hier nur einige Schlaglichter, die die Situation in Deutschland beleuchten: Fälle von Erwerbsunfähigkeit aufgrund von Burn-out sind in Pflegeberufen fast doppelt so häufig wie im Durchschnitt aller Beschäftigten. Fast 80 Prozent der Hauptpflegepersonen unter pflegenden Angehörigen sehen sich stark oder sehr stark belastet. Alleinerziehende sind 2,7-mal so häufig von Armut bedroht wie der Durchschnitt der Bevölkerung. In ca. 8 Prozent der Pflegehaushalte kommen zumeist osteuropäische In-House-Betreuer*innen zum Einsatz, unter Bedingungen, die teils gegen Arbeitsrecht verstossen, teils rechtliche Grauzonen zu Lasten der Arbeiter*innen ausnutzen.
Sorgebeziehungen sind allgegenwärtig; alle Menschen sind auf ihr Gelingen angewiesen. Insofern setzen wir uns im «Netzwerk Care Revolution» letztlich auch dafür ein, dass alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können – umfassend, ohne jemanden auszuschliessen und nicht auf dem Rücken anderer. Mittlerweile ist offensichtlich, dass wir dieses Ziel nur erreichen können, wenn wir uns aktiv an den Kämpfen gegen die Zerstörung der ökologischen Kreisläufe, insbesondere die Klimakatastrophe, beteiligen.
Care, Klima und Kapitalismus
Über das drohende Ausmass der Zerstörung menschlichen Lebens durch die Klimakatastrophe ist so viel berichtet worden, dass ich es hier bei kurzen Anmerkungen belasse. Weite Gebiete werden für den Anbau von Nahrungsmitteln verloren gehen oder wegen Temperaturen, die für den menschlichen Körper nicht mehr verkraftbar sind, nicht mehr länger bewohnbar sein. Wirbelstürme nehmen an Zerstörungskraft zu, der steigende Meeresspiegel vertreibt Menschen aus den besonders fruchtbaren und dicht besiedelten Küstengebieten. Hunger, Obdachlosigkeit und zunehmende Konflikte um Ressourcen zwingen immer mehr Menschen zur Flucht. Und eine Umkehr des Trends ist nicht in Sicht. Von den Rezessionsphasen während der Finanzkrise und der Corona-Krise abgesehen, ist der Trend zu steigenden Emissionen ungebrochen. Und selbst wenn die Staaten ihre aktuellen, im Rahmen des 2016 in Kraft getretenen Pariser Klimaschutzabkommens gegebenen, Zusagen zur Emissionsminderung einhalten würden, wäre eine Erderwärmung von 2.5 – 3°C die Folge.
Für uns als care-politisch Aktive ist die Klimakatastrophe nicht einfach ein zusätzliches Thema, sondern sie ist in mehrfacher Hinsicht mit dem Thema der Sorge und unserem Ringen um bessere Rahmenbedingungen für Menschen in Sorgebeziehungen verbunden. Das gilt zunächst in dem ganz offensichtlichen Sinn, dass die Klimakatastrophe unmittelbare Auswirkungen auf die Sorge von Menschen umeinander hat. Damit Menschen füreinander sorgen können, brauchen sie einen stabilen, unterstützenden Rahmen. Wenn die Lebensbedingungen feindlicher werden, wenn Hunger und Krankheiten zunehmen, wenn Familien, Dorfgemeinschaften und andere soziale Netze durch Flucht und Kriege auseinandergerissen werden, können Sorgebeziehungen kaum noch gelingen.
Ein weiterer Gesichtspunkt ergibt sich, wenn wir auf Sorge nicht allein als Ergebnis bestimmter Tätigkeiten blicken, sondern sie auch als eine Haltung wahrnehmen, die der Verwiesenheit von Menschen aufeinander, die sich in einem Netz sozialer, gerade auch sorgender, Beziehungen niederschlägt, zentrale Bedeutung zuweist. Von diesem Ausgangspunkt aus ist auch der Gedanke naheliegend, dass wir Menschen uns in einer ähnlichen Verwobenheit mit den ökologischen Kreisläufen auf der Erde befinden. Wir sind auf ihr Funktionieren angewiesen; ihre Überlastung und Veränderung gefährden auch uns als Teil der natürlichen Kreisläufe. Wenn wir uns ebenso als Naturwesen wie als soziale Wesen begreifen, stehen wir vor der Aufgabe, für die nicht-menschliche Natur genauso zu sorgen wie für die Menschen, zu denen wir in Beziehung treten. Indem wir das Sorge tragen in einem solch umfassenden Sinn betrachten, nehmen wir Themen auf, die in ökologischen und feministischen Debatten wie in der «Degrowth-Bewegung» Bedeutung hatten und haben.
Schliesslich stellt die kapitalistische Produktionsweise selbst den Zusammenhang zwischen Care und Klima her. Denn sowohl die unentlohnte, also familiäre und ehrenamtliche, Sorgearbeit, wie auch ökologische Kreisläufe, gelten ihr als unentgeltliche und ohne Zutun vorhandene Ressourcen, die unabhängig vom Mass ihrer Nutzung immer verfügbar scheinen. Beide Prozesse sind Voraussetzung der Verwertung von Kapital, aber die (Re-)Produktion findet hier nicht als Warenproduktion statt. Das Kapital eignet sich also die Ergebnisse dieser Prozesse an, ohne für die Bedingungen ihres Gelingens Sorge tragen zu müssen.
Diese «strukturelle Sorglosigkeit des Kapitalismus» (Brigitte Aulenbacher) zu exekutieren, setzt voraus, dass ökologische Prozesse und unentlohnte Arbeit aus der Ökonomie herausdefiniert werden. Entsprechend ist unentlohnte Sorgearbeit als Arbeit weitgehend unsichtbar. Denn zum einen wird der Begriff der Arbeit in der Regel mit Einkommenserwerb in Zusammenhang gebracht; zum anderen wird Sorgearbeit in Familien, in sozialen Netzen und im Ehrenamt noch unter den schlechtesten Bedingungen, solange es irgend geht, getan.
Sie wird getan, denn das Leben und das Wohlergehen sowohl der Sorgearbeitenden selbst als auch ihrer Nächsten hängen an dieser Arbeit. All dies ermöglicht es, die unentlohnte Arbeit als ein unerschöpfliches Reservoir anzusehen, für dessen Reproduktion scheinbar nichts getan werden muss. Dies gilt bis zu dem Punkt, an dem die erschöpften Sorgearbeitenden aufbegehren oder die Reproduktion der Arbeitskraft gefährdet ist. Die Parallele zum Umgang mit Naturprozessen ist hier offensichtlich: Auch die Funktionsbedingungen von Stoffkreisläufen und ökologischen Netzen wird von der Mainstream-Ökonomie ignoriert, solange sie kostenlos nutzbar sind und die Kapitalverwertung nicht beeinträchtigt ist.
In einer Ökonomie, deren Zweck die Kapitalverwertung ist, besteht gegenüber Natur und menschlicher Arbeitskraft also eine systemnotwendige Ignoranz und Rücksichtslosigkeit, die zu deren Überlastung und Zerstörung führt. Diese nehmen zu, weil Ökonomie im Kapitalismus zwangsläufig mit Konkurrenz sowie mit Wachstum verkoppelt ist: Kapitalverwertung setzt die Erzeugung eines Mehrprodukts voraus, das als Mehrwert vom Kapital angeeignet werden kann. Das bedeutet, dass immer mehr Stoffe, immer mehr Lebenszeit und Lebensäusserungen in den Kapitalverwertungsprozess eingesaugt werden.
Weil dieser Prozess nicht die Herstellung mehr nützlicher Dinge, sondern allein die Aneignung von mehr Geld zum Zweck hat, ist er grundsätzlich masslos. Ein «genug» gibt es nicht. Denn jederzeit drohen effizientere Konkurrent*innen ein Unternehmen vom Markt zu verdrängen. So begründet die kapitalistische Konkurrenz einen beständigen Zwang, Produktionsprozesse zu modernisieren und die Produktion zu erweitern. Auf diese Weise wird die in den Kapitalismus eingeschriebene Wachstumstendenz zum unmittelbaren Handlungszwang.
Konkurrenz bedeutet aber nicht nur Wachstum, sondern auch Kostendruck: Sie wird nicht nur über höhere Effizienz ausgetragen, sondern es werden die Elemente des Produktionsprozesses verbilligt, wo immer es geht. Es rechnet sich nicht, Emissionen zu vermeiden, und es rechnet sich nicht, Lohnabhängigen durch Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich mehr Zeit für die Reproduktionsarbeit zu geben oder sie durch eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur zu unterstützen. In einer von der Kapitalverwertung dominierten Gesellschaft werden also für die Reproduktion des Lebens immer zu wenige Mittel aufgewandt und die Zerstörungskraft dieser Missachtung nimmt mit der Ausdehnung des Kapitalismus in alle Weltregionen und Lebensbereiche und mit den technischen Entwicklungen tagtäglich zu – hinsichtlich der Erderwärmung, aber auch hinsichtlich der Gefährdung sozialer Beziehungen.
Alternative jenseits des Kapitalismus
Wenn aber das Problem im Kapitalismus selbst begründet ist, lässt sich eine Lösung nur jenseits dieser Produktionsweise finden. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaftsform, die eine direkte Orientierung an menschlichen Bedürfnissen und den Belastungsgrenzen ökologischer Kreisläufe unterstützt.
Gerade jetzt ist die Herausforderung besonders gross: Zum einen wird die durch Wirtschaftskrise und Inflation gespeiste Angst um die Existenzsicherheit die Vorstellungen stärken, dass Wachstum erstrebenswert sei und dass die Abkehr von fossilen Energieträgern oder der Ausbau einer sozialen Care-Infrastruktur jetzt keine Priorität habe. Zum anderen droht die gerechtfertigte Wut über die Ignoranz der Herrschenden, wenn sie mit bestehenden Ressentiments gepaart ist, völkisch-autoritäre Lösungen zu fördern. Umso wichtiger ist es, eine andere, solidarische Gesellschaft als plausibles, begehrenswertes und erreichbares Ziel zu beschreiben und zugleich unmittelbar wirksame Verbesserungen vorzuschlagen.
Auch deshalb müssen wir mit konkreten Vorschlägen bereits innerhalb des Kapitalismus ansetzen. Ein Ringen um unmittelbare Verbesserungen benötigen wir allein schon, weil es hierbei auch um die Chancen auf eine lebenswerte Zukunft geht. Denn mit dem Fortschreiten der Zerstörungen wird nicht nur beständig massenhaftes, vermeidbares Leid produziert; es verschlechtern sich auch die Bedingungen, unter denen eine solidarische Gesellschaft entstehen kann.
Zudem muss eine solidarische Alternative, um wirklich erstrebenswert zu sein, vorstellbar und erfahrbar sein. Hierfür sind die Erfahrung, dass sich Kämpfe um Zwischenziele führen und gewinnen lassen, sowie schon jetzt unternommene Experimente solidarischen Lebens gleichermassen wichtig. Dies gilt in dieser Zeit einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise umso mehr.
Care Revolution als Transformationsstrategie
Das Konzept der «Care Revolution» zielt dabei auf eine Verbindung verschiedener Bereiche der Transformation, die zugleich die Verbesserung der Bedingungen für Sorgebeziehungen als auch die Einhaltung der planetaren Grenzen im Blick haben und uns dem Ziel einer solidarischen Gesellschaft näherbringen1:
Eine massive Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit schafft mehr Zeit für unentlohnte Sorgearbeit, politisches Engagement sowie Musse und erzwingt zudem eine Verminderung der Produktion von Gütern und eine Konzentration auf das, was zum Leben wichtig ist. Parallel wird durch eine erwerbsunabhängige und sanktionsfreie individuelle Absicherung Menschen ermöglicht, selbst zu entscheiden, wo sie ihre Fähigkeiten einbringen und wie sie diese auf entlohnte und unentlohnte Tätigkeiten verteilen wollen.
Ein bedarfs- und bedürfnisgerechter Ausbau der sozialen Infrastruktur baut zugleich kollektive Formen der Absicherung aus. Dies verringert im Zusammenspiel mit einer verlässlichen individuellen Absicherung auch die Abhängigkeit vom Erwerb individueller Ersparnisse zur Zukunftssicherung, die ebenfalls ein Motiv zur Ausweitung der Erwerbsarbeit darstellt. Schliesslich entstehen durch die Vergesellschaftung von Care-Einrichtungen und für die Transformation zentraler Wirtschaftsbereiche – wie etwa Energie oder Mobilität – Orte der Selbstverwaltung, die es ermöglichen, demokratisch über die gemeinsamen Lebensbedingungen zu verfügen.
Soziale Experimente in Commons sind schon jetzt lebendige Beispiele, wie Zusammenarbeit gestaltet werden kann. Gemeinsames Arbeiten, gemeinsam aufgestellte Regeln der Kooperation und gemeinsame Nutzung der Ergebnisse der Zusammenarbeit verweisen auf eine Zukunft, die Solidarität statt Konkurrenz unterstützt und zugleich mit weniger Ressourcen auskommt.
Die positive Erzählung von einer solidarischen Lebensweise sowie das Streiten für Transformationsschritte und Commons-Projekte stehen für eine Alternative, die für viele Menschen attraktiv sein kann, die in einer Welt voller Unsicherheit, Konkurrenz und endloser Leistungsanforderungen nicht glücklich werden. Zugleich zeigen sie einen Gegenentwurf zum Rennen um gut bezahlte, sichere Jobs, zur Instrumentalisierung von Mitmenschen und zur Verfangenheit in einer ökologisch zerstörerischen Lebensweise. Schliesslich machen sie Hoffnung auf eine Welt, die nicht von der Ausbeutung des globalen Südens und vom Ringen um geopolitische Einflusssphären – Hochrüstung und Kriege eingeschlossen – geprägt ist. Hierhin zu gelangen, ist eine Mammutaufgabe, deren Bewältigung nur als gemeinsames Projekt vieler sozialer Bewegungen, als Resultat massenhaft geteilter Wut und geteilter Träume denkbar ist.
Matthias Neumann lebt in Freiburg/Deutschland und ist dort im «Netzwerk Care Revolution» aktiv. Themen seiner politischen Tätigkeit sind u.a. die Rahmenbedingungen der Altenpflege und die Verbindung zwischen Care- und Klimapolitik. Zum Thema des Artikels führt er am 23.10.22 im Rahmen der Aktionskonferenz «Für Widerstand sorgen» in der Roten Fabrik in Zürich einen Workshop durch.
1 Ausführlich werden diese Überlegungen in Gabriele Winkers Buch «Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima» (transcript Verlag 2021) dargestellt.